6.

Um 7 .30  Uhr saß Martina wie jeden Morgen in ihrer Küche, hörte die Radionachrichten und aß ein Stück Graubrot mit Quark und Pflaumenmus, zu dem sie eine Tasse Tee trank. Wie jeden Morgen sah sie dabei abwechselnd in ihren Vorgarten, in dem heute Morgen zwei aufgeregte Eichhörnchen über den Rasen flitzten, und auf das gegenüberliegende Vierfamilienhaus, in dem um diese Zeit alles still war. Die Leute, die dort wohnten, standen spät auf. Was Martina ganz recht war, sie mochte frühmorgens keinen Trubel, sie kam gern ruhig in den Tag.

Martinas Blick fiel auf Hella Fröhlichs Schlafzimmerfenster, das ihrer Küche gegenüberlag. Die Gardinen waren noch zugezogen, wie immer um diese Zeit. Hella ging spät ins Bett und stand spät auf, sie war eben eine Künstlerin. Etwas zu verrückt, für Martinas Geschmack, aber unterhaltsam. Und immer gut gelaunt. Manchmal lud sie Martina ein, dann redeten sie über alte Filme und tranken Haselnussschnaps. Das hatte sich so eingespielt, auch wenn es nicht regelmäßig war. Martina hatte schließlich viel zu tun, als Filialleiterin der kleinen Bank, Schatzmeisterin des Kinder-Clubs und des Seniorenvereins. Und sie hatte gern Routine, ein Abend bei Hella Fröhlich brachte sie da immer raus. Heute Abend würde Hella aber zu ihr kommen, weil sie Hilfe beim Installieren dieser App auf ihrem Handy brauchte. Martina hatte ihr auch schon das Filmen mit dem Smartphone beigebracht, genauso wie den Gebrauch der Lupe und den Kauf einer Online-Fahrkarte. Hella war wie die meisten Menschen: Sie kauften sich ein modernes Gerät und hatten dann keine Lust, die Gebrauchsanweisung zu lesen. Martina verstand das einfach nicht. Wenn man schon Geld für Technik ausgab, musste man doch alle Möglichkeiten ausschöpfen.

Da war Martina ganz anders. Sie hatte die Gebrauchsanweisungen ihrer Elektrogeräte komplett gelesen, sie brauchte niemanden, der ihr den Fernseher programmierte, die Waschmaschine oder den Staubsaugerroboter erklärte. Genau dafür gab es ja Gebrauchsanweisungen. Und Martina las furchtbar gern, was sich die findigen Technikfachleute ausgedacht hatten. Und was so ein Gerät alles konnte. Als sie im letzten Jahr ein Smartphone bekommen hatte, hatte sie wochenlang recherchiert, bis sie schließlich alles über die Technik und deren Möglichkeiten wusste. Sie fand es faszinierend und verstand gar nicht, dass alle ihre Bekannten dauernd irgendein Problem mit ihrem Handy hatten. Wenn man sich einmal gründlich damit auseinandergesetzt hatte, dann wusste man doch Bescheid. Aber so unterschiedlich hatte der liebe Gott eben die Talente verteilt. Martina konnte sich Zahlen und Gebrauchsanweisungen merken, dafür war Hella Fröhlich eine gute Schauspielerin und konnte wunderbar nähen.

Die Nachrichten waren vorbei, die Radiomoderatorin verlas jetzt die Verkehrsmeldungen, die Martina automatisch addierte. Insgesamt einundzwanzig Kilometer Stau im Norden, dachte sie mitleidig und räumte ihr Geschirr weg. Die bedauernswerten Menschen, die ständig durch die Gegend fahren mussten, taten ihr leid. Sie musste von dieser Insel überhaupt nicht weg.

Gerade als sie das Fenster kippen wollte, bewegte sich in der Wohnung im oberen Stockwerk plötzlich eine Gardine. Martina beugte sich vor. Und sah plötzlich an einem der Fenster einen Mann stehen. Er gehörte da nicht hin, zumindest hatte Martina ihn noch nie gesehen. Aber er stand da nun und sah aus dem Fenster. Aus dem Schlafzimmerfenster von Regina Gräber. Mit freiem Oberkörper. Martina starrte hin. Der Mann drehte seinen Kopf und sah plötzlich in ihre Richtung. Sofort wich sie zurück, sie wollte ja nicht den Anschein erwecken, sie sei neugierig. Das war sie wirklich nicht, sie war nur verblüfft. Das sah nach einer Erfolgsgeschichte aus, das sollte sie Hella heute Abend sagen. Aber dass der Mann am Schlafzimmerfenster halb nackt gewesen war, würde sie lieber weglassen. Das ging ja nur Regina Gräber etwas an.

Regina Gräber, Kontonummer 5623312 , wohnte erst seit einem knappen Jahr im Haus gegenüber. Sie war dort nach ihrer Trennung eingezogen, vorher hatte sie in Keitum gewohnt, in einem großen Haus mit einem reichen Mann, der sie im letzten Jahr verlassen hatte. Die Miete für die Wohnung wurde von ihrem Ex-Mann bezahlt, der ihr auch jeden Monat Geld für den Lebensunterhalt überwies, trotzdem brauchte Regina Gräber jetzt zusätzlich einen Job in einer kleinen Boutique, was ihr überhaupt nicht gefiel. Deshalb suchte sie einen neuen Mann mit Geld. Das wusste Martina wiederum von Hella, die sofort nach Reginas Einzug mit einer Flasche Sekt in der Hand geklingelt und alles brühwarm erzählt bekommen hatte.

