Ernst verlangsamte seine Schritte, als er die Schlange vor dem Gemeindebüro sah und stöhnte auf. Was wollten denn all die Menschen hier? So viele Fragen konnten Touristen doch gar nicht haben. Wenn er sich anstellte, bräuchte er ewig, bis er vor Hilkes Schreibtisch ankam. Und müsste sich womöglich während der Wartezeit noch mit irgendwelchen Fremden unterhalten, die ihn als Auskunftsbüro missbrauchen würden, wenn sie herausfanden, dass er Insulaner war und sich hier auskannte. Dazu hatte er überhaupt keine Lust. Und auch keine Zeit dafür. Andererseits duldete das, was er mit Hilke klären musste, keinen Aufschub. Nach dem Gespräch mit Martina blieb ihm nichts anderes übrig. Hier war tatsächlich etwas im Busch, aber sein Plan A war erst mal, Hilke direkt zu fragen. Wenn der nicht funktionierte, kam Plan B zum Einsatz. Und der hatte es natürlich in sich. Ernst war hier in der Pflicht. Er wusste schon zu viel.
Er nahm seine Schirmmütze ab und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Es war schon sehr warm, viel zu warm für diese Jahreszeit. Ernst fragte sich, ob der Klimawandel die Frühlingshormone früher oder womöglich sehr viel massiver zum Ausbruch gebracht hatte. Das würde ihm ja noch fehlen, dass alle noch verrückter wurden. Nein, es duldete keinen Aufschub. Er atmete tief durch, straffte sich und schritt entschlossen auf das Ende der Schlange zu.
Der Mann, der das Schlusslicht bildete, drehte sich um, als Ernst sich anstellte. »Das dauert hier«, sagte er mit einem Anflug schlechter Laune. »Die haben wohl nur einen Schalter besetzt.«
»Mhm.«
»Meine Freundin hat mich hergeschickt, weil sie ein Verzeichnis der Ferienwohnungen haben will«, er sah Ernst genervt an. »Damit wir uns jetzt schon eine für die Herbstferien aussuchen können. Dabei sind wir gestern erst angekommen. Aber wir wohnen in einem dermaßen schlimmen Loch, das ist nicht zu glauben. Die vermieten hier ja wirklich die letzten Wohnungen für einen Haufen Geld, ich werde mich da drin auch gleich über den Vermieter beschweren. Die haben noch nicht mal WLAN und nur einen Fernseher. Wie ist das denn bei Ihnen?«
»Wir haben WLAN .« Ernst sah absichtlich an ihm vorbei. »Und drei Fernseher.« Einer war kaputt und stand im Keller, aber das ging den Mann ja nichts an.
»Glück gehabt«, sagte er, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte zu erkennen, ob sich vorn schon etwas bewegte. »Meine Freundin will eine Wohnung mit Sauna. Haben Sie eine?«
»Nein.«
Die Einsilbigkeit schreckte den Mann nicht ab, sein Frust musste raus. »Ich sehe mir so was ja immer im Netz an, Hotels und Ferienwohnungen und so. Dann hat man auch gleich die Beurteilungen. Aber meine Freundin will das immer gedruckt. Sie hat einen Reiseführer gekauft, da sind angeblich so tolle Restauranttipps drin. Habe ich gestern gemerkt. Gott, die hatten da Preise, das war nicht zu glauben. Aber dafür Miniportionen, ich hatte die ganze Nacht Hunger. Kennen Sie schon ein Restaurant, in dem man satt wird?«
Natürlich kannte Ernst jede Menge, er dachte nur nicht daran, ihm die zu nennen. Er wollte solche Leute nicht beim Essen treffen. »Nein«, antwortete er deshalb. »Wir gehen nie essen.«
»Ist ja auch ansonsten teuer genug, diese Insel«, der Mann schüttelte resigniert den Kopf. »Ich wollte gar nicht her, aber meine Freundin will das. Weil alle ihre Freundinnen immer nach Sylt fahren. Und sie will mitreden.«
Die Schlange bewegte sich plötzlich einen Meter nach vorn und ersparte Ernst die Antwort. Der Mann tippte jetzt der vor ihm stehenden Frau auf die Schulter. »Können Sie mir sagen, warum Sie hier sind?«
Sie drehte sich um und lächelte. »Ich möchte Tickets für eine Wattführung kaufen. Warum?«
»Weil ich nur ein Gastgeberverzeichnis holen soll. Könnten Sie mich vorlassen?«
»Warum?«
»Weil ich weitermuss. Und es dauert hier ja alles so ewig.«
»Tja«, das Lächeln war verschwunden. »Sind Sie kein Urlauber?«
»Doch.«
»Ja, also«, sie drehte sich wieder zurück. »Dann haben Sie ja Zeit.«
Ernst grinste. Der Mann wandte sich zu ihm um und guckte finster. »Was?«
»Nichts. Schönes Wetter heute.«
Seine Laune hob sich, er zog die Jacke aus und bemerkte, dass sich die Schlange jetzt zügiger nach vorn bewegte. Vermutlich hatte Hilke Unterstützung von Silke Brune bekommen. Sie war zwar langsam und nicht so gewissenhaft wie Hilke, aber Karten für Wattwanderungen konnte sie auch verkaufen. Und sie mussten jetzt mal Tempo machen, in einer halben Stunde war Mittagspause, die wurde immer sehr streng eingehalten.
