21.

Nur fünf Minuten, nachdem Hella atemlos ihre Haustür geschlossen und schnell ihre Schuhe abgestreift hatte, klingelte es. Als sie die Tür aufgerissen hatte, wich sie erstaunt einen Schritt zurück. »Ach, hallo Frau Gräber. Sie haben Glück, ich bin gerade erst reingekommen.«

»Ich weiß«, Regina Gräber trat ein, ohne dass Hella sie dazu aufgefordert hatte. »Ich habe es schon mal versucht, als Sie noch nicht da waren.«

»Gehen Sie ruhig durch«, Hella wies in Richtung Wohnzimmer und ging vor. »Wenn Sie schon mal drin sind.«

»Ach nein, danke, ich wollte Sie nur um einen kleinen Gefallen bitten.«

Hella blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Ja?«

Sie hatte sich ganz schön aufgedonnert, fand Hella, die weiße Hose saß sehr eng, die leicht durchsichtige gelbe Bluse stand einen Knopf zu weit offen, sie trug viel goldenen Schmuck und hatte ihre Augen dramatisch dunkel geschminkt. Hella betrachtete beeindruckt die gelben High Heels, die mindestens zwölf Zentimeter Absatz hatten, und sah ihre Nachbarin wieder an. »Und welchen Gefallen?«

»Ich habe ein großes Problem«, Regina Gräber presste die rot geschminkten Lippen zusammen. »Stellen Sie sich vor, man hat mir vorhin beim Einkaufen mein Portemonnaie gestohlen, mein ganzes Bargeld und alle meine Karten sind weg. Die musste ich ja sofort sperren, aber ich kann nun kein Geld abheben. Könnten Sie mir vielleicht 500  Euro leihen?«

»500  Euro?«, verwundert sah Hella sie an. »Also, das tut mir leid, aber so viel Geld habe ich nicht im Haus.« Sie griff nach ihrer Tasche und sah in die Geldbörse. »Warten Sie, ich habe fünfzig, siebzig, neunzig, hundertvierzig, hundertneunzig, zweihundert, zweihundertfünfzig, zweihundertsiebzig und ein paar Münzen, also ich kann Ihnen zweihundertfünfzig leihen. Hilft Ihnen das weiter?«

Regina Gräber streckte schon die Hand aus. »Auf jeden Fall, zumindest bis morgen die Bank wieder öffnet. Ich bin heute nämlich noch verabredet und werde gleich abgeholt, da kann ich ja nicht ohne Geld los. Ach, das war alles so eine Aufregung, meine Güte, das brauche ich auch nicht jeden Tag.«

»Das glaube ich«, Hella überreichte ihr die Scheine, die sie sofort zusammenfaltete und in die Hosentasche schob. »Dann hoffe ich, dass man den Dieb findet.«

»Den …?«, Regina Gräber sah erstaunt hoch. »Ach so, den Dieb, ja, das hoffe ich auch. Vielen Dank, Frau Fröhlich, und Sie bekommen es natürlich so schnell es geht wieder.«

Sie lächelte zerstreut und legte die Hand auf den Türgriff. »Einen schönen Abend.«

»Danke, Ihnen auch.«

Die Tür schlug zu, während Hella ihr restliches Geld wieder zurück in die Tasche schob. Sie blieb im Flur stehen und sah ihr nachdenklich hinterher. Natürlich war Nachbarschaftshilfe sehr wichtig, das hatte Hella immer schon so gehalten. Aber ein bisschen seltsam war es doch, dass Regina Gräber, die sich sonst nie um Nachbarn kümmerte, mit einem solchen Anliegen ausgerechnet zu Hella kam. Und dann gleich 500  Euro, was glaubte sie denn, was Hella machte? Heimlich Geld drucken?

Sie schüttelte kurz den Kopf und fragte sich, wie schnell sie das Geld wohl zurückbekommen würde. Aber darüber würde sie sich später Gedanken machen. Jetzt musste sie sich um ein anderes Thema kümmern. Und jemanden anrufen, der sie gerade wirklich hatte hängen lassen.

