15.

Auf dem Platz vor dem Gemeindegebäude herrschte schon ein lebhaftes Treiben, als Ernst um die Ecke bog. Er blieb stehen und suchte nach bekannten Gesichtern unter all den Menschen, die hier von Stand zu Stand schlenderten und sich die Auslagen ansahen. Ob Blumen, Gartenartikel, Keramikgeschirr, Marmeladen oder Süßigkeiten, vor jedem Stand hatten sich Schlangen gebildet.

Ernst bahnte sich den Weg zum Kaffeestand, der in seinen Augen ohnehin der wichtigste auf diesem Frühlingsbasar war. Auch hier war eine Schlange, die er mit wichtigem Gesichtsausdruck elegant umrundete: »Entschuldigung, darf ich mal durch, verzeihen Sie, ich müsste da eben mal vorbei, danke, darf ich …« Bereitwillig traten die Leute zur Seite, man musste nur so tun, als sei man in wichtiger Funktion unterwegs und schon hatte man Vorfahrt. Jetzt hatte er den Tresen erreicht und stand vor der Damenriege um Minna Paulsen. Gudrun kehrte ihm den Rücken zu, weil sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte, Minna schnitt Tortenstücke und Hella kassierte gerade bei der Dame, die noch vor ihm stand. Sein Blick fiel auf die Frau, die neben Minna die Tortenstücke auf Teller schob, sie kam ihm bekannt vor, ihm fiel nur nicht ein, woher er sie kannte. Sie schien die Vertretung für Hilke zu sein, zumindest trug sie eine der Schürzen, die Minna damals für alle genäht hatte. Damit sie einheitlich aussahen. Aus dem Dorf kam sie nicht, das wüsste er. Aber gesehen hatte er sie schon mal.

Jetzt sah sie ihn direkt an und fragte: »Was darf es für Sie sein?«

»Ja, ich …«, Ernst sah sie neugierig an. »Ich wollte gern Kuchen. Aber wir kennen uns doch, oder? Wir haben uns schon mal gesehen.«

Plötzlich unsicher geworden, musterte sie ihn und runzelte die Stirn. »Ja, jetzt wo Sie es sagen, aber …«

»Ach, guck mal«, Hella hatte ihn plötzlich entdeckt und lächelte breit. »Elvira, das ist Gudruns Mann, Ernst. Ernst, das ist Elvira Sander aus Westerland, eine uralte Bekannte von mir, wir haben uns aber erst jetzt wiedergetroffen. Und sie ist gleich hier eingesprungen.«

»Jetzt weiß ich es«, Elvira beugte sich über den Tresen und gab ihm die Hand. »Sie haben neulich geholfen, als ich am Bahnhof den Fahrradfahrer umgefahren habe. Sie waren Zeuge und haben sich um das Rad gekümmert.«

»Genau«, er lächelte sie an. »Das stimmt. Sie sind ja danach mit ihm weggefahren. Wie geht es ihm denn? Hat er alles gut überstanden?«

»Das …«, mit einem Seitenblick auf Hella zögerte sie, bevor sie leise antwortete: »Ich weiß es leider nicht, ich habe vergessen, nach seinem Namen zu fragen, und kann mich deshalb nicht danach erkundigen. Kannten … Sie ihn vielleicht? Er ist ein Sylter.«

»Nein, ich kannte ihn nicht«, sagte Ernst bedauernd. »Ich habe mehr auf den Unfallverursacher und das Fahrrad geachtet. Tut mir leid. Aber er schien ja ganz munter zu sein. Und nicht verletzt.«

»Ja«, Elvira sah ihn enttäuscht an. »Das stimmt. Aber ich dachte …«

»Ach, Ernst«, Gudrun hatte ihn in dem Moment entdeckt. »Wenn du schon da bist, kannst du uns einen Gefallen tun. Wir brauchen die Dosenmilch aus dem großen Kühlschrank. Kannst du die schnell holen?«

»Ich? Jetzt?« Ernst sah sich um. »Aus welchem Kühlschrank denn?«

»Ich komme mit«, Hella kam um den Tresen herum. »Wir brauchen auch noch Servietten, du kannst tragen helfen. Kommst du?«

Zu seiner Verwunderung lächelte sie ihn immer noch übertrieben an, während sie ihn am Handgelenk mit sich zog, sodass er der netten Elvira nur noch kurz zuwinken konnte. Erst als sie außer Hörweite der Kuchendamen waren, sagte sie in verschwörerischem Ton: »jamesbond006 ? Sportlich, entschlossen, gerecht

»Was?«

»#gentlemanräuber,#sonneübersylt,#bierstattschampus «, Hella kicherte und stieß ihn in die Seite. »Ich hätte mich wegschmeißen können.«