Nach zehn Minuten war er endlich im Gebäude, vor ihm waren noch drei Leute, der schlecht gelaunte Mann, die Frau, die ihn nicht vorlassen wollte und noch eine kleine ältere Frau in einer dunkelblauen Steppweste, vermutlich auch Touristin. Hinter Ernst hatte sich noch ein Paar angestellt, das geduldig wartete. Aber von hier aus hatte er wenigstens einen Blick auf Hilke an ihrem Schreibtisch. Sie hatte etwas mit ihren Haaren gemacht, es waren plötzlich so helle Strähnen dazwischen. Und sie trug ein Kleid. Ein hübsches Kleid, befand Ernst, auch wenn der Ausschnitt vielleicht etwas zu tief war. Das Kleid war hellblau mit weißen Blümchen, der Lippenstift richtig rot. Ernst schluckte und dachte plötzlich wieder an Wilma S. In dem Artikel hatte es kein Foto von ihr gegeben, das hatte sie wohl nicht gewollt. Es wäre ja unvorstellbar peinlich, wenn Nachbarn oder Arbeitskollegen sie erkennen würden. Wenn alle wüssten, dass die einsame Wilma S. auf einen Betrüger im Internet hereingefallen war, dass sie ihm alles geglaubt hatte und vor lauter Liebe so dumm gewesen war, ihm ihr ganzes Geld zu schicken. Im Bericht hatte gestanden, dass sie niemandem etwas davon erzählt hätte. Deshalb habe sie auch niemand gewarnt. Sie sei doch völlig ahnungslos gewesen und habe niemals vermutet, dass die Fotos, die Geschichten und die Liebesbezeugungen eine einzige Lüge und ein schändlicher Betrug gewesen seien.
Ernst sah an dem immer nervöser werdenden Mann vorbei und betrachtete Hilke, die gerade die nächste Dame freundlich ansah. Hilke war ebenfalls ahnungslos, da war Ernst sich sicher. Sie war wie Wilma S., freundlich, arglos und alleinlebend. Auch Hilke schwieg und sagte keinem ihrer Freunde oder Bekannten, warum sie plötzlich Lippenstift und Kleider mit Ausschnitt trug. Aber im Unterschied zu Wilma S. konnte Hilke P. sich auf Ernst verlassen, er würde nämlich keineswegs zusehen, wie sie in ihr Verderben rannte.
Die Dame, die jetzt vor Hilke stand, wollte wissen, wo sie sich E-Bikes leihen konnte und welche die schönsten Touren seien. Sie käme ja aus dem Weserbergland und würde zu Hause viel E-Bike fahren, habe aber ihr eigenes nicht mit, weil sie ja Bahnfahrerin sei, gerade wegen des Klimas und weil …
»Das will doch niemand wissen und all diese Fragen hätten Sie sich vorher auch im Internet selbst beantworten können. Jetzt stehlen Sie hier allen die Zeit.« Der Mann vor Ernst verlor jetzt endgültig die Nerven und blaffte die Dame an, die sich sofort erschrocken umdrehte. »Aber ich habe doch nur …«
Er spürte seinen Blutdruck ansteigen und machte einen Schritt nach vorn, während der Mann sich aufregte. »Ich brauche nur so ein blödes Vermieterverzeichnis und stehe schon seit Stunden hier rum. Und Sie fangen an, vom Weserbergland zu quatschen.«
»Internet!«, Ernst packte ihn an der Schulter. »Ihr redet alle nur vom Internet. Und Sie stehen auch nicht seit Stunden hier rum, sondern höchstens zwanzig Minuten. Jetzt reißen Sie sich mal zusammen. Und im Übrigen liegen die Gastgeberverzeichnisse im Eingangsbereich im Regal, Sie sind dran vorbeigelaufen. Die kann man sich einfach da wegnehmen.«
Der Mann fuhr wütend herum. »Und wieso haben Sie mir das nicht früher gesagt?«
»Sie haben mich nicht gefragt.« Ernst sah ihn achselzuckend an und zeigte hinter sich. »Da vorne links. Schönen Urlaub noch.«
Das Paar, das hinter Ernst stand, lachte leise, was den Mann noch wütender machte. Beim Rausgehen riss er ein Verzeichnis aus dem Regal und ließ die Tür hinter sich zuknallen.
