23.

Bevor Martina ihre Haustür erreichen konnte, hatte Hella schon die Balkontür aufgehebelt und ihr auf zwei Fingern nachgepfiffen. Sofort blieb Martina stehen und sah zu ihr hoch.

»Du musst hochkommen«, rief Hella ihr übers Balkongelände gebeugt zu. »Es ist wichtig.«

Martina sah auf die Uhr und hob fragend die Schultern. »Ich wollte eigentlich …«

»Das kannst du alles später machen«, Hella sah sich kurz um und senkte ihre Stimme. Es musste ja nicht das ganze Haus mithören. »Wir müssen reden.«

Ohne die Antwort abzuwarten, knallte Hella die Balkontür wieder zu und ging schon mal zur Wohnungstür. Als sie öffnete, kam Martina gerade langsam die Treppe hoch. Sie blieb kurz stehen und wischte sich einen Schweißtropfen von der Schläfe, während Hella ihr schon entgegensah. »Haselnussschnaps?«

»Es ist gerade mal 16  Uhr«, Martina schob sich an Hella vorbei und wartete, bis die Wohnungstür geschlossen war. »Das ist ja wohl ein bisschen zu früh für Alkohol. Was ist denn jetzt so wichtig?«

»Geh durch«, Hella drückte die Tür zu und schob Martina ein Stück vorwärts. »Ich muss dir was erzählen, du wirst durchdrehen.«

»Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie durchgedreht«, vor dem plüschigen Sofa angekommen, schob Martina die bunten Kissen zur Seite, bevor sie sich mit einem kleinen Seufzer setzte. »Ich denke auch nicht, dass ich heute damit anfange.«

»Das war metaphorisch gemeint«, Hella winkte ab und nahm ihr gegenüber auf einem grünen Samtsessel Platz. Sie starrte Martina einen Moment an, dann holte sie tief Luft und sagte: »Wir müssen dringend über unsere Mission reden. Ernst und ich machen da die ganze Arbeit und du schweigst im Hintergrund, das geht nicht mehr. Wir müssen unsere Talente jetzt zusammenführen.«

Unbewegt blickte Martina sie an, bevor sie ganz leicht eine Augenbraue hob. »Welche Talente?«

»Ach, Martina«, Hella ließ sich zurückfallen und blickte an die Decke. »Ernst hat diesen Instinkt, ich habe meine Schauspielkunst und du den Blick auf Zahlen, bei denen etwas nicht stimmt. Zusammen sind wir zu der Auffassung gelangt, dass die Möglichkeit besteht, bei Liebe oder Eierlikör könnten sich nicht nur Liebende finden. Und deshalb hat sich Ernst in eine sehr schwierige Situation begeben. Mit Verlaub, auch durch den Druck, den du mit deinen gelben Zetteln aufgebaut hast. Es ist ja ehrenhaft, dass du nicht gegen dein Bankgeheimnis verstoßen willst und dich deshalb auf diese kryptischen Hinweise beschränkst. Aber dadurch ist der arme Ernst völlig überfordert. Dabei will er doch nur wissen, mit wem Hilke sich trifft und ob sie Gefahr läuft, das Schicksal von Wilma S. zu ihrem zu machen. Oder hieß sie Vera? Na, egal, jedenfalls versucht er verzweifelt, die Hinweise auf den Zetteln zu deuten, trifft sich heute mit erdbeertörtchen , weil du das aufgeschrieben hattest, und stirbt tausend Tode. Ohne zu wissen, warum erdbeertörtchen überhaupt auf dem Zettel stand.«

Martina schwieg und legte sich ein Kissen auf die Oberschenkel.

