2.

Hella Fröhlich begutachtete sich zufrieden im Schaufenster der Bäckerei. Sie fand, dass ihr der gelbe Mantel ausnehmend gut stand, es war ein Glücksgriff gewesen. Und dann noch so günstig. Aber das war typisch Ernst Mannsen, er gehörte zu den alten Männern, die keine Ahnung von Mode hatten, auch wenn sie ihn sehr mochte und schon seit Jahrzehnten mit ihm befreundet war. Aber so war Ernst. Altmodisch eben.

Amüsiert dachte sie an sein verstörtes Gesicht und seine Verwunderung über Hilke Petersens Lippenstift. Ernst machte es immer ganz nervös, wenn sich in seinem unmittelbaren Umfeld etwas änderte, was er nicht verstand. Dass Hilke sich plötzlich schminkte, war für Ernst eine fast schon schockierende Veränderung. Hilke war sonst eine graue Maus, sie legte nicht viel Wert auf modische Kleidung oder schöne Frisuren.

Natürlich war Hella sofort, nachdem Ernst weg gewesen war, ins Gemeindebüro marschiert, um sich selbst davon zu überzeugen. Und tatsächlich, Hilke Petersen trug Lippenstift. Die Farbe biss sich zwar ein bisschen mit der sehr bunten Bluse und noch mehr mit dem pinkfarbenen Seidentuch, auf dem auch noch gelbe Herzen waren, aber solche Stilsicherheit konnte man von Hilke nicht erwarten, dazu war sie zu ungeübt in modischer Eleganz.

»Das sieht nach Liebe aus«, hatte Hella ihr unverblümt gesagt und anerkennend genickt. Und Hilke hatte gelächelt, aber nichts erzählt. Was schade war, weil Hella Fröhlich doch Romanzen liebte, die in ihrem Leben leider nicht mehr passierten. Aber gut, irgendwie würde sie noch herausfinden, welchen Frosch Hilke an die Wand geworfen hatte, um sich für ihn schön zu machen. Jetzt wollte sie es wissen, nicht dass Ernst es wieder zuerst herausbekam.

Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und schlenderte weiter. Vielleicht sollte sie Kontoauszüge holen. Dabei könnte sie mit Martina ins Gespräch kommen, der Filialleiterin der kleinen Bank, die außerdem ihre Nachbarin war. Martina war nämlich mit Hilke befreundet, zumindest so was in der Art. Sie waren ja beide graue Mäuse, eine sehr dick, eine sehr dünn, beide alleinlebend, beide unabhängig, beide klug, beide Mitte vierzig, aber manchmal etwas wunderlich. Wenn jemand wüsste, was Hilke zum Lippenstift getrieben hatte, dann war das Martina.

Zu Hellas Freude stand Martina sogar selbst am Kontoauszugsdrucker und legte Papier nach. Hella stellte sich neben sie, wovon die sich gar nicht stören ließ. Sie beendete immer erst eine Arbeit, bevor sie sich um die nächste kümmerte. Als sie die Klappe mit Schwung geschlossen hatte, drehte sie sich um. »Tag, Hella.«

»Hallo, Martina«, Hella trat einen Schritt näher. »Sag mal, weißt du, was mit Hilke Petersen los ist? Die sieht so verändert aus.«

Martina hob eine Augenbraue und sah Hella stumm an. Das hätte sie sich denken können. Martina tratschte nie. Nicht nur, weil sich das so gehörte, sondern auch, weil es sie nicht interessierte. Sie liebte Zahlen, Tabellen und Statistiken, alles, was mit nicht mathematisch kalkulierbaren Dingen zu tun hatte, wollte sie nicht wissen.

»Ernst Mannsen war ganz irritiert«, versuchte Hella es anders. »Er fand Hilke so verändert und macht sich große Sorgen um sie«, sie kreuzte die Finger, ganz so war es ja auch nicht, aber immerhin verlieh das ihrer Frage Nachdruck.