»Worüber denn?«, Ernst blieb stehen und sah sie verwirrt an. »Ich verstehe kein Wort.«

Sie kicherte immer noch und zog ihn weiter. »Nur dein Bild sieht aus wie ein Fahndungsfoto. Nicht ganz unsympathisch, du hast da so was Zupackendes im Blick, was manche Frauen ja durchaus mögen. Aber du wirkst da zehn Jahre jünger. Das sind diese Filter, nicht wahr? Habe ich aber auch gemacht. Ich habe dich trotzdem sofort erkannt.«

»Hella«, Ernst befreite sich aus ihrem Klammergriff. Langsam ahnte er, um was es ging. »Kannst du mir das zeigen?«

»Komm mit«, sie deutete mit dem Kopf zum Eingang. »Sonst fliegst du doch noch auf.« Er folgte ihr ins Gebäude, hinter der Tür blieb sie stehen und zog ihr Handy aus der Jackentasche. Während sie über das Display wischte, grinste sie wieder. »Ich habe echt nicht gedacht, dass du da mitmachen könntest. Deine Neugier muss grenzenlos sein. Ich hoffe, dass du das nur machst, um Hilke zu retten. Ansonsten müsste ich mal ein ernstes Wort mit Gudrun reden, wir sind schließlich befreundet.« Inzwischen hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte, und hielt ihm triumphierend das Handy vor die Augen. »Bitte«, sagte sie und lachte schon wieder. »jamesbond006 . Lustig, wirklich lustig.«

Ohne den Blick abzuwenden, suchte er in seiner Jackentasche nach der Brille, setzte sie auf und nahm Hella das Gerät ab. »Aber …«, er betrachtete das Bild und die Schrift. »Wieso 006 ? Das muss doch 007 heißen.«

»Das ist doch der Witz«, antwortete Hella. »Du bist ja nicht das Original, sondern eine Nummer kleiner. War das denn nicht deine Idee?«

»Ich … nein … doch«, ganz langsam hob Ernst das Handy höher, damit er das Bild besser sehen konnte. Er war jamesbond006 . Es war das Foto, das Mats in Wenningstedt von ihm gemacht hatte, allerdings war es jetzt schwarz-weiß und gab ihm tatsächlich etwas sehr Verwegenes und Abenteuerlustiges. Nicht schlecht, dachte er, das war beileibe nicht schlecht. Was diese zusammengeschriebenen Wörter darunter genau zu bedeuten hatten, war ihm nicht auf Anhieb klar, aber bierstattschampus war eine korrekte Aussage.

»Das ist doch gut«, er sah Hella an. »Also Mats hat ja … bin ich jetzt …?«

»Bei Liebe oder Eierlikör angemeldet«, vollendete Hella seinen Satz. »Ich habe heute Morgen auch mein Interesse an einem Date mit dir bekundet. Soll ich beleidigt sein, dass du nicht reagiert hast? Oder hast du das noch nicht gesehen?«

»Wie? Nein«, nervös lockerte Ernst seinen Kragen. »Ich weiß noch gar nicht, wie das alles genau funktioniert. Und mein Handy liegt zu Hause. Oh Gott, ich darf das nicht mehr liegen lassen, wenn da jetzt Gudrun draufguckt.«

»Jetzt verkauft sie erst mal Kuchen«, Hella klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. »Aber ab sofort solltest du es am Mann tragen. Sonst bekommst du gar nicht mit, wenn dich jemand kennenlernen will.«

»Aber ich will ja nicht …«, Ernst schluckte trocken, er hatte plötzlich einen ganz heißen Kopf. »Ich will mich ja nicht mit irgendjemandem verabreden, ich wollte nur sehen, ob Hilke da mitmacht. Und ob ich da sonst noch jemanden kenne. Ich versuche, Schaden abzuwenden.«

»Dafür musst du die mutmaßlichen Opfer aber erst mal treffen«, Hella sah ihn schadenfroh an. »Jetzt musst du mitmachen, jetzt bist du angemeldet. Mitgefangen, mitgehangen. Aber ich kann natürlich mitkommen, wenn du dein erstes Date hast. Als Aufpasserin.«

»Sag mal, wo bleibt ihr denn?« Wie aus dem Nichts war plötzlich Minna aufgetaucht. »Wir warten auf die Dosenmilch. Habt ihr keinen Schlüssel für die Küche oder warum dauert das so lange?«

»Den musste ich erst mal besorgen«, antwortete Hella und hielt ein Schlüsselbund hoch. »Ich wollte die Sahne gerade holen.«

»Ja, dann los«, Minna schob Hella in Richtung Küche. »Die anderen warten.«

»Dann braucht ihr mich hier nicht mehr?«, rief Ernst ihnen nach. »Dann gehe ich wieder? Ich muss noch mal kurz nach Hause, ich habe etwas vergessen.«

»Alles klar.« Hella winkte ihm zu. »Viel Erfolg«, dann verschwand sie mit Minna im Gang.

