»Danke schön«, sagte Sabine und legte die Geldscheine in die Kasse. »Dann bis zum nächsten Mal. Und grüßen Sie Ihre Tochter von mir. Wie lange bleibt sie denn?«
»Ach, nur ein paar Tage«, Elvira Sander berührte vorsichtig ihre geföhnte Frisur, bevor sie ihr Portemonnaie wieder einsteckte. »Sie hatte hier ihr zwanzigjähriges Abi-Treffen. Zum Wochenende fährt sie wieder nach Hause. Es sieht sehr schön aus, vielen Dank. Also, bis zum nächsten Mal.«
Sie verließ den Salon und blieb unschlüssig noch einen Moment vor der Tür stehen. Das Wetter war schön geworden, der Himmel blau, nur ein paar harmlose Wolken zogen vorbei. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und stellte überrascht fest, dass es schon nach Frühling roch. Die Luft war ganz anders, milder, blumiger, sonniger. Es war eigentlich schade, dass Hella Fröhlich gleich wieder weg gewesen war. Es wäre auch schön gewesen, zusammen noch eine Tasse Kaffee zu trinken, sie hatte die gut gelaunte Hella mit ihren komischen Geschichten immer gemocht. Und so lange nichts mehr von ihr gehört.
Sie überlegte, ob sie trotzdem das kleine Stück zum Hafen spazieren und dort allein ein Fischbrötchen und einen Kaffee bestellen sollte. Eigentlich hatte sie gleich nach Hause fahren wollen, um mit Inken noch ein paar Dinge zu besprechen, aber sie war schon lange nicht mehr am Hafen gewesen und das Gespräch mit ihrer Tochter konnte sie auch heute Abend noch führen. Sie hatte es schon so oft aufgeschoben. Kurz entschlossen gab sie sich einen Ruck und machte sich auf den Weg. Es roch wirklich nach Frühling.
Am Hafen waren die meisten Tische, die in der Sonne standen, bereits besetzt. Die Menschen trugen Sonnenbrillen, einige sogar nur T-Shirts, was Elvira bei 16 Grad Lufttemperatur wirklich übertrieben fand. Aber die meisten Touristen waren an ihrer Kleidung zu erkennen, sie trugen als Erste kurze Hosen und Turnschuhe ohne Socken, aber obenrum dicke Steppjacken und modische Mützen. Es war wohl das angesagte Outfit, wenn man am Meer Ferien machte.
Sie stellte sich in die Schlange und wartete, bis sie dran war. Zwei ungeduldigen Männern dauerte es zu lange, sie schimpften laut, dass es doch unmöglich sei, bei diesem tollen Wetter nur eine Bedienung an den Tresen zu stellen, man könne sich doch denken, dass hier viel los sein würde. Elvira trat einen Schritt zur Seite und ließ sie vor. Die beiden nahmen es an, ohne sich zu bedanken, wenigstens hörten sie auf zu pöbeln.
Als sie endlich an der Reihe war, bestellte sie ein Matjesbrötchen und einen Becher Kaffee, sie rundete die Summe auf, obwohl die junge Frau sie weder angelächelt noch richtig angesehen hatte. Aber sie tat ihr leid, hinter Elvira gab es schon wieder ungeduldiges Gemurre. Die Leute mochten einfach nicht warten. Schon gar nicht im Urlaub.
