8.

Hella hockte vor ihrer Musiktruhe und suchte eine Langspielplatte von Caterina Valente, sie musste in die richtige Stimmung kommen, das war jetzt wichtig. Sie lächelte, als die ersten Töne durch ihr Wohnzimmer klangen, und kam mit einem kleinen Ächzen hoch. Ihr Handy lag schon auf dem Tisch, das Sektglas stand daneben und Martina hatte ihr noch mal ausgedruckt, wie das alles genau funktionierte, damit Hella in ihrer Aufregung nichts vergaß. Sie wollte ja alles richtig und keine Bedienfehler machen, nicht dass daran die wirklich interessanten Kontakte scheiterten.

Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und setzte ihre Brille auf. Vorsichtig, als könnte sie etwas kaputt machen, rief Hella die App auf. Sie warf einen Blick auf die ausgedruckte Anleitung, fand danach sofort ihr Profil und sah sich zufrieden das Foto an, das Martina von ihr gemacht und eingestellt hatte. Auf dem Bild trug sie ihre neue gelbe Jacke und stand in Martinas Garten vor dem Kirschbaum, dessen zartrosa Blätter einen wunderbaren Kontrast zu dem Gelb darstellten. Hella lächelte sinnlich in die Kamera, zumindest hatte sie sich darum bemüht, und war jetzt mit dem Ergebnis hochzufrieden. Auch ihre Frisur saß, glücklicherweise war sie vorher noch bei Sabine gewesen, die eine halbe Dose Haarspray verbraucht hatte, damit die Locken der Frühlingsbrise standhielten. Ehrlicherweise musste sie anfügen, dass Martina einen Filter benutzt hatte, der Hella locker fünfzehn Jahre jünger machte. Hella hatte gelesen, dass es so was gab, und Martina gefragt, ob sie das auch könnte. Natürlich konnte sie das, sie konnte alles, was mit Technik zu tun hatte. Also hatte sie ein bisschen getippt, gewischt und bearbeitet und zack, Hella sah aus wie in ihrer Rolle als Hedda Gabler, damals in der Laienspielgruppe. Martina war nur etwas irritiert, als Hella sagte, sie solle das Foto bitte so lassen. Sie hatte ihr eigentlich nur die technischen Möglichkeiten demonstrieren wollen. »Das kann dann aber sein, dass ein eventueller Kandidat dich nicht erkennt«, hatte sie gesagt, aber Hella hatte geantwortet, dass sie bei gutem Licht mit dem richtigen Make-up und sehr ausgeschlafen gar nicht so viel anders aussehen würde. Martina hatte nichts erwidert.

butterblume02 , elegante Erscheinung mit guter Laune, liebt Schauspiel, Champagner, gutes Essen und kultivierte Gespräche. #inselliebe#sonnenuntergang#sommerparty#liebeamstrand

Hella lehnte sich zurück und nickte. Vielleicht war das letzte Hashtag etwas zu verwegen in ihrem Alter, aber wer nichts will, kriegt nichts, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und wenn sie schon hier mitmachte, dann konnte sie doch auch in die Vollen gehen. Für Überraschungen war es bekanntermaßen nie zu spät.

Überrascht war sie auch gewesen, als Sabine ihr gestern während des Haarefärbens beiläufig erzählt hatte, dass sie sich auf einer neuen Dating-App angemeldet habe und deshalb ab und zu auf ihr Handy schauen müsse, ob es da was Neues gebe. Hella war so perplex gewesen, dass sie sofort gefragt hatte, ob es sich dabei zufällig um Liebe oder Eierlikör handeln würde, weil sie sich mit Martinas Hilfe auch registriert, es aber noch nicht ausprobiert habe. Sabine war begeistert gewesen. Sie sei schon seit drei Wochen in dieser Dating-App unterwegs, habe aber erst ein Date gehabt. Das habe nicht an der Auswahl an Männern gelegen, die sei gar nicht so schlecht, sondern der Tatsache geschuldet, dass Sabine schließlich eine berufstätige Frau sei und zudem noch die einzige Friseurin im Dorf.

»Ich glaube«, hatte sie Hella zugeraunt, »dass wir nicht die Einzigen aus dem Dorf sind, die da mitmachen. Ich kann mich kaum noch vor Terminanfragen retten, alle haben plötzlich was vor und wollen eine neue Frisur. Und ich selbst habe keine Zeit, aber so aufregende Anfragen, es ist zu ärgerlich, am Ende schnappen mir noch meine Kundinnen die besten Männer weg.«

Sabines Name lautete lockenwickler01 , das fand Hella nun nicht besonders originell, dafür waren ihre Hashtags #kopfmassage#einseifen#nacktamstrand schon sehr gewagt. Sabine ging gleich zur Sache, dagegen war Hella ja noch harmlos. Aber viel spannender fand sie Sabines Schilderungen ihres ersten und bisher einzigen Dates. Der Mann hieß Bernd, war ein geschiedener Apotheker aus Bredstedt und verbrachte die Wochenenden gern auf Sylt. Er hatte ein Café in Westerland vorgeschlagen, in das er zu Fuß vom Bahnhof gekommen war.

