12.

Am Westerländer Bahnhof blieb Elvira so lange winkend auf dem Bahnsteig stehen, bis der Zug losfuhr. Erst dann drehte sie sich um und ging langsam den Bahnsteig entlang bis zum Ausgang. Sie war ein bisschen enttäuscht, eigentlich hatte sie gedacht, dass ihre Tochter wenigstens bis zum Wochenende bleiben würde. Aber so war Inken gerade mal vier Tage hier gewesen, sie hatten gar nicht viel zusammen unternehmen können. Es war nicht zu ändern, dafür hatte sich die Sprechstundenhilfe ihres Hausarztes über zwei Kinokarten gefreut, die Elvira ihr gestern Nachmittag geschenkt hatte. Sie ging nicht gern allein ins Kino und musste sich ohnehin dringend um die Beete im Garten kümmern, der Frühling kam mit aller Macht und auf den Rosen lagen immer noch die Tannenzweige.

Ihr Auto stand auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof in Westerland, sie stutzte, als sie sah, wie voll es plötzlich geworden war. Mehrere Autos kreisten auf der Suche nach einem Parkplatz, ein Fahrer hupte lang anhaltend, weil ein anderer zu langsam aus der Lücke fuhr. Als würde dieses blöde Hupen die Sache beschleunigen, Elvira schüttelte den Kopf und schlängelte sich durch die Reihe der wartenden Autos. Bevor sie einstieg, gab sie einer freundlich wirkenden Frau das Zeichen, dass sie jetzt wegfuhr. Die Fahrerin hob dankbar lächelnd die Hand und hielt in gebührendem Abstand, woraufhin der Wagen hinter ihr sofort wilde Lichtzeichen gab.

»Noch so ein Kamel«, sagte Elvira laut, während sie den Schlüssel drehte und den Rückwärtsgang einlegte. Sie fuhr aus der Lücke, hielt an, schaltete in den ersten Gang und rollte langsam zur Ausfahrt. Die Ampel sprang auf Grün, Elvira sah kurz nach rechts, ließ sanft die Kupplung kommen und dann ging alles sehr schnell. Ein durchdringendes Hupen, ein weißer, großer Wagen sehr dicht hinter, dann plötzlich neben ihr, das Quietschen der Reifen, wieder ein Hupen, sie wich reflexartig aus, hörte ein knirschendes, metallenes Geräusch, einen Schrei, trat erschrocken auf die Bremse und stand plötzlich mit abgewürgtem Motor auf dem Gehweg, den entsetzten Blick auf den sich drehenden Reifen eines umgestürzten Fahrrads gerichtet, während der weiße große Wagen mit affenartiger Geschwindigkeit einfach weiterfuhr. Sie blieb einen Moment wie erstarrt sitzen, bevor sie registrierte, was gerade passiert war. Sie hatte einen Radfahrer über den Haufen gefahren. Der sich gerade mühsam wieder aufrichtete und sich dabei mit einer Hand auf der Motorhaube abstützte.

»Um Gottes willen«, in Sekundenbruchteilen war sie aus dem Auto gesprungen und neben ihm. »Es tut mir so leid, ich wurde irgendwie abgedrängt und … Geht es Ihnen gut? Sind Sie verletzt?« Sie berührte ihn leicht am Arm, er zuckte zusammen, wandte sich ihr aber zu. Er hatte sehr blaue Augen, die sie trotz allem freundlich ansahen. »Ich glaube nicht«, er lächelte angestrengt. »Es ging alles ein bisschen schnell. Was ist denn mit meinem Fahrrad?«

Ein vorbeikommender Mann hatte das Gefährt gerade hochgehoben und schob es auf ihn zu. »Kann ich helfen? Ich habe alles gesehen, ich war Zeuge. Soll ich die Polizei rufen? Einen Krankenwagen?«

Inzwischen waren mehrere Passanten stehen geblieben. Sie hielten noch etwas Abstand, der verunglückte Mann hob jetzt die Hand und sagte laut: »Nein, bitte keine Polizei und keinen Krankenwagen. Es ist alles in Ordnung, Sie können jetzt weitergehen.«