Ganz an der Seite entdeckte sie einen freien Tisch und steuerte auf ihn zu. Sie setzte sich mit dem Gesicht zur Sonne und dem Blick aufs Hafenbecken und atmete tief durch. Was für ein schöner Moment, dachte sie und biss in das Fischbrötchen. Und was für ein guter Matjes. Sie hatte gerade den ersten Bissen geschluckt, als eine Gestalt ihr die Sonne nahm. Sie sah hoch und direkt in das Gesicht eines sympathischen Mannes, der neben einer kleinen Frau stand, deren Hand er hielt. »Verzeihung, sind hier vielleicht noch zwei Plätze frei?«
»Natürlich.« Elvira hielt sich schnell die Serviette vor den Mund, um etwaige Krümel wegzuwischen. »Nehmen Sie gern Platz.«
»Danke schön«, die kleine Frau setzte sich lächelnd, während ihr Mann stehen blieb und sich umsah. »Ist hier Selbstbedienung?«
»Ja«, Elvira nickte und zeigte auf eine Tür. »Da geht es rein.«
Er nickte, legte seiner Frau sanft die Hand auf die Schulter und fragte: »Krabbenbrötchen und ein kleines Alsterwasser?«
»Gern«, ihre Hand griff nach seiner und drückte sie. »Danke.«
Erst als er hinter der Tür verschwunden war, richtete sie ihren Blick auf Elvira. »Wir haben gar nicht gedacht, dass es so voll ist. Aber es machen ja doch viele Menschen in dieser Zeit Urlaub. Nicht nur wir Rentner.«
»Das stimmt, die Insel füllt sich langsam. Jetzt hat der Frühling begonnen, da wollen wieder alle raus.«
»Wir heißen Schumacher«, die Frau streckte plötzlich ihre Hand aus. »Christa und Johannes Schumacher. Aus Münster.«
»Angenehm«, Elvira ergriff die Hand. »Elvira Sander.«
»Und wo kommen Sie her?« Christa Schumacher warf einen Blick auf den einsamen Kaffeebecher und das Fischbrötchen in Elviras Hand. Sie verstand den Blick sofort.
»Ich bin allein hier«, sagte sie freundlich. »Und ich bin nicht im Urlaub, ich lebe auf der Insel.«
»Wie beneidenswert«, Christa Schumacher sah sie begeistert an. »Eine echte Insulanerin. Haben Sie immer hier gelebt oder sind Sie irgendwann nach den Ferien geblieben? Das haben mein Mann und ich uns ja schon oft überlegt, einfach hierzubleiben, als hätte man immer Ferien.«
»Ich bin hier geboren«, Elvira umschloss den Becher mit beiden Händen. »Und nie weggekommen.«
Als hätte man immer Ferien, hatte sie gesagt. Elvira war immer wieder erstaunt, wie sich die Touristen das Leben auf der Insel vorstellten. Sie hatte seit Jahren keine Ferien gemacht, seit Hans-Georg tot war. Als ihr Mann noch lebte, waren sie im Herbst, wenn die Saison vorbei war, in den Süden geflogen. Nach Gran Canaria, Fuerteventura oder Teneriffa. Dahin, wo das Meer noch warm war, wo man abends im Freien essen konnte, wo man morgens vor dem Frühstück schon schwimmen ging und wo man sich leicht und jung fühlte. Aber nun war sie schon seit zehn Jahren Witwe und hatte niemanden, der mit ihr in die Sonne flog. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn gingen wandern oder machten Städtetouren, sie hielten Strandurlaub für Unsinn, den konnten sie schließlich umsonst im Sommer bei Elvira machen. Dafür bräuchten sie nicht für viel Geld in den Süden zu fliegen. Nur Elvira konnte im Sommer nicht an den Strand, da musste sie sich um ihre Gäste und den Garten kümmern.
»Hier geboren?«, hakte Christa Schumacher jetzt nach. »Wie toll. Mein Mann und ich kommen schon seit dreißig Jahren auf diese Insel. Wir kennen sie natürlich auswendig. Aber es muss doch sehr schön sein, wenn man alle Nachbarn und langjährigen Gäste kennt, weil man immer hier war, oder? In einer Stadt wie Münster ist man viel anonymer.«
Elvira lächelte, weil sie die Begeisterung nicht abwürgen wollte. Aber Frau Schumachers Vorstellungen waren leider falsch. Ihre Antwort erübrigte sich, weil in diesem Moment der Ehemann mit Getränken und Fischbrötchen zurückkam. Er balancierte das Tablett auf den Tisch und verteilte die Getränke. »Bitte schön, mein Schatz, ein Alster und ein Krabbenbrötchen.«
Sie lächelte ihn an und strich ihm über die Wange. Elvira fühlte einen kleinen Stich. Dieses Paar mochte sich immer noch, das war zu sehen. Und Elvira vermisste Hans-Georg in diesem Augenblick sehr.
Das Erste, was sie sah, als sie mit ihrem kleinen Auto auf die Garageneinfahrt zufuhr, war ihre Tochter, die auf der Treppe saß und auf ihr Handy starrte. Als sie den Wagen hörte, hob sie den Kopf, steckte das Handy weg und erhob sich langsam, um ihrer Mutter entgegenzugehen, die jetzt den Motor abstellte und ausstieg.
