18.

Bei allerbestem Wetter schob Peer Sörensen sein Fahrrad die Strandstraße entlang und fragte sich, warum die Leute nicht zu Hause shoppen gingen und stattdessen bei diesem schönen Wetter einen langen Strandspaziergang machten und aufs Meer schauten. Diese Urlauber wurden doch wirklich immer verrückter. Er umrundete ein streitendes Paar, das sich nicht einig war, ob es sofort essen gehen oder erst noch nach einer neuen Jeans für ihn schauen wollte. Er wollte essen, sie wollte, dass er eine neue Jeans wollte. Peer ging an ihnen vorbei, ohne das Ergebnis abzuwarten.

Er war froh, dass er solche Diskussionen nicht mehr führen musste, auch wenn seine Schwester sich dauernd Sorgen machte, dass er als alter Junggeselle kein schönes Leben hätte. Dabei irrte sie sich. Peer fand sein Leben eigentlich ganz schön. Er konnte kochen, das war schließlich mal sein Beruf gewesen, er hielt seinen Garten in Schuss, den Haushalt dank Gunhild, die neben ihm wohnte und sich ein bisschen dazuverdienen musste, er konnte im Fernsehen anschalten, was er wollte, und musste sich nie streiten. Es war also ein friedliches, freundliches Leben, auch wenn er manchmal abends dachte, dass es schon schön wäre, sich jetzt ein bisschen zu unterhalten. Allerdings ebbte dieses Gefühl, seit Jannis bei ihm wohnte, immer mehr ab. Im Moment dachte er, dass es schon schön wäre, abends nicht mehr sprechen und zuhören zu müssen. Jannis redete wirklich genauso viel wie seine Mutter.

Vor der Apotheke schloss er sein Rad ab und ging hinein. Die junge blonde Apothekerin kam von hinten und lächelte ihn an. »Hallo, Herr Sörensen, machen Sie heute keine Kurkartenkontrolle?«

»Nur am Wochenende«, er blieb vor ihr stehen und fummelte sein Rezept aus der Westentasche. »Ich habe hier ein Rezept, diese Sachen soll ich abholen.«

Er schob ihr den Zettel über den Tisch, den sie hochnahm und überflog. »Die Tabletten habe ich da, die Salbe kann ich bis zum Nachmittag bestellen. Was ist passiert? Sportunfall?«

»Fahrradsturz«, er hob die Schultern. »Bluterguss im Knie. Ist aber nicht so schlimm, es tut nur abends ein bisschen weh. Die Zeiten meiner Sportunfälle sind leider vorbei. Aber danke, dass Sie fragen.«

Sie lächelte wieder und zog eine Schublade auf, aus der sie eine Packung nahm und auf den Tisch legte. »Eine morgens, eine abends«, sagte sie, während sie es gleichzeitig auf die Packung schrieb. »Und die Salbe habe ich ab 16  Uhr.«

»Danke«, er steckte die Tabletten in die Tasche. »Vielleicht komme ich auch erst morgen. Tschüss.«

Als er draußen sein Fahrradschloss aufspringen ließ, fiel sein Blick auf das Café gegenüber. Er kniff die Augen zusammen und erkannte Hermann Schulze, der allein an einem Tisch saß. Armer, alter Mann, dachte er, dabei fiel ihm ein, dass Hermann genauso alt war wie er. Seit dessen Frau gestorben war, ging Hermann hier immer essen. Jeden Tag. Immer Mittagstisch. Der noch nicht einmal besonders gut war. Aber so kam er wenigstens zu einer warmen Mahlzeit am Tag. Kochen konnte er nicht. Einsam war er auch.