»Ja, aber es wäre doch besser …«, der Passant mit dem Fahrrad sah sich unentschlossen um, dann lehnte er das Rad an eine Straßenlaterne. »Das Rad sieht in Ordnung aus. Und der Kamikaze-Fahrer hatte eine Hamburger Nummer. Die letzte Ziffer war eine 3 , aber den Rest habe ich nicht erkannt. Aber der ist ganz schön flott am Poller entlanggeratscht, der muss eine ordentliche Schramme haben. Also falls Sie es sich doch noch anders überlegen. Ansonsten …«

»Danke«, der Mann mit den freundlichen Augen beugte sich zu seinem Fahrrad und strich mit der Hand über die Reifen und den Rahmen. »Vielen Dank, aber es ist alles in Ordnung. Wiedersehen.«

»Gut«, der Zeuge hob die Hand. »Dann gehe ich mal, auf Wiedersehen.«

Elvira hatte die ganze Zeit schweigend danebengestanden und ihr Opfer so unauffällig wie möglich beobachtet. Er schien wirklich keine Verletzungen zu haben, auch wenn er ein bisschen humpelte. Aber sie sah kein Blut, keine Löcher in der Kleidung und er machte auch keinen benommenen Eindruck. Ganz im Gegenteil. Er hatte eine feste Stimme und war überhaupt ausgesprochen sympathisch, etwa in ihrem Alter, groß und sportlich.

Der Kreis der Umstehenden löste sich auf, auch der Zeuge ging weiter, nur sie beide und das Fahrrad blieben übrig. Elvira ging einen Schritt auf ihn zu und sagte: »Aber Sie humpeln doch. Haben Sie Schmerzen im Bein? Oder tut Ihnen etwas anderes weh?«

Er trat prüfend auf und verzog leicht das Gesicht. »Ich bin blöde aufs Knie gefallen. Aber nicht so schlimm, ich mache mir nachher kalte Umschläge, dann geht es schon. Sie können gern weiterfahren, mein Rad ist auch in Ordnung, dann fahre ich jetzt nach Hause.«

»Oh nein, das kann ich nicht zulassen«, entschlossen legte sie die Hand auf den Lenker. »Das Rad müsste in mein Auto passen und dann fahre ich Sie in die Klinik, die sollen sich das Knie ansehen. Nachher ist doch was kaputtgegangen, das kann ich nicht verantworten.«

»Das ist aber wirklich nicht nötig«, er rieb sich vorsichtig das Knie. »Ich will Ihnen auch keine Umstände …«

»Unsinn«, winkte Elvira ab. »Ich bestehe darauf. Kommen Sie.«

Er war etwas blass um die Nase, das erklärte wohl auch, warum er seinen Widerstand schnell aufgab. Mit vereinten Kräften schoben sie das Fahrrad in Elviras Kombi, danach hielt sie ihm die Tür auf und wartete, bis er bequem saß, bevor sie selbst einstieg. »Dann wollen wir mal«, sagte sie betont munter und spürte, dass er sie neugierig ansah. Sie startete den Motor und fuhr langsam vom Gehweg auf die Straße.

»Vielleicht hätten wir doch die Polizei rufen sollen«, überlegte sie dabei laut. »Und den Fahrer anzeigen müssen. Er hat mich schließlich abgedrängt und Schuld daran, dass ich Sie umgefahren habe. Und dann hat er auch noch Fahrerflucht begangen.«

»Es ist ja nichts passiert«, der Mann sah sie immer noch an. »Und ich habe auch keine Lust, stundenlang auf dem Revier Unfallberichte aufnehmen zu lassen, das dauert doch ewig. Das ist schon gut so, Sie müssen sich keine Gedanken mehr machen.«

Elvira fand, dass er eine angenehme Stimme hatte. Und überhaupt ein angenehmer Mann war. Sie wurde ein bisschen rot, wie konnten ihr nur solche Gedanken kommen, wenn sie ihn doch gerade regelrecht umgenietet hatte?

»Machen Sie Urlaub auf Sylt?«, fragte sie, um an etwas anderes zu denken.