Bei ihrem letzten Besuch in der Bank hatte Regina Gräber Martina ein Handy hingehalten und sie gebeten, ihr das Online-Banking zu installieren, sie wolle das endlich mal versuchen. Beim Einrichten hatte Martina auf dem Display eine App entdeckt, von der sie noch nie etwas gehört hatte, und das, obwohl sie sich für technische Neuigkeiten sehr interessierte und auch viel darüber las. Aber eine App mit dem seltsamen Namen Liebe oder Eierlikör war ihr gänzlich unbekannt.

Abends hatte sie sich sofort umfassend informiert und war beeindruckt gewesen. Sie mochte ausgefuchste Technik und Algorithmen, es klang alles so logisch. Und es war doch eine gute Idee, ältere Menschen aus der Region auf diese Weise zusammenzubringen. Nichts anderes war nämlich das Ziel: Es war eine Kennenlern-App für Leute, die Kontakt suchten. Martina gehörte nicht dazu, sie hatte genug Bekannte, konnte aber verstehen, dass andere jemanden suchten. Warum auch nicht? Und Regina Gräber suchte ja einen neuen Mann.

Danach hatte Martina alles gelesen, was sie über das Online-Dating finden konnte. Was wiederum oft nicht so romantisch klang, gab es doch auch einige entmutigende Berichte. Aber das musste jeder für sich entscheiden. Manche hatten Glück, manche nicht, das war im wahren Leben dasselbe. Und 43  % der Paare hatten Glück, das war doch eine ordentliche Ausbeute. Und so wie es gerade aussah, gehörte Regina Gräber dazu.

Mit einem Blick auf die Uhr sprang Martina auf. Der halb nackte Mann hatte ihre ganze Routine durcheinandergebracht, jetzt musste sie sich tatsächlich beeilen, um pünktlich zur Bank zu kommen.

 

Zwei Stunden später hatte Martina die Einnahmen dreier Geschäfte eingezahlt, viermal telefoniert und sechs E-Mails an die Zentrale geschrieben. Sie schickte die letzte ab und blickte kurz nach draußen, um zu sehen, ob der Postbote schon kam. Er schien heute zu trödeln, dafür entdeckte sie Regina Gräber auf der anderen Straßenseite, die sehr eilig auf dem Weg zur Arbeit war. Sie kommt zu spät, dachte Martina, das war das Problem, wenn man sich vom Privatleben ablenken ließ. Aber das war ja nicht ihre Sache.

Ohne groß nachzudenken, gab Martina die Ziffern 5623312 ein und überflog die Spalten auf dem Bildschirm. Mit gerunzelter Stirn rollte sie mit dem Stuhl näher und sah genauer hin. Es waren eine Menge Abbuchungen, die hier zu sehen waren, alle online getätigt, alles glatte Summen. Nur leider mehr, als der Kontostand hergab. Regina Gräbers Konto war gesperrt. Und Martina fragte sich, ob der halb nackte Mann am Fenster der Grund dafür war.

Sie schloss das Programm, als sie die Tür hörte, und hob den Kopf, um die heraneilende Kundin zu begrüßen. »Moin, Hilke.«

»Moin, Martina«, Hilke war außer Atem und hatte ein ganz erhitztes Gesicht, als sie ihre Handtasche auf den Tresen stellte und sich mit dem Handrücken über die Stirn wischte. »Heute geht auch alles schief, ich war schon an der Bushaltestelle, als ich gemerkt habe, dass ich mein Portemonnaie vergessen habe, und ich muss in einer halben Stunde in Kampen sein. Kontonummer 5092009 , ach, du kennst sie ja, und bitte 200  Euro.«

Martina zählte ihr das Geld schon hin und ließ sie einen Beleg unterschreiben. »Hier unten einmal, danke.«

»Ich danke dir«, Hilke schob die Scheine in ihre Handtasche. »Ach, übrigens, ich habe Minna Paulsen schon Bescheid gesagt, ich kann beim Frühlingsbasar nicht helfen. Kannst du vielleicht einspringen?«

»Ich habe eine Weiterbildung«, Martina sah sie an. »Tut mir leid.«

»Schade«, achselzuckend schob Hilke sich den Riemen der Handtasche über die Schulter. »Dann muss ich noch mal nachdenken, ob mir jemand anders einfällt. Also dann, bis bald. Ich muss rennen, der Bus kommt gleich.«

Martina nickte und sah ihr nach. Sie sah heute ganz anders aus als sonst. Irgendetwas war mit ihrem Haar passiert. Und mit ihrem Gesicht. Und sie hätte sie auch fragen können, warum sie keine Zeit hatte, beim Basar zu helfen. Darauf war sie so schnell nicht gekommen. Auch, weil ihre Gedanken noch bei Regina Gräber, dem halb nackten Mann und dem gesperrten Konto gewesen waren. Jetzt war es eh zu spät.

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, ging die Tür wieder auf und die nächste Kundin kam herein. 5114345 , dachte Martina und rief die Nummer auf. Die freundliche Ute Carstens, die im Supermarkt an der Kasse arbeitete, stand schon vor ihr und schob Martina mit zitternden Fingern einen Überweisungsschein zu.

»Hallo, Frau Wolf, können Sie das bitte für mich überweisen?«

Als Martina das Konto geöffnet hatte, hob sie kurz die Augenbrauen und sah Ute Carstens an. »Da gibt es ein kleines Problem, Frau Carstens.«