11.

»Sie können mich hier rauslassen«, Hella tippte dem Taxifahrer auf die Schulter, bevor er das Café an der Keitumer Wattseite erreicht hatte. »Da vorn bitte, an der Ecke.«

Die letzten Meter würde sie zu Fuß gehen, nicht dass die Leute dachten, die alte Frau müsste bis vor die Tür gefahren werden. Weil sie nicht mehr mobil sei.

Das Taxi hielt, Hella bezahlte, gab in ihrer Euphorie etwas zu viel Trinkgeld, was sie aber erst bemerkte, als der junge Mann ausstieg, um ihr schwungvoll die Tür aufzuhalten. Sie blieb stehen, bis das Taxi weggefahren war, dann atmete sie einmal tief durch und machte sich auf, das erste Internet-Date ihres Lebens in Angriff zu nehmen.

 

Obwohl Hella den gestrigen und heutigen Tag in prickelnder Vorfreude verbracht, stundenlange Anproben, Maniküre, Pediküre, Gesichtsmasken gemacht und Parfümentscheidungen getroffen hatte, waren ihre Lippen versiegelt gewesen. Nicht mal Minna gegenüber hatte sie nur eine Silbe verlauten lassen, obwohl die unter einem Vorwand vorbeigekommen war, nur um ihr zu erzählen, dass Ernst sich Sorgen um Hilke machte. Das wusste Hella ja schon und fand es nach wie vor übertrieben.

»Ernst macht sich keine Sorgen«, hatte Hella gesagt. »Es zwiebelt ihn nur, dass er nicht weiß, warum Hilke plötzlich Lippenstift und bunte Blusen trägt. Und er ahnt, dass sie sich verliebt hat, aber ihm nicht erzählt, in wen. Er wird es schon rauskriegen.«

»Ich habe da was gesehen«, war Minnas prompte Antwort gewesen. »Nämlich Hilke mit einem Begleiter. Ich konnte ihn nur nicht so schnell erkennen, sie fuhren zusammen in einem weißen SUV mit Hamburger Kennzeichen. Aber wo hat sie ihn denn kennengelernt? Oder meinst du, dass sie auch bei dieser komischen Dating-Dings mitmacht? Elfi hat mir davon erzählt. Das ist doch auch wieder so ein moderner Quatsch, oder?«

An dieser Stelle hatte sich Hellas Schauspieltalent wieder einmal ausgezahlt. Ohne die kleinste Regung zu zeigen, hatte sie Minna angesehen und gemeint: »Ich kenne mich damit nicht aus. Keine Ahnung.«

Minna hatte nicht nachgefragt, nur noch angefügt, dass sie nicht hoffe, dass Hilke diesem Mann nach Hamburg folgen werde, sie werde in der Gemeindearbeit sonst sehr fehlen. Und sie sei nur schwer zu ersetzen. Hella hatte zustimmend genickt. Falls Hilke wirklich mitmachte, hatte sie anscheinend schon Glück gehabt. Hella nahm es als Verheißung, was ihre Aufregung verstärkte. Sie würde Minna erst einweihen, wenn das ganze Projekt erfolgreich war. Und dann konnte sie es auch Ernst und Gudrun erzählen. Aber vorerst musste es erst mal ihre geheime Mission bleiben.

 

Jetzt stand sie vor dem Café, pünktlich, in einem hellgrünen Kleid mit weißen Punkten, ergänzt durch eine Korallenkette, passende Armreifen und Ohrringe. Der Lippenstift passte zur Koralle, die Handtasche zu den Schuhen, die Haare waren lässig-romantisch hochgesteckt, fischgräte61 würde Augen machen. Hella zog sich noch routiniert die Lippen nach, hob das Kinn und betrat vorfreudig das Café.

Das Kleid schwang um ihre Knie, als sie den Raum durchschritt, sie meinte den einen oder anderen bewundernden Blick zu spüren. Allerdings saßen im Innenraum nur Paare oder Gruppen an den Tischen, kein alleinstehender Mann, der als fischgräte61 infrage kam. Alle Plätze waren besetzt, kurz entschlossen ging sie auf die Terrasse, auch hier saß niemand allein, dafür waren zwei Tische frei. Die Frühlingssonne ließ es zu, draußen Platz zu nehmen, außerdem war ihr vor lauter Aufregung ohnehin sehr warm. Ein Blick auf die Uhr sagte Hella, dass sie tatsächlich sechs Minuten zu früh war, was vielleicht der Aufregung geschuldet war. Dann würde sie ihm eben entgegensehen, das war vielleicht sogar ein Vorteil.