Im Wohnzimmer setzte sie sich auf ihren Lesesessel und zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem eine Nummer notiert war. Er hatte sie ihr zugeschoben, als sie an seinem Tisch vorbeigegangen war, wenigstens hatte er die Gesten, die sie in seine Richtung gemacht hatte, verstanden. Begriffsstutzig war er dann doch nicht.

Sie hatte etwas Mühe, die Sauklaue zu entziffern, und war erleichtert, als er nach vier Freizeichen ranging. »Ja?«

»Jannis, bist du es?«

»Ja, kleinen Moment, ich gehe eben raus.« Seine Stimme klang gepresst, sie hörte Schritte, dann eine Tür klappen, im Hintergrund lief Schlagermusik. Es klang, als wäre er in einer Kneipe.

»So, ich bin wieder dran«, jetzt sprach er lauter. »Gerade konnte ich nicht reden.«

»Das konnte ich vorhin auch nicht«, Hella legte ein Bein auf ihren Tisch und bewunderte ihre hellgrüne Strumpfhose. »Weil ich sauer war. Was bitte ist denn da so schiefgelaufen? Das war eine feste Verabredung, die wir getroffen hatten. Und ich habe meinen Part erfüllt. Was war los?«

Wieder klappte eine Tür, die Musik verstummte, und Jannis sagte: »Er wollte kommen, ehrlich, er hat es versprochen. Aber dann kam Hermann.«

»Wer ist Hermann? Aber das ist mir eigentlich egal. Ich habe es jedenfalls geschafft, Elvira zu überreden, mitzukommen. Und sie war da. Hatte sich sogar richtig hübsch gemacht, es ist wirklich zu ärgerlich. Ich hatte mich schon so auf die Gesichter gefreut. Und dann sehe ich dich die ganze Zeit allein am Tisch sitzen.«

»Ja, ich weiß, ich hab mich auch geärgert. Mein Onkel wollte ja kommen und gerade losfahren, als sein alter Kumpel Hermann bei ihm auftauchte. Der ist verwitwet und unglücklich und kann nicht kochen, deshalb hatte Peer ihn eingeladen. Er konnte ja nicht ahnen, dass Hermann einfach so vorbeikommt und nicht Bescheid sagt. Und Peer hat es nicht übers Herz gebracht, ihn wegzuschicken. In die Buhne 16 wollte Hermann aber nicht mit, deshalb sind sie hiergeblieben und sitzen immer noch in der Küche. Und sind mittlerweile beide ziemlich beschickert.«

»Und was machen wir jetzt? Mit der Zusammenführung?« Hellas Fuß war eingeschlafen, sie zog ihr Bein vom Tisch und stand vorsichtig auf. Langsam humpelte sie zum Fenster, um es zu öffnen.

»Kannst du Frau Sander nicht einfach sagen, dass du weißt, wer der Mann mit dem Fahrradunfall ist? Dass du ihn gefunden hast?«

»Wie hätte ich ihn denn finden sollen? Und außerdem wäre das nicht so romantisch. Na ja, war es so ja auch nicht. Wenigstens haben wir ordentlich Hugo getrunken.«

Als sie die Gardine zur Seite schob, stieß sie einen verblüfften Laut aus und starrte nach unten. Vor ihrem Haus stand der weiße SUV mit der auffälligen Schramme. »Bleib mal kurz dran, ich muss was gucken.«

Sie ließ das Handy sinken, öffnete das Fenster ganz und beugte sich raus, genau in dem Moment, als sie die Haustür klappen und Regina Gräbers Lachen hörte. Sofort trat sie wieder zurück. Das war ja ein Ding.

»Hella?«

Den Blick unverwandt nach draußen gerichtet, antwortete sie mit gesenkter Stimme: »Donnerstag gehe ich mit Elvira ins Kino. Eine Liebe am Meer. «

»Das ist ein Kitschfilm«, Jannis klang entsetzt. »Da geht er nie mit. Und ich kriege Pickel bei solchen Filmen.«

Regina Gräber lachte schon wieder und hatte sich bei ihrem Begleiter eingehakt. Er öffnete ihr jetzt galant die Beifahrertür und ließ sie einsteigen. Unwillkürlich hatte Hella den Atem angehalten und plötzlich sah sie den Mann von vorn. Sie erkannte ihn sofort: Mister Wichtig aus Dubai. Der sich auf dem Frühlingsbasar so schlecht benommen hatte. Und der mit der netten Bäckereiverkäuferin aus Keitum aufgekreuzt war, was Hella so gewundert hatte.