»Er hat wohl Pech mit seiner Wohnung«, versuchte Ernst die Stimmung zu lockern und bekam sofort ein dankbares Lächeln von Hilke, das ihn sehr zufrieden machte.
Auch die kleine Frau lächelte ihn an, als sie mit dem Prospekt des Verleihers und einer Karte von Sylt an ihm vorbeihuschte. Er lächelte zurück und trat als Retter des Tages an Hilkes Tisch. »Danke«, sagte sie leise. »Das war vielleicht ein Idiot.«
Sie redete normalerweise nie schlecht über andere Menschen, Ernst sah sie erstaunt an. Waren das schon die ersten Warnzeichen? War sie schon in einer Situation, die sie unter Druck setzte? Er merkte selbst, dass er sie immer noch anstarrte, als sie ihn fragte: »Was möchtest du denn?«
Er wusste zwar, was er wollte, er hatte sich nur nicht überlegt, wie er das anstellen sollte. »Ich …«, begann er, trat dann aber zur Seite und gab dem Paar hinter ihm ein Zeichen. »Das dauert einen Moment, aber gehen Sie doch vor, ich bin Rentner, ich habe Zeit.«
»Wie nett«, sagte die Frau und zog sofort ein Portemonnaie aus der Tasche. »Wir möchten eine Besucherkarte für unsere Tochter abholen.«
Ernst beobachtete Hilke, die gewohnt souverän ihren Job machte. Sie wirkte, bis auf die hellen Strähnen, das Kleid und den Lippenstift, nicht viel anders als sonst. Aber zwischendurch vibrierte plötzlich ihr Handy und sie ließ sich tatsächlich davon ablenken. Sie sah noch während ihres Kundengesprächs auf die Meldung, die eingegangen war. Ernst wurde ganz übel. Sie steckte schon mittendrin. Vielleicht war gerade schon die erste Bitte um Geld eingetroffen. Er musste sorgsam vorgehen, das hatte er in dem Artikel über Wilma S. gelernt. Er durfte Hilke keine Vorwürfe machen, keine klugen Ratschläge erteilen, er musste sanftmütig und verständnisvoll reagieren, sie musste ihm vertrauen.
Jetzt wischte sie auch noch über das Display, um die eingehende Mitteilung zu lesen. Und lächelte, während die Frau noch dabei war, ihr Geld und die Besucherkarte wegzustecken. Hilke war mit den Gedanken schon woanders.
Ernst hustete laut, bis Hilke hochsah.
»So, Ernst«, sagte sie und verstaute ihr Handy in ihrer Handtasche, die unter dem Schreibtisch stand. »Was wolltest du denn jetzt? In fünf Minuten machen wir Mittagspause.«
»Vielen Dank und auf Wiedersehen«, die Frau mit den Tickets hatte alles verstaut und ging, gefolgt von ihrem Mann, nach draußen.
»Ja, Wiedersehen«, antwortete Hilke noch schnell, dann wandte sie sich wieder an Ernst. »Und?«
Hinter ihm ging die Tür auf und eine Frau mit Putzeimer und einem Staubsauger tauchte auf. »Oh, hallo Frau Petersen, bin ich zu früh?«
»Hallo, nein, Frau Assmann, ich bin gleich weg.«
»Hilke«, Ernst fühlte sich jetzt unter Zeitdruck und wurde nervös. »Ich wollte wissen, ob die Plakate für den Frühlingsbasar schon fertig sind.«
»Die Plakate?« Hilke runzelte die Stirn. »Mit denen habe ich doch gar nichts zu tun.«
»Ja, ich weiß«, Ernst stützte sich so plötzlich mit den Händen auf den Tresen, dass Hilke zurückwich. »Hast du schon mal was von Romanze Skamming gehört?« Er hatte es so ausgesprochen, wie es geschrieben wurde. »Oder Lohwe Skamming?«
Hilke schüttelte verwirrt den Kopf.