»Nein«, seine Antwort klang erstaunt. »Ich lebe hier. In Tinnum.«

»Ach ja?«, sie lächelte. »Das ist ja schön.«

Innerlich schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Was war daran denn schön, was war das für eine blöde Antwort?

»Es sind zu viele Autos auf der Insel«, stellte er nach einer kurzen Pause fest. »Es ist ja kein Wunder, dass hier dauernd Unfälle passieren. Die Leute wollen nicht mehr laufen, am liebsten würden sie mit ihren großen Autos direkt zum Strand oder ins Restaurant fahren, sie sind alle ungeduldig und gehetzt, telefonieren auch noch beim Fahren, wie sollen sie denn dabei auch noch auf den Verkehr achten? Wohnen Sie denn auch hier?«

»Ja«, Elvira sah ihn kurz an. »Ich habe meine Tochter zum Bahnhof gefahren, sie wohnt in Hamburg und war ein paar Tage hier. Hat aber immer Gepäck mit, als würde sie wieder zu Hause einziehen. Schlimm.«

»So sind eben die jungen Mädchen.«

»Junges Mädchen?«, Elvira lachte auf. »Meine Tochter ist 42 . Haben Sie auch Kinder?«

»Nein. Nur einen Neffen. Jannis. Der reicht mir schon. Er studiert, jedenfalls behauptet er das, verbringt aber den ganzen Sommer auf der Insel und arbeitet als Rettungsschwimmer. Schon das dritte Jahr.«

»Als Rettungsschwimmer? Das ist toll, die sind doch sehr wichtig.«

»Natürlich«, er nickte. »Aber mein Neffe wohnt die ganze Zeit bei mir. Und redet ununterbrochen, sobald er das Haus betritt.«

Elvira hielt vor einer roten Ampel und warf einen kurzen Blick auf ihren Beifahrer. Er hatte seine Hände auf das Knie gelegt und sah nach vorn auf die Straße. Er strahlte eine große Ruhe aus, sie fand ihn immer sympathischer. »Haben Sie Schmerzen?«

»Nicht schlimm«, er blickte sie an und lächelte. »Ich halte auch das Krankenhaus für übertrieben.«

»Ich nicht«, widersprach Elvira. »Wir warten mal ab, was die Untersuchung ergibt, wenn es nicht weiter schlimm ist, kann ich Sie immer noch nach Hause bringen.«

Die Ampel sprang auf Grün, sie fuhr weiter, jetzt waren sie nur noch wenige Minuten von der Nordseeklinik entfernt. Elvira bemerkte, dass er sie wieder beobachtete. Fieberhaft überlegte sie, was sie jetzt sagen könnte, es sollte etwas Zugewandtes, Interessiertes sein. Sie würde sich so gern mit ihm unterhalten, aber sie war mittlerweile so ungeübt in Gesprächen mit Fremden, dass ihr überhaupt nichts Kluges einfiel. Er schien kein großes Interesse an einer Unterhaltung zu haben oder er sprach im Gegensatz zu seinem Neffen nicht gern. So fuhren sie schweigend das letzte Stück zur Klinik, bis Elvira ihr Auto auf den Parkplatz vor der Notaufnahme gelenkt hatte. »Da wären wir«, sagte sie langsam und löste den Gurt, um auszusteigen.

»Sie müssen aber wirklich nicht mit reinkommen«, er hatte die Autotür schon geöffnet, blieb aber noch sitzen. »Ich weiß ja nicht, ob ich gleich drankomme, das kann dauern. Ich fahre dann mit dem Rad nach Hause.«

»Aber wenn das Knie doch schlimmer verletzt ist und Sie gar nicht Fahrrad fahren können?« Elvira sah ihn besorgt an. »Ich kann doch warten. Das macht mir gar nichts aus.«

»Nein«, mit einem Lächeln schüttelte er den Kopf. »Wirklich nicht, vielen Dank für Ihre Mühe. Aber wenn etwas ist, dann rufe ich meinen Neffen an, der kann mich mit dem Wagen abholen. Das ist kein Problem, ich habe sogar ein Mobiltelefon dabei, das hat er mir geschenkt. Für Notfälle. Dann kommt das heute wenigstens mal zum Einsatz, ich wollte so ein Gerät ja gar nicht haben.«