»Braucht er nicht«, entgegnete Martina und bewegte sich langsam zurück zu ihrem Schreibtisch. »Schönen Tag noch.«

»Martina, warte mal«, Hella folgte ihr ungefragt. »Kann es sein, dass sie jemanden kennengelernt hat?«

»Im Gemeindebüro lernt sie dauernd jemanden kennen. Es kommen jeden Tag Gäste.«

»Nein, ich meine privat. Einen Mann.«

Martina blieb stehen. »Warum willst du das wissen?«

»Weil es so romantisch wäre«, Hella hob theatralisch die Arme Richtung Decke. »Die arme, zarte Hilke, die vor fünfzehn Jahren mal wegen einer Liebesgeschichte die Insel verlassen hat und zu diesem jungen Mann nach Kiel gezogen ist. Um nach drei Monaten wieder zurückzukommen. Mit Liebeskummer, weil es schiefgegangen ist. Und seitdem lebt sie nur für ihre Arbeit und hockt allein in ihrer Wohnung. Sie hätte ein spätes Glück verdient.«

»Sie mochte Kiel nicht«, Martina ging langsam zum Kassentresen und umrundete ihn. »Das war alles.«

»Ihr Heimweh war größer als die Liebe?« Hella riss die Augen auf. »Das ist doch nicht zu glauben. Hat sie denn jetzt jemanden von der Insel kennengelernt? Wo denn? Und wer ist es, wie heißt er, was macht er? Ihr seid doch gemeinsam im Kinder-Club für die Finanzen zuständig. Da sprecht ihr doch bestimmt auch manchmal ein privates Wort bei den Sitzungen. Hat sie dir denn erzählt, wo sie ihn kennengelernt hat?«

Martina hob nur den Kopf und sah sie verständnislos an. »Wen?«

Den Blick resigniert an die Decke gerichtet, atmete Hella tief aus. Es war nur ein Versuch gewesen, sie hätte sich denken können, dass sie sich an Martina die Zähne ausbeißen würde.

»Schon gut, Martina«, sagte sie und zog ihr Portemonnaie aus der Tasche, um wenigstens Geld zu holen, wenn sie schon mal hier war. »Ich ziehe die Frage zurück. Vielleicht hat sie sich ja tatsächlich an ihrem Arbeitsplatz verliebt. Da finden ja immer noch die meisten Beziehungen ihren Anfang.«

»Falsch. Im letzten Jahr haben sich 43  % aller Paare im Internet kennengelernt«, korrigierte Martina in einem geschäftsmäßigen Ton. »Vor vier Jahren waren es nur 23  %, der Anteil hat sich durch die Pandemie erhöht. 61  % der Nutzer glauben, dass sie die große Liebe im Netz finden können, über die Hälfte der Befragten bezeichnet diese Art der Kontaktaufnahme als zielführend.«

»So viele?«, erstaunt sah Hella sie an. »Und Hilke macht auch bei so was mit?«

»11  % der Nutzer sind statistisch über sechzig«, Martina rollte ihren Stuhl näher an den Schreibtisch. »Diese hohe Zahl ist durch die Zunahme von altersentsprechenden Portalen zustande gekommen. Und durch regionale Anbieter.«

»Wirklich? 11  % in meiner Altersklasse?« Hella riss die Augen auf. »Das ist ja ein Ding. Vielleicht könnte ich ja so doch noch mal einen netten Mann kennenlernen. Mit ein bisschen Geld und vollem Haar. Weißt du, wie man sich da anmeldet?«

»Mit einem Smartphone. Es gibt eine neue App. Für diese Region.«

»Und das hat Hilke gemacht? Und jemanden gefunden?« Neugierig beugte Hella sich über den Tresen. »Sag doch mal. Ich glaube, ich mache da auch mit. Damit der Sommer ein bisschen mehr Schwung bekommt. Das wäre mal eine ganz neue Perspektive. Ach, Hella Fröhlich im Rausch der Frühlingsgefühle, das sind ja ganz neue Möglichkeiten. Ich habe ein Smartphone. Kann Hilke mir zeigen, wie das geht? Und so ein bisschen was erzählen?«

Martina musterte sie mit unbewegter Miene. »Hilke hat dafür keine Zeit. Aber ich kann dir das einrichten.«

»Du?« Hella lächelte. »Ach, warum eigentlich nicht? Wie gut, wenn man die richtigen Nachbarn hat. Dann komme ich demnächst rüber? Und du zeigst es mir?«

»Von mir aus«, antwortete Martina und zog die Computertastatur näher. »Ruf vorher an. Und jetzt entschuldige mich, ich habe zu tun.«

 

Beschwingt verließ Hella die Bank. Es war zwar nicht das Ergebnis, das sie erwartet hatte, aber zumindest hatte sich gerade eine Möglichkeit eröffnet, mal etwas Leben in die Bude zu bringen. Das war doch eine wunderbare Aussicht. Und vielleicht ergab sich in der privaten Atmosphäre von Martinas Wohnung, dass sie auch etwas über Hilkes Frühlingsgefühle erfuhr. Vor allem damit Ernst sich beruhigte.