»Frau Petersen, kann ich schon staubsaugen?«
»Ja, Frau Assmann«, Hilke hatte automatisch geantwortet, den Blick noch auf Ernst gerichtet. »Nein. Was hat das mit den Plakaten zu tun?«
»Nichts«, Ernst musste sehr laut antworten, weil hinter ihm der Staubsauger angestellt wurde. »Nichts, gar nichts. Ist dir klar, dass jeder im Internet sein Profil mithilfe von falschen Fotos, Häusern, Autos, Landschaften und ausgedachten Geschichten total verfälschen kann und zwar so, dass niemand es merkt? Bist du dir sicher, dass du die Guten von den Schlechten unterscheiden kannst?«
Hilke starrte ihn fragend und schweigend an. Frau Assmann saugte jetzt an ihnen vorbei und machte einen Höllenlärm, während Ernst schrie: »Kennst du die Geschichte von Wilma S.? Die hat sich in Alexander verliebt, aber den gab es nicht, der war in Wirklichkeit ein Unterwäschemodell.«
»Ernst?« Hilkes Gesichtsausdruck wechselte von fragend zu besorgt. »Ist alles in Ordnung?«
»Romanze Skamming«, brüllte er, als plötzlich der Staubsauger ausgestellt wurde. Frau Assmann und Hilke standen stumm nebeneinander und sahen ihn entgeistert an. Frau Assmann fand als Erste die Worte wieder. »Ich müsste jetzt unter dem Tisch saugen.«
»Ernst, ich verstehe kein Wort«, sagte Hilke schnell und zog ihre Tasche unter dem Schreibtisch vor. »Und ich muss jetzt los. Ich bin zum Mittagessen verabredet. Wir reden mal in Ruhe, ja? Ich kenne übrigens keine Vera S. Und wegen der Plakate musst du Minna fragen, die kümmert sich darum.«
»Wilma«, entgegnete Ernst, »Wilma S. Nicht Vera.«
»Oder so. Tschüss, Ernst. Frau Assmann, Sie schließen ab, ja?«
Ernst stand noch auf der Stelle und sah ihr nach. Sie wollte anscheinend nicht darüber reden, er hatte es befürchtet. Plan A war nicht aufgegangen. Das hatte sich Martina zu leicht vorgestellt. Hilke wollte nichts sagen und wich ihm sogar aus. Ein Räuspern neben ihm riss ihn aus seinen Gedanken.
»Entschuldigung, ich müsste da jetzt saugen.«
»Ach so, ja klar, Verzeihung, ich bin schon weg.«
»Romance Scamming«, sagte Frau Assmann plötzlich. »Es heißt Romance Scamming oder Love Scamming. Von Scam, das heißt Betrug.«
»Ach«, elektrisiert sah Ernst sie an. »Haben Sie etwa Erfahrungen damit gemacht?«
Frau Assmann lachte. »Nein, ich bin seit vierzig Jahren mit Kai-Uwe verheiratet. Aber ich habe neulich einen Film gesehen. Da kam es vor.«
»Und wie ging der Film aus?«
»Die Frau war hinterher tot. Aber der Kommissar hat den Mörder gefunden. So, und ich muss jetzt hier weitermachen. Einen schönen Tag noch.«
Sie stellte den Staubsauger wieder an, während Ernst sich wie betäubt zum Ausgang bewegte. Tot. Sein Gefühl war richtig gewesen. Das war eine schlimme Sache, die hier passierte. Von wegen Frühlingsgefühle und Liebeshormone, es ging hier um etwas ganz anderes.
Er schüttelte den Gedanken an die Tote ab und tastete in der Hemdtasche nach dem gelben Zettel. Er konnte nicht weitermachen, als wäre nichts. Er musste jetzt Plan B zünden. Martina stand hinter ihm, das hatte er im Gefühl. Auch wenn er letztlich selbst tätig werden musste. Aber das war er den alleinstehenden, turnenden Damen der Insel und ganz besonders Hilke schuldig. Hier rannte niemand in eine Katastrophe, hier nicht.