Jetzt schob Peer sein Fahrrad an die Abgrenzung der Außenterrasse und beugte sich rüber. »Hallo, Hermann.«

»Ach. Peer. Moin.« Hermann ließ die Gabel sinken und sah ihn an. »Und?«

»Alles im Lack. Und bei dir?«

»Muss ja«, Hermann zuckte mit den Achseln. »Hilft ja nichts.«

»Was machst du so?«

»Nichts.« Hermann hob die Schultern. »Was soll man schon machen? Irgendwie den Tag rumbringen. Bis zur Schlafenszeit.«

Er schob sich eine Gabel voll Gemüse in den Mund, das ziemlich zerkocht aussah. Peer schüttelte sich innerlich. Er musterte seinen alten Nachbarn, der nach dem Tod seiner Frau das Haus verkauft und eine kleine Wohnung gemietet hatte. Zu seinem Sohn nach Hamburg hatte er nicht ziehen wollen, er mochte die Schwiegertochter nicht. Deshalb hockte er allein in diesem Lokal, so wie fast jeden Tag. Jetzt legte Hermann seine Gabel zur Seite und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Aber ich will mich nicht beschweren. Und bei dir so?«

»Wie immer. Willst du nicht mal mit uns Karten spielen? Jeden ersten Mittwoch im Monat im Deichgraf ? Dann hast du ab und zu was vor.«

»Ach nein«, Hermann winkte mit einem schiefen Grinsen ab. »Da hocken auch nur alte Männer, die immer dieselben Geschichten erzählen. Die kenne ich doch alle. Schönen Dank.«

»Dann komm mal zum Essen vorbei. Mein Neffe ist auch da. Ich koche sowieso jeden Abend. 19  Uhr.«

»Das kann ich mal machen. Ich melde mich. Bis dann.«

Peer nickte und schob sein Fahrrad weiter. Wenn er so wäre wie Hermann, könnte er verstehen, dass seine Schwester ihm eine Frau suchen wollte. Aber von diesem Elend war er meilenweit entfernt. Es kamen nicht alle Männer so gut mit dem Alleinleben zurecht wie Peer.

 

Als er das Ende der Fußgängerzone erreicht hatte, schwang er sich aufs Fahrrad und fuhr in Richtung Deichhotel . Hier hatte er viele Jahre als Küchenchef gearbeitet, ab und zu sprang er auch jetzt noch in der Küche ein, wenn Not am Mann war. Oder wenn sein ehemaliger Lehrling Klaas, der das Hotel vor einigen Jahren übernommen hatte, seinen alten Chef als Vertretung brauchte. Er mochte den Jungen, der zwar mittlerweile auch schon Anfang fünfzig war, aber immer noch anrief, wenn er eine Frage hatte.

Am Ende der Promenade bog er ab und fuhr in Richtung Südwäldchen. Peer verlangsamte sein Tempo, als er das kleine Hotel am Ende der Straße sehen konnte, und ließ das Rad den Rest des Weges rollen. Der Parkplatz vor dem Hotel war voll, das Geschäft schien gut zu laufen, was ihn für Klaas freute. Der Junge gab sich auch wirklich Mühe, wobei Peer fand, dass es für ihn allein zu viel Arbeit war. Aber Klaas beschwerte sich nie.

Peer stellte sein Fahrrad an die Hauswand, genau in dem Augenblick, als die Hintertür sich öffnete und Klaas mit einem großen Müllsack herauskam. Sobald er Peer sah, ließ er den Müllsack fallen und kam ihm entgegen. »Hallo, das ist ja schön. Hast du meinen Anruf abgehört? Sag mal, humpelst du?«

Peer klopfte ihm zur Begrüßung auf die Schulter. »Nicht schlimm, ich habe ein kleines Malheur mit dem Fahrrad gehabt. Aber ich kann dir Freitag helfen. Wie viele Leute sind das denn?«

»Zwanzig«, Klaas schob seine Hände in die Taschen der Kochjacke. »Was denn für ein Malheur?«

»Ach«, Peer machte eine wegwerfende Geste. »Mich hat ein Autofahrer auf die Hörner genommen. Das heißt, eine Autofahrerin, eine sehr sympathische, die konnte auch gar nichts dafür, sie wurde abgedrängt. Sie hat mich ins Krankenhaus gefahren, es ist nichts Wildes, das stört mich nicht beim Kochen.«