Sie nahm Platz und lehnte sich entspannt zurück. Die zaghaften Sonnenstrahlen tauchten den Garten in ein wunderbares Licht, der gelbe Strandginster blühte am Weg, der an der Terrasse vorbeiführte, der Duft der Sylter Rosenhecke neben ihr war jetzt schon betörend.

Hella lächelte.

»Moin, was kann ich Ihnen denn bringen?« Die Bedienung stand plötzlich vor ihr.

»Ich erwarte noch jemanden«, antwortete Hella zögernd. »Ich habe hier eine Verabredung. Aber vielleicht bringen Sie mir schon mal einen Cappuccino.«

»Gern.« Die junge Frau verschwand und Hella sah auf die Uhr. 16 .01  Uhr. Er müsste jeden Moment um die Ecke kommen. Erwartungsvoll sah sie zum Eingang, es tat sich nichts, also wandte sie ihren Blick wieder Richtung Meer. Vielmehr aufs Watt, es war Niedrigwasser, vom Meer war nichts zu sehen, bis auf ein Glitzern des Wassers in den Prielen. Drei Pferde trabten mit ihren Reitern am Watt entlang, ein schönes Bild, fand Hella und stellte sich einen Ausritt mit fischgräte61 vor. Sie im weißen Kleid mit Strohhut, er dicht hinter ihr im weißen, aufgeknöpften Hemd, die untergehende Sonne als satter roter Ball vor ihnen und sie auf dem Weg hinein. Wie im Film. Hella seufzte hingerissen und sah wieder auf die Uhr. 16 .08  Uhr.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung am Eingang wahr, es war aber nur die Bedienung, die ihren Cappuccino brachte. »Bitte schön«, sie stellte die Tasse vor Hella ab, deren Blick auf das Herz aus Kakaopulver fiel. Das war bestimmt ein gutes Omen.

»Danke«, sagte sie und verzichtete auf Zucker, um das Herz nicht zu zerstören. Es wäre wirklich zu schön, wenn fischgräte61 sich als ein so netter Mann entpuppte, wie Hella ihn sich vorstellte. Es gab immer mal die eine oder andere Veranstaltung auf der Insel, zu der sie gern gegangen wäre, wenn sie denn einen Begleiter gehabt hätte. Aber leider waren die potenziellen Kandidaten in ihrem Freundeskreis dünn gesät. Die meisten ihrer Freunde hatten eine Ehefrau, die auch gern zu Veranstaltungen ging, und Hella wollte nicht das dritte Rad am Wagen sein. Der Einzige, der sie manchmal begleitete, war Siggi, ihr alter Bekannter aus Kampen, der vor vielen Jahren mal als Kellner für Hugo und sie gearbeitet hatte. Er war ein netter Kerl, nur leider so furchtbar schweigsam. Er hatte so gar keine Ahnung von gepflegten Tischgesprächen oder angeregtem Small Talk. Deshalb konnte Hella ihn nur ins Kino oder manchmal zu einem Konzert mitnehmen. Wobei er meistens einschlief, wenn es im Saal dunkel wurde. Aber wenigstens wurde Hella beim Kommen und Gehen begleitet.

Ihre Aufmerksamkeit wurde auf eine eintreffende Frau ihres Alters gelenkt. Sie wirkte gepflegt, zwar nicht so elegant wie Hella, aber ganz gut angezogen. Sie blieb auf der Terrasse stehen und sah sich um, bevor sie auf die Uhr schaute. Anscheinend war sie auch zu früh zu ihrer Verabredung gekommen, nach einem abschließenden Blick nahm sie am letzten freien Tisch Platz und griff zur Getränkekarte. Auch Hella kontrollierte die Uhrzeit: 16 .21  Uhr. Es wurde langsam Zeit, dass er kam. Unpünktlich war etwas, das Hella hasste.

Die andere Frau legte jetzt die Karte weg und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie wischte ein paarmal auf dem Display hin und her, bevor sie das Gerät mit zusammengepressten Lippen wieder einsteckte. Plötzlich schoss Hella der Gedanke durch den Kopf, dass auch diese Frau hier auf ein erstes Date warten könnte. Und auf ihr Handy gesehen hatte, weil sie sich dort eine Nachricht erhoffte. Sofort fischte auch Hella ihr Telefon aus der Tasche und klickte die App an. Sie durchsuchte alles, hatte aber keine neue Nachricht. Sicherheitshalber ließ sie das Handy auf dem Tisch liegen, falls fischgräte61 sich für seine Verspätung entschuldigen sollte.