Sie überlegte, was sie anziehen sollte, wenn der erste Interessent sich mit ihr verabreden würde. Es musste etwas Frühlingshaftes sein, große Muster, leuchtende Farben, das stand ihr. Und sie musste vorher dringend noch zum Friseur. Und zur Kosmetik. Sie durfte nichts dem Zufall überlassen, es wäre doch zu ärgerlich, wenn die potenziellen Flirtkandidaten ihr Postfach fluten würden und sie stünde ratlos vorm Kleiderschrank oder bekäme ihre Frisur nicht hin. 11  % der Nutzer waren statistisch über sechzig. Da sollte doch wohl ein charmanter Herr für sie dabei sein.

Es war nicht so, dass Hella Fröhlich auf der Suche nach dem Mann fürs Leben war. Das oder besser den hatte sie schon gehabt. Den schönen Hugo, der sie wegen einer Arzttochter verlassen hatte und heute ein furchtbar langweiliges Leben führte. Ganz im Gegensatz zu Hella. Sie kannte auf der Insel Gott und die Welt, war ein gern gesehener Gast in den besten Restaurants und Bars. Schließlich hatte sie selbst mit dem schönen Hugo ein Hotel mit einer mondänen Bar geführt, vor dreißig Jahren, während ihrer Schauspielerinnenkarriere. Damals war sie ein bunter Vogel in der Sylter Gesellschaft gewesen, von diesem Ruf zehrte sie immer noch. Nur so langsam verblasste er doch. Die Bekannten waren entweder weg oder alt, manche sogar schon tot. Und die neuen, glatten, selbstbewussten Schönen und Reichen kannten sie gar nicht mehr. Oder sie hätten altersmäßig ihre Kinder sein können. Außerdem hatten die wenigsten Charme und Stil. Und deshalb war jetzt jeder Sommer ein bisschen langweiliger und ereignisärmer als der vorherige. Es wurde Zeit, dass Schwung in die Bude kam. Und Hella Fröhlich endlich wieder mit einem interessanten Mann bei gutem Essen, Wein und Musik angeregte Gespräche führte. Wobei das erste Treffen besser am Tag stattfinden sollte, ohne Alkohol und Musik. Damit man nicht gleich enthemmt agierte. Für einen langsamen Anfang wäre vermutlich eine Verabredung zu Kaffee und Kuchen besser.

Versunken in ihre aufregenden Gedanken, fand sie sich plötzlich vor dem Friseursalon wieder. Was du heute kannst besorgen, dachte sie und drückte nach einem kleinen Moment die Tür auf. »Guten Morgen«, sagte sie laut und sah im Spiegel ihre Friseurin Sabine an, die Elvira Sander gerade die Haare schnitt. »Hallo Sabine, ich brauche dringend einen Termin, hallo Elvira.«

»Morgen Hella«, Sabine ließ die Schere sinken. »Frau Sander, kann ich den Termin eben machen?«

»Natürlich«, Elvira Sander lächelte freundlich. »Hallo Hella, geht es dir gut?«

»Könnte kaum besser gehen.« Sie stellte sich neben den kleinen Tisch, auf dem Sabines Terminkalender lag, und sah Elvira an. »Ich hab dich ja lange nicht mehr gesehen. Ist bei dir alles in Ordnung?«

»Ja, ja«, sie nickte. »Viel Arbeit im Garten, aber sonst ist alles gut.«

»Übermorgen? 11  Uhr?« Sabines Frage unterbrach das Gespräch. »Passt das?«

»Ja«, Hella sah zu, wie Sabine den Termin auf einen kleinen Zettel schrieb und ihn ihr reichte. »Vielen Dank. Dann kann der Frühling ja kommen. Einen zauberhaften Tag wünsche ich euch.«

Ihre Armbänder klirrten, als sie die Hand hob und im Rausgehen überlegte, wann sie Elvira Sander das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatten sich vor Jahren kennengelernt, als Hella noch bei der Laienspielgruppe in Westerland mitgewirkt hatte. Elvira war für die Kostüme verantwortlich gewesen, Hella hatte die Hauptrollen gespielt. Zumindest so lange, bis die völlig talentfreie Frau des Kurdirektors dazugekommen war und Hella prompt die besten Rollen wegschnappt hatte. Die Einzige, die sich auf ihre Seite geschlagen hatte, war damals Elvira Sander gewesen. Das hatte sie ihr nicht vergessen. Und trotzdem hatte sie sie seit Ewigkeiten nicht mehr angerufen oder besucht. Und jetzt hatte Elvira ein bisschen traurig ausgesehen. Hella würde sich demnächst mal bei ihr melden. Vielleicht brauchte sie auch ein bisschen Frühling und Ablenkung.