 

Als Hella kurz darauf zusammen mit Minna, einem Arm voll Servietten und einem großen Karton Dosensahne wieder zurückkam, war von Ernst nichts mehr zu sehen. Vermutlich rannte er gerade nach Hause, um sein Handy zu sichern, dachte sie und musste sich sofort wieder das Lachen verbeißen. jamesbond006 . Es war wirklich lustig. Und sie war sich sicher, dass er Einladungen zu Verabredungen bekommen würde. Sein Foto gehörte zum oberen Drittel von denen, die sich Hella bis jetzt angesehen hatte. Mats hatte es sehr gut bearbeitet. Ernst Bond hatte gute Chancen.

Die Schlange vor dem Kaffeetresen war zwar inzwischen etwas kürzer geworden, aber Elvira und Gudrun wirbelten trotzdem mit erhitzten Gesichtern zwischen Kaffeemaschine und Kuchenblechen und sahen Minna und Hella erleichtert entgegen, als die wieder ihre Plätze einnahmen.

»Was darf es sein?«, fragte Hella sofort einen grau melierten, gut aussehenden Mann in wattierter, dunkelblauer Jacke, der den Kuchen in der Auslage kritisch beäugte. »Haben Sie hier nur Kuchen?«, fragte er laut und wandte sich an seine weibliche Begleitung, die hinter ihm stand und Hella bekannt vorkam. »Die haben nur Kuchen, Silke.«

»Ja«, entgegnete Hella sehr freundlich, »weil das hier der Kuchenstand ist. Würstchen gibt es hinten rechts am Wagen.«

»Silvia«, sagte die Begleitung und lächelte ihn unsicher an. »Ich hätte ganz gern ein Stück Kuchen. Und eine Tasse Kaffee.«

»Silvia. Na gut«, er hob die Schultern. »Dann eben Kuchen. Und Kaffee. Zweimal Kaffee, ein Stück Kuchen.«

»Zwei Tassen Kaffee, bitte«, rief Hella in Gudruns Richtung, die für die Getränke verantwortlich war. Sie überlegte immer noch, woher sie die Frau kannte, kam aber nicht darauf. »Und welcher Kuchen darf es sein?«

»Was ist das für einer? Der mit der Schokoladenglasur?«

Hella folgte ihrem Blick und nahm schon mal einen Teller in die Hand. »Das ist …«, sie hatte keine Ahnung und sah Hilfe suchend zu Minna.

»Eierlikör«, sagte die sofort. »Ist sehr gut.«

»Eierlikör?«, die Frau sah den Mann an und lachte auf. »Dann lieber nicht. Ich nehme ein Stück Apfelstreusel.«

Hella stutzte jetzt und sah die Frau genauer an. Konnte es sein, dass die beiden sich auch …

»Bitte schön«, Gudrun kam von hinten und stellte zwei Tassen auf den Tresen.

»Und was ist mit dem Kuchen?«, der Mann hatte seine Geldbörse schon in der Hand. »Haben Sie verstanden? Apfelstreusel.«

»Ja, ähm, natürlich«, Hella legte ein Stück Kuchen auf den Teller. »Mit Sahne?«

»Nein«, antwortete der Mann. »Was bekommen Sie?«

»Sieben Euro fünfzig, bitte.«

Er legte das Geld abgezählt auf die kleine Schale, reichte seiner Begleitung den Teller und eine Tasse und folgte ihr mit der anderen Tasse zu einem der langen Tische.

Hella sah ihm nach. Die Frau war mindestens zehn Jahre älter als er und wirkte etwas schüchtern. So als ob sie ihn gerade erst kennengelernt hätte.

»Ich räume mal die Tische ab«, sagte Hella kurz entschlossen zu Elvira. »Und sammele das gebrauchte Geschirr ein. Die Leute bringen ja nie was zurück.« Sie griff nach einem Tablett und steuerte auf die Tische zu. Sie wollte wissen, woher sie die Frau kannte, es machte sie immer ganz verrückt, wenn ihr so was nicht einfiel. Sie warf einen unauffälligen Blick zum Tisch, dann fing sie an, in unmittelbarer Nähe des Paares die Tassen und Teller zusammenzustellen.