»Hella? Bist du noch dran? Können wir uns nicht woanders …«

»Donnerstag. 19 .30  Uhr vorm Kino, Jannis, ich muss jetzt aufhören. Streng dich an.«

Sie drückte auf die rote Taste und spähte an der Gardine vorbei. Mister Wichtig fuhr tatsächlich den weißen SUV mit der Hamburger Nummer und der hässlichen Schramme. Also war er auch der Unfallverursacher vom Bahnhof. Und es war auch das Auto, in dem Ernst Hilke gesehen hatte. Hella bekam Gänsehaut. Und hatte plötzlich eine Idee. Sie hob das Handy hoch und machte ein paar Fotos. Vom Mann, vom Wagen, von der Schramme und vom Kennzeichen. Ernst würde staunen.

Als der Wagen losfuhr, sah sie ihm noch einen Moment hinterher, dann kontrollierte sie zufrieden die Fotos. Sie waren sehr gut geworden, es war schon toll, was man mit einem kleinen Handy alles veranstalten konnte. Sie nahm ein Glas und die Flasche Haselnussschnaps aus dem Wohnzimmerschrank, schenkte ein, trank einen kleinen Schluck und setzte sich gespannt an den Tisch. Hastig rief sie Liebe oder Eierlikör auf. Ihr Zeigefinger wischte über das Display, Seite um Seite, Foto um Foto, plötzlich hielt sie inne, vergrößerte das Bild und starrte den Mann darauf an. So einfach, dachte sie, so einfach konnte es sein.

Zum Vergleich rief sie noch mal das Foto auf, das sie gerade gemacht hatte. Es gab keinen Zweifel, er war es. Mister Wichtig aus Dubai war auch Kandidat bei Liebe oder Eierlikör .

Aufgeregt überflog Hella sein Profil.

gastronom100 , gepflegte Erscheinung, leidenschaftlicher Tänzer, Reiseliebhaber und Sportler mit Sehnsucht nach einer Seelenverwandten. #zweisamammeer#reisegefährten#niemehrohneliebe

gastronom100 . Hella griff zum Glas und trank den Haselnussschnaps auf ex. Das war der Betreff auf Martinas gelbem Zettel gewesen, mit dem Ernst und sie nichts hatten anfangen können. Und das war auch der Name gewesen, den Renate Bahnsen ihnen genannt hatte. Der Name des Mannes, dem die Brieftasche ins Wasser gefallen war und der sich 500  Euro von seinem Date für sein Hotelzimmer hatte leihen wollen. Und mit genau diesem Typen fuhr jetzt gerade ihre Nachbarin über die Insel. Mit Hellas Geld in der Tasche.

Sie wurde von einer Hitzewelle überrollt. Sie war ihm auf der Spur. Ganz dicht dran.

Sie nahm ihr Handy in die andere Hand und überlegte einen Moment, dann wischte sie übers Display, um eine Anfrage für ein Date zu senden. Jetzt musste er nur noch zusagen.

Hella lächelte, als sie sich das Gesicht von Ernst vorstellte, wenn sie ihm ihre Entdeckung mitteilte. Wobei sie das eigentlich auch sofort machen könnte. Entschlossen gab sie seine Nummer ein und drückte auf Videoanruf. Sie wollte seine Verblüffung sehen. Nach zwei Freizeichen tauchte ein Teil seines Gesichts auf ihrem Bildschirm auf.

»Was ist? Ich kann jetzt nicht.«

»Ernst? Du musst das Handy anders halten, ich sehe nur dein Ohr und ein Auge.«

»Nicht jetzt. erdbeertörtchen. «

Er verschwand vom Display, bedauernd legte Hella das Handy weg. Sie hatte ganz vergessen, dass er heute wieder auf Mission war. Nach dem Hinweis von Martina. Also musste sie jetzt warten. Auf den Rückruf von Ernst und auf die Bestätigung eines Dates mit gastronom100 . Hella hoffte inständig, dass beides bald passierte. Bevor sie vor lauter Aufregung platzte.