»Hast du eine Anzeige gemacht?«

»Bist du verrückt? Die Fahrerin war nett und den Drängler habe ich gar nicht gesehen, das ging viel zu schnell. Wieso brauchst du denn überhaupt Hilfe, haben deine Köche frei?«

»Nein«, Klaas schüttelte den Kopf. »Ich möchte freimachen. Die Gäste haben schon ein Menü vorbestellt, das ist alles gut vorzubereiten. Weißt du, ich habe etwas ganz Wichtiges vor, das möchte ich auch nicht absagen, aber meine Köche schaffen nicht das normale Abendgeschäft und auch noch die Gesellschaft. Es wäre toll, wenn du das hinkriegst.«

»Geht klar«, Peer sah ihn an. »Was hast du denn Wichtiges vor?«

»Ich …«, Klaas grinste plötzlich verlegen, »also ich habe da jemanden …«

Ein lautes Motorengeräusch hinderte Klaas am Weitersprechen. Er runzelte die Stirn und starrte irritiert auf das Auto, das gerade etwas zu schnell auf den Parkplatz fuhr und schwungvoll eine Lücke ansteuerte. Peer folgte seinem Blick und entdeckte an dem großen weißen Auto eine hässliche Schramme, die sich über die Beifahrertür zog. Die Reparatur würde teuer werden.

»Peer, wir telefonieren«, Klaas berührte ihn leicht am Arm und schob sich an ihm vorbei. »Das muss ich mir mal ansehen.« Mit langen Schritten ging er auf den weißen Wagen zu, umrundete ihn und beugte sich zum offenen Fenster der Fahrertür. Peer konnte von seinem Standort weder etwas von dem nachfolgenden Gespräch hören noch den Mann am Steuer erkennen. Vielleicht wollte Klaas den Gast trösten, weil der diese Schramme hatte. Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause.

Er war noch nicht weit gekommen, als er ein Geräusch hörte, das er zunächst nicht einordnen konnte. Er hatte es vorhin schon mal bemerkt und zunächst gedacht, dass sein Fahrrad beim Unfall doch einen Schaden davongetragen hätte. Beim Weiterfahren sah er sich um, plötzlich verstummte es, Peer hielt an und lauschte. Nach einem kurzen Augenblick fing es wieder an, es war ganz nah und plötzlich hatte er eine Ahnung. Peer zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und tastete in der Innentasche nach diesem neuen Telefon, das Geräusch wurde lauter, auf dem Display stand Jannis ruft an . »Wie war das noch?«, murmelte er leise, wischte über den roten Pfeil und hielt das Handy ans Ohr. »Ja? Ich bin unterwegs, warum rufst du mich an?«

»Wo bist du denn? Ich habe dich schon zweimal angerufen.«

»Unterwegs. Habe ich doch gesagt.«

»Ja, aber wo genau?«

»Ich war bei Klaas. Im Deichhotel . Und jetzt fahre ich nach Hause. Ist was passiert?«

»Nein. Wie lange brauchst du mit dem Rad zur Seenot

»Lange«, Peer schüttelte den Kopf, was Jannis leider nicht sehen konnte. »Und ich will jetzt weder was essen noch was trinken, ich fahre nach Hause. Bis heute Abend.«

Er beendete das Gespräch und überlegte, wie man diesen Klingelton ausstellen konnte, Jannis hatte ihm das doch erklärt. Als er es in der Hand wendete, fiel es ihm wieder ein, man musste nur den Schalter an der Seite auf Rot stellen, was er auch sofort tat. Es war doch weiß Gott nicht notwendig, überall erreichbar zu sein. Das, was Jannis von ihm wollte, konnte er ihm auch heute Abend in aller Ruhe beim Essen erzählen. So viel Zeit würde es ja wohl haben. Peer stellte seinen Fuß wieder auf die Pedale und fuhr pfeifend weiter. Das Wetter war viel zu schön, um sich von überflüssigen Telefonaten stören zu lassen.