7.

»Ich bin wieder da.«

Ernst schreckte aus dem Schlaf hoch, der ihn auf dem Sofa bei einem sehr langweiligen Krimi übermannt hatte. »Ja, schön«, rief er mit etwas belegter Stimme zurück und glättete schnell sein Haar, während er sich gerade hinsetzte. »Ich bin im Wohnzimmer.«

»Das denke ich mir«, Gudruns Stimme kam jetzt näher. »Ich muss dir unbedingt was erzählen, das glaubst du nicht, ich … oh, hast du schon geschlafen?« Sie stand jetzt vor ihm, das Gesicht gerötet, die Haare noch etwas feucht.

»Unsinn«, Ernst schüttelte den Kopf und zeigte wie zur Bestätigung auf den Fernseher. »Ich habe schon eine Ahnung, wer der Mörder ist. Willst du es wissen? Die Ehefrau.«

Gudrun lenkte ihren Blick auf das Geschehen, genau in dem Moment, als der Kommissar einem jungen Mann Handschellen anlegte und laut sagte: »Ich verhafte Sie wegen Mordes an Jack Brown.« Die Kamera schwenkte abschließend kurz zum Mörder, eindeutig ein Mann, dann erklang die Titelmusik, während der Abspann über den Bildschirm lief.

»Aha«, Gudrun sah zurück zu Ernst. »Die Ehefrau. Du hast also doch geschlafen. Warum gehst du nicht ins Bett?«

»Weil du mir unbedingt noch was erzählen musst«, Ernst sah sie neugierig an. »Dann kann ich doch noch nicht ins Bett gehen. Um was geht es denn? Habt ihr eine neue Turnübung erfunden?«

Gudrun ging jeden Donnerstag zum Turnen. Das machte sie schon seit Jahren, erst im letzten Winter hatte sie auf der Jahreshauptversammlung die goldene Mitgliedsnadel bekommen. Für 50  Jahre im Sylter Turnverein. Sportlich war Gudrun immer noch, da machte ihr niemand etwas vor. Wobei Ernst der Meinung war, dass es bei den zwölf Damen des Vereins mittlerweile mehr um Geselligkeit als um Gelenkigkeit ging. Aber das war ja egal, Gudrun fand sich jeden Donnerstag in der Turnhalle ein und hatte anschließend immer was zu erzählen. Was wiederum Ernst zu der Frage brachte, ob die Damen beim Turnen sehr kurzatmig miteinander redeten oder so wenig turnten, dass sie zwischendurch genug Zeit für ihre Geschichten hatten. Er würde es wohl nie herausfinden.

»Nein, viel besser«, sagte Gudrun jetzt aufgeregt und ließ sich neben ihn aufs Sofa fallen. »Sabine hat etwas völlig Verrücktes erzählt, ich konnte es kaum glauben. Stell dir vor, sie ist ja schon seit Jahren geschieden und hatte danach immer weiter Pech mit den Männern und jetzt …«

»Welche Sabine?« Ernst hatte Mühe, ihrem Tempo zu folgen, stellte aber fest, dass er schon am Anfang eine Lücke hatte.

»Unsere Friseurin«, Gudrun schlug ihm leicht auf den Arm. »Wir haben nur eine Sabine im Verein, sie schneidet dir auch die Haare.«

»Und die ist geschieden?«

»Ach, Ernst«, sie sandte einen Blick gen Zimmerdecke. »Schon lange, aber darum geht es doch gar nicht. Sie hat einfach kein Glück in der Liebe, egal was sie macht oder wen sie kennenlernt, es war nie das Richtige dabei. Aber jetzt hat sie sich bei einer Dating-App angemeldet.« Beifall heischend sah sie ihn an. Er hob die Schultern.

»Ja. Schön.«

»Was heißt ›Ja, schön‹?« Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du überhaupt, was eine Dating-App ist?«

»Ja, sicher.«

»Und was?« Gudrun rutschte ein Stück von ihm weg und trank aus seinem Glas. »Erklär es mir.«

»Das …«, Ernst nahm ihr das Glas aus der Hand und trank, um Zeit zu schinden, »das ist … so ein Verein, bei dem man … also, die treffen sich ganz schnell mit mehreren. Mit Stoppuhren. Habe ich mal gelesen.« Er schluckte. Hella hatte neulich so was erzählt, er hatte nur nicht richtig zugehört.