»Jedenfalls gestalten sich die Verhandlungen außerordentlich schleppend«, erzählte der Mann in der wattierten Jacke so laut, dass Hella sich beim Zuhören noch nicht einmal anstrengen musste. »Was ich überhaupt nicht verstehe: Die sollen doch froh sein, so ein altes Hotel abzureißen, das verschandelt doch den ganzen Ort.«

»Aber es ist doch ein ganz hübsches Haus«, warf seine Begleitung ein. »Ich kenne das Deichhotel seit Jahren, ich mag diese weiße Fassade und die kleinen Türmchen.«

»Türmchen«, der Mann schnaubte. »Diese alten Hotels sind doch gar nicht mehr gefragt, wer will denn in dieser Klitsche noch wohnen? Das kannst du nur abreißen und an der Stelle moderne Appartements bauen. Das werde ich denen noch beibringen. Die Leute wollen es heute stylish und modern, niemand will mehr in so alten, engen Zimmern hausen. Aber diese Insulaner sind wirklich fürchterlich verschnarcht, bis die mal in die Pötte kommen, ist hier schon Land unter. Ich hatte ja bis vor Kurzem ein Projekt in Dubai, da sind die Leute entschlossener, da kannst du noch Geld verdienen. Das ist da eine ganz andere Baubranche, da läuft die Nummer, da denkt jeder mit, nicht so wie hier, wo alle zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Aber das kriege ich auch noch hin.«

»Dubai?«, sie sah ihn mit großen Augen an. »Da war ich auch mal. Mit meiner Schwester auf einer Kreuzfahrt. Wir haben da einen Landausflug gemacht und in einem sehr vornehmen Hotel ganz oben Kaffee mit Blattgold getrunken. Das war toll. Du kommst ja anscheinend viel herum in deinem Beruf, das muss sehr aufregend sein.«

Die Bäckereiverkäuferin aus Keitum. Hella musste sich beherrschen, sich nicht an die Stirn zu schlagen. Sie hatte sie nur nicht erkannt, weil sie sonst immer einen weißen Kittel anhatte. Statt des bunten Kleids, das sie heute trug. Aber sie war es. Ganz sicher.

»Eine Kreuzfahrt?«, der arrogant wirkende Mann senkte jetzt seine Stimme, legte der Bäckereifachverkäuferin aber sanft die Hand auf die Schulter. »Das können wir ja auch mal zusammen planen. Vielleicht ans Mittelmeer? Korsika, Monaco, Mallorca, wie wäre das?«

»Oh«, sie sah verlegen hoch. »Das wäre natürlich … also, ja, gern. Ich habe aber erst im September Urlaub, während der Saison ist es schwierig.«

Hella wischte ein paar Krümel vom Tisch und rückte noch ein bisschen näher. Der Mann beugte sich jetzt zu der Frau, seine Nase berührte fast ihr Haar.

»Im September ist es wundervoll am Mittelmeer. Und bis dahin habe ich auch meine Geschäfte auf der Insel und in Berlin und München erledigt und jede Menge Zeit für dich. Kannst du dir das vorstellen, wir beide, die Sonne, das Meer, kühle Getränke, heiße Nächte?«

Sie lächelte hingerissen und Hella schüttelte sich innerlich. Nicht nur, dass dieser Schleimer wesentlich jünger war als sie, er hatte tatsächlich etwas Aalglattes, fast schon Unangenehmes an sich. Mister Wichtig aus Dubai. Hella fragte sich, wie blind eine Frau sein konnte. Diese hier war anscheinend sehr vernebelt, sie legte ihm jetzt eine Hand auf den Arm und sagte: »Das wäre wunderbar.«

»Ja, gut«, abrupt wich er zurück und sah auf die Uhr. »Du, es tut mir leid, aber ich habe noch einen wichtigen Termin, ich müsste langsam los. Kann ich dich noch nach Hause bringen oder möchtest du hier noch schauen?«

»Nein, ich fahre gern mit dir mit«, sie ordnete schnell ihr Haar, während er schon aufstand. »Dann haben wir noch ein bisschen Zeit miteinander.«

Hella zog sich mit ihrem vollen Tablett zurück, bevor die beiden noch bemerkten, dass sie gerade Opfer eines Lauschangriffs geworden waren. Während sie das Tablett langsam zum Tresen balancierte, fragte sie sich, ob sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Aber er war wirklich ein unangenehmer Typ. Die arme Frau. Das konnte doch nichts werden.

Hella blieb noch einen Moment stehen und sah ihnen nach, bis sie in ein Auto stiegen, das im absoluten Halteverbot geparkt hatte.

Typisch, dachte Hella, noch einer dieser Männer, die dicke Autos fuhren, aber keine Schilder lesen konnten. Als der weiße SUV auf die Straße schoss, seufzte sie auf. Sie hätte ihr den Eierlikörkuchen aufzwingen sollen. Nach Liebe hatte das gerade nicht ausgesehen.