»Ich sag es dir«, Sabine legte ihre Hände auf den Plastikumhang, in den Hella gehüllt war. »Es war eine ganz klare Entscheidung für Eierlikör. Der Bernd war auch so fürchterlich verschwitzt, dabei ist der Weg vom Bahnhof nicht besonders weit, der hatte überhaupt keine Kondition. Er ist auch ein bisschen zu dick, na ja. Und es ist auch nicht seine Apotheke, sondern er ist nur da angestellt. Aber er war nett und ich kriege jetzt diese eine Creme, die es nur in der Apotheke gibt, billiger. Und wir haben dann jeder zwei Eierliköre getrunken und hatten trotzdem einen netten Nachmittag. Aber jetzt könnte auch mal was Spannenderes kommen. Und bei dir so?«

Bei Hella war ja noch nichts passiert, deshalb konnte sie auch nichts Aufregendes erzählen, aber jetzt war es endlich so weit.

Es war nicht so, dass Hella Fröhlich sich einsam fühlte, sie hatte genug Freunde und immer etwas zu tun. Aber sie hatte diese Freunde schon lange und seit Jahren kam niemand Neues mehr dazu. Früher hatte der Frühling auf der Insel die gesellschaftlichen Highlights eingeläutet. Es gab Tanzveranstaltungen im Haus des Kurgastes, Misswahlen, Modenschauen oder Bunte Abende im Casino in Westerland, Konzerte in der Musikmuschel auf der Promenade, überall und andauernd konnte man aufregende Leute kennenlernen, die ein paar Wochen auf der Insel verbrachten und genau wie Hella Feier- und Frühlingslaune hatten. Heute waren die meisten Gäste nur kurz hier, das Haus des Kurgastes war einem Hotel gewichen, das Casino in Westerland war erst zur Spielbank geworden und nun ganz geschlossen, die Touristen blieben unter sich und Hella lernte niemanden mehr kennen. Aber das sollte sich jetzt ändern.

Sie trank einen Schluck Sekt, blies sich eine Locke aus der Stirn und las noch einmal die Anleitung durch. Dann wischte sie entschlossen über das Display.

fußballer72 , sportlich, lustig, zuverlässig

#HSV #ersteLiga#ewiguweseeler

Hella runzelte die Stirn, als sie das Bild sah, wenig Haare, freundliche Augen, aber zu viel Fußball. Obwohl es sie auch bekümmert hatte, dass Uwe Seeler gestorben war. Für Fußball selbst interessierte sie sich aber nicht. Das ging ihr schon bei Ernst auf die Nerven, der sich jeden Besuch am Samstagabend verbat, solange die Sportschau lief. Das war nichts für Hella Fröhlich. Sie wischte fußballer72 weg.

Konzentriert sah sie sich die Auswahl an und überlegte, welchem dieser Herren sie eine Anfrage schicken sollte, konnte sich aber nicht entscheiden. Wobei sie auch nicht ganz sicher war, ob sie das System wirklich verstand. Während sie noch überlegte, wie sie nun vorgehen sollte, piepte das Handy und das Bild eines Mannes, der ein bisschen aussah wie der jung gebliebene Vater von George Clooney, tauchte auf dem Display auf.

fischgräte61 , gepflegte Erscheinung, kulturell interessiert, reiselustig. #syltforever#rotweinimstrandkorb#tangoummitternacht

Wie elektrisiert starrte Hella auf die Einladung zum Date. So wie es aussah, war das ja schon fast ein Hauptgewinn. Er hatte sehr volles Haar und war kulturell interessiert, es war kaum zu fassen. So wie es aussah, kam er sogar von der Insel, wie sonst war #syltforever und #rotweinimstrandkorb zu erklären? Davon abgesehen, dass Hellas Puls ohnehin bei #tangoummitternacht in die Höhe schnellte. Das war ja ein ganz anderer Fall als der etwas zu dicke Bernd aus der Apotheke in Bredstedt, der verschwitzt vom Bahnhof zum Treffen mit Sabine gekommen war.

Hella hob das Handy dichter an die Augen und lächelte. Bei diesem Date würde sie vermutlich keinen Eierlikör trinken. Sie vergewisserte sich noch mal auf der ausgedruckten Anleitung, in welche Richtung sie wischen musste, und bekundetet ihr Interesse. Sogar mit einem Herzchen. Und ging in ihr Schlafzimmer, um sich, vor dem großen Kleiderschrank stehend, schon mal Gedanken zu machen, was butterblume02 tragen könnte, um die elegante Erscheinung mit guter Laune zu unterstreichen.

Eine Stunde später sah ihr Schlafzimmer aus wie nach einem Erdbeben. Das Bett war unter einem Berg von Kleidern und Blusen kaum noch auszumachen, überall standen offene Schachteln, aus denen Tücher, Hüte und Unmengen an Schmuck quollen, Hella selbst stand gerade in einem hellgrünen Samtkleid vor dem großen Spiegel und musterte anerkennend nickend ihre Rückseite, als ein Piepton sie aus der Konzentration riss. Die App meldete ihr eine Textnachricht, sofort tippte Hella darauf, um sie zu lesen.

»Gnädigste butterblume02 , ich schlage für ein baldiges Treffen das kleine Café in Keitum an der Wattseite vor. Vielleicht schon übermorgen? Um 16  Uhr? Ich kann es kaum erwarten. In großer Vorfreude, fischgräte61

Mit einem wohligen Seufzer ließ Hella sich auf den Kleiderhaufen sinken, die Augen immer noch auf den Text gerichtet. Gnädigste butterblume02  … in großer Vorfreude  … Hier handelte es sich offensichtlich um einen Mann mit Stil, das war mit Sicherheit kein Kandidat für einen Eierlikör. Hella lächelte und drückte theatralisch das Handy an ihre Brust. Sie war eben ein Sonnenkind. Auch bei einer Dating-App. butterblume02 hatte einen Lauf. Und schrieb mit zitternden Fingern eine Antwort, in der sie ihr erstes Date bestätigte.