»Das ist Speed-Dating«, Gudrun schüttelte schon wieder den Kopf. »Du hast nämlich keine Ahnung. Eine Dating-App ist eine App auf dem Smartphone, in der man sich anmelden kann, um einen Partner zu finden. Und die schlägt einem dann jemanden vor. Wenn man nach links wischt, kann man sich verabreden, wenn man nach rechts wischt, lehnt man den Vorschlag ab. Oder war das umgekehrt? Na, egal.«

Ernst verstand kein Wort von dem, was Gudrun gerade erzählte, ehrlich gesagt interessierte ihn auch das Liebesleben seiner Friseurin nicht, aber seine Frau ließ sich gerade nicht bremsen.

»Wie auch immer«, fuhr sie fort. »Es gibt jetzt jedenfalls diese neue Dating-App, die haben wohl ein paar Leute extra für diese Region entwickelt. Also, du musst die passende Postleitzahl haben, damit deine Dates hier in der Nähe stattfinden können und nicht etwa in Stuttgart oder Nürnberg. Du musst ein paar persönliche Angaben machen, Aussehen, Hobbys, Beruf und so, dann macht dir die App passende Vorschläge. Und damit das nicht peinlich wird, gibt es noch was ganz Tolles.« Atemlos vom schnellen Reden, musste Gudrun eine kleine Pause machen, bevor sie anfügte: »Die App heißt nämlich Liebe oder Eierlikör . Das heißt, wenn du dich mit jemandem triffst, in den du dich aber gar nicht verlieben willst, dann musst du das nicht erklären, sondern bestellst dir einfach einen Eierlikör. Dann weiß dein Gegenüber Bescheid und keiner macht sich falsche Hoffnungen. Und so kann man sich gemütlich mit jemandem treffen, schön Kaffee und Eierlikörchen trinken, ohne dass es unangenehm wird. Und du lernst trotzdem Leute kennen. Oder verliebst dich. Ist das nicht toll?«

Ernst kam nicht hinterher, sosehr er sich bemühte. Er war auch noch ein bisschen verschlafen. Jetzt hob er den Kopf und sagte: »Aber ich will mich gar nicht verlieben. Und von Eierlikör kriege ich schnell Sodbrennen.«

»Du sollst dich doch auch nicht verlieben«, Gudrun stieß ihn an. »Das war nur ein Beispiel. Aber Sabine macht mit und hat sich auch schon mit einem Herrn aus Bredstedt getroffen. Waltraud will ihre Tochter fragen, ob sie ihr das zeigt, und Elfi hat sich gestern von ihrem Sohn anmelden lassen.«

»Wo genau?« Ernst versuchte immer noch angestrengt, einen roten Faden in diesem Redeschwall zu finden.

»Wie, wo genau?«

»Wo sie sich angemeldet hat?«, half Ernst ihr auf die Sprünge. »Also Elfi.«

»Bei der Dating-App. Sie ist seit vier Jahren Witwe und ihre Kinder wohnen weit weg. Manchmal fühlt sie sich eben allein. Und Waltraut hat in der letzten Zeit ein paarmal Paare in einem Café gesehen und oft hat einer von denen Eierlikör getrunken. Das kann doch kein Zufall sein. Die sind vielleicht alle bei dieser Dating-App.«

Ganz langsam bekam Ernst eine Vorstellung, worum es ging. »Du meinst, die suchen sich im Handy jemanden zum Kennenlernen?«

»Ja«, antwortete Gudrun und nickte heftig. »Im Internet. Warum auch nicht? Ich finde, das klingt alles sehr überzeugend. Wer weiß«, sagte sie plötzlich lächelnd, »vielleicht hat Hilke sich da auch angemeldet. Und hat nun ein Date nach dem anderen und deshalb Lippenstift benutzt.«

»Hilke?« Wie angestochen schoss Ernst hoch. »Hat das eine der Damen erzählt? Hat sie jemand gesehen?«

»Nein«, Gudrun sah ihn kopfschüttelnd an, bevor sie langsam aufstand. »Das ist mir nur gerade so eingefallen. Theoretisch ist das ja möglich, wenn schon alle darüber reden. Also, dass selbst Hilke davon gehört hat und es auch ausprobiert. Ich bin jedenfalls gespannt, was die Damen nächstes Mal beim Turnen erzählen. So, ich muss mal eben Wiebke anrufen, sie hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass Mats sich eine Fahrkarte gekauft hat, aber nicht gesagt, wann der Junge kommt.«

Sie ging in den Flur, um das Telefon zu holen. Ernst verharrte auf dem Sofa, bis er ihre Stimme und danach die Küchentür hörte, die sie hinter sich schloss, um ihn nicht zu stören. Mutter und Tochter telefonierten immer lang und laut.