»Es wäre alles einfacher, wenn du mal mit uns reden würdest, Martina. Eine solche Mission gelingt doch nur, wenn man ab und zu seine Ergebnisse vergleicht. Herrgott, du hast doch auch genügend Krimis geguckt. Und du kannst uneffektives Arbeiten nicht leiden.«

»Stimmt«, Martina legte ihre Hände aufs Kissen und begann, die Fransen miteinander zu verflechten. »Wo siehst du denn fehlende Effektivität?«

»Überall«, Hella hob energisch das Kinn. »Ernst macht ein Date nach dem anderen, ohne wirklich zu wissen, wonach er suchen muss. Ich hatte auch schon drei, die eher unbefriedigend … ach, besser, wir lassen das und decken den Mantel der Liebe drüber.« Sie stand abrupt auf und ging zum Tisch, um einen Stift zu holen, bevor sie sich wieder setzte. »Du, meine Liebe, bist leider der Grund für die fehlende Effektivität. Deine Hinweise sind nicht klar genug. Wir brauchen Namen und Beweise. Du hast doch alles. Deine Vermutungen sind immer richtig. Also, bei wem witterst du etwas? Was ist dir aufgefallen? Jetzt mal Klartext.«

»Bankgeheimnis«, Martina fuhr fort, die Fransen zu flechten. »Ich setze doch nicht meinen Job aufs Spiel.«

»Schon klar«, Hella sah sie mit zusammengekniffenen Augen und leicht geöffnetem Mund an. Sie überlegte angestrengt, dann lächelte sie plötzlich und rutschte in ihrem Sessel nach vorn. »Ich habe eine Idee. Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich habe vor vielen Jahren mal eine Halbtote gespielt, in einer unbedeutenden Fernsehproduktion. Ich war trotzdem sehr gut.«

Martina hob den Kopf. »Eine Halbtote? Wie geht das denn?«

»Ich lag in einem Krankenhausbett und konnte nicht sprechen«, Hella ließ sich demonstrativ mit ausgebreiteten Armen zurückfallen, versteifte ihren Körper und starrte mit offenen Augen an die Decke.

Nach einer Weile räusperte Martina sich. »Ich habe es verstanden, du kannst wieder hochkommen.«

»Ich konnte nur blinzeln«, Hella lockerte ihre Arme und rutschte wieder in die Sitzhaltung. »Aber ich war eine wichtige Zeugin, deshalb hat mich ein Kommissar verhört. Einmal blinzeln hieß Ja, zweimal Nein, oder war das umgekehrt? Egal, wir legen fest, einmal Ja, zweimal Nein.«

»Ja, und?«

»Du bist halb tot«, Hella lächelte. »Jetzt sofort. Ich stelle dir Fragen. Du blinzelst. Halbtote verstoßen nicht gegen das Bankgeheimnis. Und sagen musst du ja auch nichts. Du musst dich auch nicht steif machen. Es sei denn, es hilft dir.«

So wie Martina sie jetzt ansah, konnte nur Martina gucken. Hella ignorierte den Blick.

»Dann fange ich mal an«, sie zog einen Zettel aus ihrem Ausschnitt und zückte den Stift. »Wir haben deinen Notizen entnommen, dass dir bei drei Kunden was aufgefallen sein muss. Seltsame Kontobewegungen zum Beispiel. Stimmt das?«

Martina reagierte nicht. Hella beugte sich vor. »Martina! Du bist halb tot. Drei Kunden?«

Martina zwinkerte zweimal, Hella legte den Kopf schräg. »Nein? Zwei?«

Doppeltes Zwinkern.

»Mehr?«

Einfaches Zwinkern.

»Vier?«

Einfaches Zwinkern. Hella atmete durch und strich die Drei auf ihrem Notizzettel durch, um sie durch eine Vier zu ersetzen.

»erdbeertörtchen gehört dazu? Also, sie hat komische Summen abgehoben?«

Doppeltes Zwinkern.

Hella sah sie an, bis ihr etwas einfiel. »Sie hat eine seltsame Überweisung getätigt?«

Einfaches Zwinkern.

»Hm.« Hella rieb sich die Stirn. »Seltsame Überweisungen. Ach so, klar, diese Überweisungen sind immer auf dasselbe Konto gegangen?«

Einfaches Zwinkern.

Aufgeregt rutschte Hella hin und her. »Das Konto gehört jemandem, der bei der App mitmacht?«

Einfaches Zwinkern.

»Und nicht nur erdbeertörtchen hat auf dieses Konto etwas überwiesen, sondern auch noch drei andere Frauen?«

Einfaches Zwinkern.

»Und nun lass mich raten«, Hellas Zeigefinger fuhr in Martinas Richtung. »Dabei ist der Betreff gastronom100 aufgetaucht.«

Einfaches Zwinkern.