Die Frau am Nebentisch bestellte jetzt ein Wasser und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie auf den Eingang starrte. Sie wirkte sehr ungeduldig und Hella überlegte, auf wen sie wohl wartete. Und ob es tatsächlich ihr erstes Date oder schon das dritte oder vierte war. Vielleicht war man dann auch nicht mehr so aufgeregt, sondern eher ungeduldig. Weil es mit der Liebe immer noch nicht geklappt hatte. Obwohl man sich schon mehrere Male aufgerüscht, vorbereitet und gefreut, aber immer noch nicht den Richtigen getroffen hatte.

Das Herz aus Kakaopulver war eingesackt, Hella rührte jetzt doch Zucker in den inzwischen erkalteten Cappuccino und trank ihn aus. Mittlerweile war es schon 16 .31  Uhr und tatsächlich ziemlich unverschämt, eine Dame so lange warten zu lassen. Und das, obwohl der erste Eindruck bei solchen Treffen immer der entscheidende war. Als die Bedienung vorbeikam, hob Hella die Hand und winkte sie zu sich. »Würden Sie mir vielleicht noch eine Tasse Kaffee und ein Gläschen Eierlikör bringen?«

Falls er jetzt kam, konnte er schon mal sehen, wohin das Zuspätkommen geführt hatte. Man ließ Hella Fröhlich nicht warten. Zumindest nicht ohne einen wirklich guten Grund.

Genau in dem Augenblick betrat ein Mann die Terrasse: volles graues Haar, schlank, modische Hornbrille, eleganter Mantel, in den besten Jahren, der sich suchend umsah. Hella war drauf und dran die Bestellung wieder zurückzunehmen, als er die Frau am Nebentisch entdeckte und sofort lächelnd auf sie zuging. Sie sah nur hoch und sagte knapp: »Kommst du auch noch mal? Ich hasse diese Warterei, es ist immer dasselbe. Echt, Rüdiger, es geht mir so auf die Nerven.«

Rüdiger setzte sich zerknirscht, während die Bedienung noch vor Hella stand und fragte: »Eine Tasse Kaffee, ein Glas Eierlikör?«

»Ach nein«, Hella sah sie an. »Lassen Sie mal den Kaffee weg. Nur Eierlikör. Aber doppelt.«

Während Rüdiger und die genervte Frau in beleidigtem Schweigen Kuchen aßen, probierte Hella schon den Eierlikör und war eigentlich ganz dankbar, dass sie so etwas nicht in ihrem Leben hatte. Keine Vorwürfe, kein Beleidigtsein, kein …

»Hella?« Eine laute Stimme riss sie plötzlich aus ihren Gedanken. Sie hob den Kopf und sah Ernst auf sich zukommen, der mit entsetzter Miene auf ihr Glas deutete. »Was machst du hier? Und kannst du mir sagen, warum du das da trinkst?«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sie deutete auf den Stuhl gegenüber. »Setz dich doch. Und wieso bist du hier?«

»Ich war beim Zahnarzt«, Ernst deutete vage in eine Richtung. »Der ist sozusagen nebenan. Und danach wollte ich ein Stück Kuchen kaufen. Und da habe ich dich hier sitzen gesehen. Bist du allein?«

»Das siehst du doch«, Hella sah ihn unbeteiligt an und achtete nicht auf die Bedienung, die gerade wieder vorbeikam und stehen blieb. »Ach, da ist Ihre Verabredung ja doch noch. Was darf es denn für Sie sein?«

Ernst sah Hella lange an, die zuckte mit den Achseln. »Was denn? Was möchtest du trinken?«

Er wandte den Blick nur langsam ab und sah die Bedienung an. »Ich nehme eine kleine Flasche Wasser, bitte.«

»Kommt sofort.«

Als sie außer Hörweite war, beugte Ernst sich über den Tisch. »Hella, ich frage dich jetzt ganz direkt: Machst du auch bei diesem Zirkus mit?«

»Was meinst du?«, fragte sie so harmlos wie möglich zurück. »Was für ein Zirkus?«