Er blieb sitzen und klopfte seine Jacke tastend ab. »Wenn es denn den Sturz unbeschadet überstanden hat.« Jetzt zog er es aus der Innentasche und starrte drauf. »Wie geht das denn noch mal an?«

Elvira warf einen Blick auf das Gerät und hob die Schultern. »Die meisten haben so eine Gesichtserkennung. Oder man muss eine Nummer eingeben.«

Er hob den Kopf und runzelte die Stirn. »Es geht nicht an.«

Sie beugte sich vor. »Dann müssen Sie vielleicht eine Pin eingeben. Wissen Sie die denn?«

»Keine Ahnung«, er ließ das Handy zurück in seine Jacke gleiten und lächelte sie an. »Das mache ich später. Mein Neffe hat da alles Mögliche eingerichtet, mitsamt Foto von mir und so. Aber ich hatte noch keine Lust, es mir erklären zu lassen. Das kann ich ja mal tun. Also, dann bedanke ich mich erst mal für Ihre Mühe. Auf Wiedersehen. Und es war mir ein Vergnügen. Also, nicht der kleine Unfall, aber der Rest.«

Elvira bekam Herzklopfen. »Ja«, stammelte sie verlegen, »mir auch.« Sie wollte noch irgendetwas sagen, ihr fiel nur überhaupt nichts ein. Dafür streckte er ihr die Hand entgegen. »Dann auf Wiedersehen. Und bleiben Sie gern sitzen, das Rad bekomme ich auch allein raus. Alles Gute.«

Stumm ergriff sie seine Hand und schüttelte sie etwas zu lange. Sein Händedruck war fest und warm. »Also dann, einen schönen Tag noch.«

Bevor sie antworten konnte, war er ausgestiegen, hatte die Heckklappe geöffnet, das Fahrrad rausgehoben und schob es langsam auf den Eingang der Notaufnahme zu. Kurz bevor er ihn erreicht hatte, drehte er sich um und hob kurz die Hand. Elvira erwiderte langsam den Gruß, dann legte sie zögernd die Hand an den Zündschlüssel, drehte ihn aber erst um, als der Mann hinter der Tür verschwunden war.

Als sie langsam über die Ausfahrt der Nordseeklinik rollte, merkte sie, dass sie ganz aufgeregt war. So ein freundlicher Mann. Und diese Stimme. Nur sie hatte sich benommen wie ein verknallter Teenager und war nicht in der Lage gewesen, irgendetwas Kluges oder Witziges zu sagen. Inken hatte vielleicht recht mit dem Vorwurf, dass sie überhaupt nicht mehr unter Leute ging und deshalb immer ungeübter wurde. Deshalb hatte sie ja auch in den letzten Wochen und Monaten überlegt, das Haus zu verkaufen und die Insel in Richtung Flensburg zu verlassen, wo ihre Schwester lebte. Weil sie hier überhaupt niemanden mehr kannte, geschweige denn kennenlernte. Und dann fuhr sie plötzlich jemanden um, den sie wirklich gern näher kennenlernen würde.

Elvira schüttelte den Kopf. Er wohnte auf der Insel. In Tinnum. Sie hätten sich vielleicht auch auf eine andere Art treffen können. Auf eine romantischere Art. In diesem Moment durchfuhr sie ein Gedanke. Fast wäre sie ihrem Vordermann draufgeknallt, sie sah die roten Lichter erst im letzten Moment, trat auf die Bremse und würgte den Motor schon wieder ab. Sie hatte ihn überhaupt nicht nach seinem Namen gefragt. Sie hatte es vergessen. Sie wusste weder seinen Namen noch seine Adresse. Nur, dass er in Tinnum wohnte. Aber sie konnte ja schlecht an allen Türen klingeln, bis der Richtige öffnete.

Sie umklammerte das Lenkrad, bis ihre Knöchel weiß wurden. Wie doof konnte man sein?

Erst als der Wagen hinter ihr hupte, riss sie sich zusammen und startete erneut. Beim zweiten Versuch sprang das Auto wieder an und Elvira gab Gas. Wirklich, wie doof konnte man sein?