»Wo warst du denn?«, fragte Inken, bevor sie genauer hinsah und anfügte: »Ach, beim Friseur, ich sehe es schon. Hallo Mama, du siehst gut aus.«
»Hallo Inken«, Elvira beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Danke. Und danach habe ich am Hafen einen Kaffee getrunken und bin mit einem Ehepaar aus Münster ins Plaudern gekommen. Das war nett.«
»Das sag ich doch immer«, Inken schob die Hände in die Jeanstaschen und wippte auf den Fußspitzen. »Du musst einfach mal mehr unter Leute, du verkriechst dich viel zu oft im Haus.«
»Apropos«, Elvira zeigte auf die Haustür. »Warum hast du eigentlich auf der Treppe gesessen?«
»Schlüssel vergessen«, achselzuckend sah Inken ihre Mutter an. »Der liegt an der Garderobe. Das fiel mir erst ein, als ich die Tür zugeknallt hatte.«
»Wie lange sitzt du denn schon hier?«
»Nicht lange, vielleicht zehn Minuten. Wer hat eigentlich einen Ersatzschlüssel, wenn mal so was passiert?«
»Niemand«, Elvira ging nach einem kurzen Zögern an ihr vorbei zur Tür. »Ich vergesse meinen Schlüssel nicht. Und außerdem wohnen rechts und links, wie du weißt, Zweitwohnungsbesitzer, die selten hier sind. Da nützt es nichts, wenn ich bei denen meinen Schlüssel hinterlege, außerdem kenne ich die kaum.«
»Und was ist mit Frau Gebauer?«
»Die hat ihr Haus verkauft und ist zu ihrer Tochter nach Flensburg gezogen«, Elvira stellte ihre Handtasche ab und wandte sich zu Inken um. »Habe ich dir doch erzählt.«
»Ach ja«, Inken grinste schief. »Ich habe es vergessen. Na ja, dann hast du wenigstens Ruhe hier und keine Nachbarn, die dauernd klingeln und was wollen. Ach übrigens, ich habe noch was vergessen. Ich kann gar nicht bis Samstag bleiben, ich muss Donnerstag schon wieder zurück nach Bremen. Christophs Chef wird 65 und wir sind eingeladen, ich hatte es wirklich vergessen.«
»Aber wir wollten doch am Donnerstag ins Kino«, entgegnete Elvira enttäuscht. »Ich habe schon die Karten gekauft.«
»Ja, sorry, aber da musst du mit jemand anderem gehen, ich muss schon morgens los.« Inken küsste sie zum Trost auf die Wange. »Ich musste übrigens 3 ,50 Euro bezahlen, um zum Strand zu gehen, weil ich meine Karte nicht dabeihatte. Dabei wusste der Kurkartenkontrolleur, wer ich bin und dass ich normalerweise eine Jahreskarte habe.«
»Wieso hattest du die nicht mit? Und woher soll er das wissen?«
Inken hob die Schultern. »Herr Sörensen ist der Nachbar von Svenjas Eltern, der kennt mich eigentlich. Und vorgestern habe ich Svenja zum Abi-Treffen abgeholt, da stand er auch im Garten und hat uns gesehen. Aber er hat auf die Karte bestanden und so getan, als wäre ich irgendeine blöde Touristin, um abzukassieren. Ein Idiot.«
»Wenn du nicht immer die Hälfte deiner Sachen vergessen würdest, wärst du gar nicht in die Situation gekommen.« Elvira runzelte die Stirn. »Der Mann kann seinen Job verlieren, wenn jemand mitbekommt, dass er nicht vernünftig kontrolliert.«
»Job«, entgegnete Inken mit einer wegwerfenden Geste. »Der ist schon lange Rentner, der macht das doch nur, um Leute zu schikanieren. Macht ihm wohl Spaß. Ist sowieso ein seltsamer Typ, sagt Svenja, kriegt nie die Zähne auseinander.«
»Ich kenne ihn nicht.« Elvira ging an Inken vorbei nach oben. »Und du solltest aufhören, dauernd was zu vergessen. Und jetzt muss ich in der Ferienwohnung Fenster putzen, dabei kannst du mir eigentlich helfen.«