»Du warst hier verabredet«, stellte Ernst fest. »Du trinkst um diese Zeit Eierlikör. Du bist allein an einem Ort, an dem du sonst nie bist. Also: Machst du etwa auch bei Liebe oder Eierlikör mit?«

Hella Fröhlich wusste, wann das Spiel vorbei war und sich die schauspielerische Anstrengung nicht mehr lohnte. Sie ließ die Schultern sinken und stieß einen langen Seufzer aus. »Ja«, gab sie unumwunden zu. »Und heute war mein erstes Date. Mit fischgräte61 . Aber er ist nicht gekommen. Ärgerlich.«

Fassungslos schüttelte Ernst den Kopf. »Das glaube ich nicht. Dass du da mitmachst. Weißt du eigentlich, welche kriminellen Möglichkeiten sich bei solchen Portalen auftun? Und dieser Herr Fischgräte? Was ist das überhaupt für ein Name? Weißt du denn irgendetwas über ihn?«

»Das sind ausgedachte Namen«, Hella hob die Schultern. »Die sucht man sich erst mal selbst aus. Ich heiße butterblume02 , weil ich am 2 . Mai Geburtstag habe. Und fischgräte61 ist kulturell interessiert und tanzt Tango.«

»Großer Gott«, Ernst wirkte erschüttert. »Und er hat am 61 . Geburtstag? Oder ist das sein Jahrgang und er fünfzehn Jahre jünger als du? Warum du da Butterblume heißt, muss ich gar nicht wissen. Wieso machst du bei so was mit?«

Das mit dem Jahrgang war eine gute Erklärung, darauf wäre Hella gar nicht gekommen. Dann war er vielleicht wirklich ein bisschen jung. Eventuell doch nicht so schlimm, dass er nicht gekommen war.

Ernst wartete immer noch auf ihre Antwort. Sie sah ihn gelassen an. »Damit mal Schwung ins Leben kommt. Ich finde das ganz spannend, mal ein paar neue Leute kennenzulernen. Gerade in unserem Alter. Wir sind doch alle so langweilig geworden.«

»Ich bitte dich, Hella«, Ernst runzelte die Stirn. »Du willst keine Leute kennenlernen, sondern Männer. Das machen nämlich auch einige von Gudruns Turnfrauen, ich habe mich bereits informiert. Auch über die Gefahren, die das Ganze birgt. Sag mal«, er machte eine kleine Pause, »wenn du da schon Mitglied bist, dann kannst du ja auch rausfinden, wer da noch so mitmacht, oder?«

»Nur die Männer«, antwortete sie. »Wer von den Frauen mitmacht, sehe ich ja nicht. Aber wenn du dich auch anmelden würdest, könnten wir beide ein Date ausmachen. Was hältst du davon?«

»Nichts«, Ernst redete nicht weiter, weil die Bedienung gerade sein Wasser vor ihm abstellte. »Danke«, sagte er und sah ihr nach, wie sie mit leerem Tablett und langen Schritten über die Terrasse lief. Er wandte sich wieder Hella zu. »Aber kannst du rausfinden, ob Hilke da auch mitmacht?«

»Warum?«

»Weil das für unerfahrene, zurückhaltende und eher schüchterne Frauen gefährlich werden kann, ich sage nur Wilma S., das kann ich dir mal in Ruhe erzählen, aber ich habe bereits recherchiert. Ich mache mir Sorgen um Hilke, ich möchte ihr die unangenehmen Erfahrungen gern ersparen. Ich muss sie beschützen.«

»Mich nicht?«

Ernst sah sie an. »Dir passiert da nichts, du bist zu ausgebufft.«

»Wenn du rausfinden willst, welche Frauen mitmachen, musst du dich selbst anmelden. Anders geht das nicht.«

Ernst kniff die Augen zusammen und sah sie scharf an. »Falls du weitermachst, kannst du mir gern deine Erfahrungen mitteilen. Aber nur damit das klar ist: Ich habe dich gewarnt.«

»Okay«, Hella nickte und tätschelte seine Hand. »Du bist dagegen, willst aber alles wissen. Ich habe es verstanden. Dann kannst du jetzt der Bedienung zuwinken und noch eine Runde Eierlikör bestellen. Wir wollen ja keine Liebe. Und ansonsten wäre ich dankbar, wenn du nicht in der Gegend rumposaunst, dass ich butterblume02 bin. Das ist nämlich privat.«