Er sprang auf und ging nach nebenan, wo in Wiebkes ehemaligem Kinderzimmer jetzt neben einem Gästebett, einem Fernseher und einem Lesesessel auch ein Schreibtisch mit einem Computer stand. Ernst drückte auf den Power-Knopf und wartete, bis seine Suchmaschine den Bildschirm ausfüllte. Dann gab er sorgsam mit zwei Fingern Partnersuche Internet ein und hielt die Luft an, als eine ganze Reihe an Einträgen auftauchte. Atemlos überflog er die ersten Artikel, dann gab er Daiting-epp ein, woraufhin ihn der Computer fragte: Meintest du Dating-App ? Das konnte natürlich auch sein. Er las Anzeigen, Erfahrungsberichte und Statistiken, das meiste verstand er gar nicht und scrollte weiter. Dann versuchte er es mit Kriminalität bei Partnersuche im Internet , sofort ploppten passende Einträge auf, während sein Blutdruck stieg. Genau das hatte er sich gedacht, hier war Menschen, die die Notlage anderer ausnutzten, Tür und Tor geöffnet. Er las Artikel über Männer, die sich im Netz charmant und verbindlich gaben, deren Fotos in Wirklichkeit aber gar nicht sie, sondern attraktive Schauspieler oder Fotomodelle zeigten. Sie erzählten den Frauen schöne Geschichten von ihrem spannenden Leben, aber auch von schweren Schicksalsschlägen. Die Polizei gab Tipps, wie man Betrüger im Netz erkannte, warnte vor verdächtiger Bildauswahl und monierte die Leichtgläubigkeit vor allem älterer Frauen, die auf dieses System hereinfielen.

Mit erhöhtem Puls verfolgte Ernst den Bericht über Wilma S., die sich im Internet in einen schönen Mann mit schwerem Leben verliebt und über Monate mit ihm Mails ausgetauscht hatte. Sogar telefoniert hatten sie, nicht oft, weil er so viel geschäftlich im Ausland war, aber regelmäßig. Dann hatte sie ihm mehrere Male Geld überwiesen. Weil man ihn bestohlen, überfallen oder betrogen hatte und er auf einem Flughafen, Bahnhof oder in einem Hotel festsaß und gern zu ihr kommen wollte. Was er nur ohne Geld nicht bewerkstelligen konnte. Und Wilma S. hatte so lange überwiesen, bis sie pleite war und erfahren musste, dass es den charmanten Alexander gar nicht gab.

Ernst war jetzt hellwach. Da hatte die arme Wilma S. an die große Liebe geglaubt und war nach Strich und Faden belogen und betrogen worden. Und wie Ernst lesen musste, war sie mitnichten ein Einzelfall. Es gab bereits kriminelle Banden, die sich darauf spezialisiert hatten, die Leichtgläubigkeit einsamer und verliebter Frauen, die im Internet nach einem Prinzen suchten, auszunutzen. Es war nicht zu fassen.

Und jetzt kam Gudrun vom Turnen und erzählte freudestrahlend von dieser App mit dem komischen Namen Liebe oder Eierlikör . Und schon rannten die turnenden Damen lachend ins Verderben. So war der Kriminalität doch niemals beizukommen. Ernst war alarmiert. Er würde das Treiben genau beobachten. Dafür musste er sich auskennen und vorbereitet sein. Damit er mit der einen oder anderen Dame ein präventives Gespräch führen konnte. Vor allen Dingen mit Hilke Petersen. Er griff zu einem Schreibblock und seinem besten Kugelschreiber und fing an, sich Notizen zu machen. Er würde dem Verbrechen ein Schnippchen schlagen, er hoffte nur, es wäre noch rechtzeitig. Plötzlich hob er entsetzt den Kopf. Was, wenn nicht? Kurz entschlossen griff er zu seinem Handy und suchte eine Nummer unter den Kontakten. Nach zwei Freizeichen wurde abgenommen.

»Ja?«

»Martina, hier ist Ernst Mannsen, ich habe eine Frage und hoffe, du kannst sie aus dem Kopf beantworten. Es ist wichtig. Gab es bei Hilke in den letzten Monaten auffällige Kontobewegungen? Bei Hilke Petersen? Oder auch bei anderen Kunden. Vorzugsweise Kundinnen? Überweisungen oder Abhebungen?«

Am anderen Ende entstand eine lange Pause, was ungewöhnlich war. Normalerweise beantwortete Martina Fragen, die mit Zahlen zu tun hatten, wie aus der Pistole geschossen. Nur jetzt nicht, stattdessen räusperte sie sich. »Weißt du, was ein Bankgeheimnis ist?«

»Ja, natürlich, aber ich mache mir Sorgen um Hilke. Also, sag mal, war da was?«

»Morgen Nachmittag habe ich frei. Um 16  Uhr bei mir.«

Ohne die Antwort abzuwarten, legte sie auf.