»Ich wusste es«, Hella schlug mit der flachen Hand auf ihren Oberschenkel. »Deswegen stand das auch auf deinem Zettel. Und jetzt wirst du gleich verrückt, ich habe ihn tatsächlich gefunden. Das war eine meisterhafte Detektivleistung. Warte, ich zeige es dir.«

Sie sprang auf, um ihr Handy zu holen, während Martina wieder anfing, die Kissenfransen zu flechten.

»Ich hätte jetzt doch gern einen Haselnussschnaps.«

»Klar«, Hella drehte sich zu ihr um, bevor sie die Gläser und die Flasche aus dem Schrank holte und alles auf den Tisch stellte. »Schenk schon mal ein, ich hole mein Handy, um dir was zu zeigen. Wer waren denn die anderen drei Frauen?«

»Sag ich nicht«, in aller Ruhe entkorkte Martina die Flasche und schenkte ein. »Bankgeheimnis.«

»Ist klar«, Hella zuckte mit den Achseln und wollte sich, den Blick auf ihr Handy gerichtet, neben Martina aufs Sofa sinken lassen, aber die Lücke zwischen Martina und der Armlehne war etwas zu eng. Martina stöhnte und rutschte ein Stück zur Seite, sofort quetschte Hella sich neben sie und wischte hektisch auf dem Display herum. »Warte, ich hab’s gleich, zack, zack, zack, da, da ist er doch.«

Triumphierend hielt sie Martina das Telefon hin, die es ihr abnahm und den Eintrag betrachtete. »gastronom100 , gepflegte Erscheinung, leidenschaftlicher Tänzer, Reiseliebhaber und Sportler mit Sehnsucht nach einer Seelenverwandten. #zweisamammeer#reisegefährten#niemehrohneliebe «

»Ja«, sagte sie ruhig und gab Hella das Handy zurück. »Das wird er wohl sein.«

»Das ist er«, bekräftigte Hella. »Natürlich ist er das. Ich habe ihn nämlich schon auf dem Frühlingsbasar gesehen. Ein unangenehm arroganter Typ, wenngleich auch sehr attraktiv. Er war mit der netten Bäckereiverkäuferin aus Keitum da, die er nicht nett behandelt hat. Da habe ich mir schon gedacht, dass die sich auch auf diesem Weg kennengelernt haben. Er ist bestimmt zehn Jahre jünger als sie, das Ganze sah nicht nach Liebe aus. Und jetzt kommt das Beste. Das ist nämlich auch der Mann mit dem weißen SUV . Der den Unfall am Bahnhof verursacht hat. Und nun rate mal, wo ich ihn vorhin gesehen habe?«

Martina antwortete nicht, sondern nahm Hella stattdessen das Handy wieder aus der Hand. Sie betrachtete das Foto jetzt konzentriert, dann sagte sie: »Der stand vor ein paar Tagen halb nackt bei Regina Gräber im Schlafzimmer.« Sie reichte das Handy zurück und griff nach ihrem Schnapsglas. »Zum Wohl.«

Verblüfft starrte Hella sie an. »Wie? Woher …? Schon vor ein paar Tagen? Und … wieso halb nackt?«

»Weil er nicht viel anhatte. Ich kam nicht umhin, es zu bemerken. Sie zieht die Vorhänge nie richtig zu. Furchtbar.«

Hella dachte angestrengt nach. »Ich habe ihn vorhin vorm Haus gesehen. Aber dann war er nicht nur einmal bei Regina Gräber. Und die Sache ist fortgeschrittener, als ich dachte. Und, oh Gott, sie hat sich von mir Geld geliehen. Sie wollte fünfhundert Euro, ich habe aber nur zweihundertfünfzig gehabt. Martina, ich hänge mit drin. Was ist mit ihrem Konto?«

Martina trank den Rest aus und stellte das Glas wieder hin. »Er schmeckt ja immer wieder gut.«

Nach Luft ringend ließ Hella sich im Sessel zurückfallen. »gastronom100 und Regina Gräber, ich fasse es nicht. Martina, was ist mit ihrem Konto? Hat sie auch gezahlt? Sieh mich an.«

Martina hob den Kopf und zwinkerte einmal, bevor sie zur Flasche griff, um nachzuschenken.

»Ich habe es mir gedacht«, Hella stöhnte theatralisch, »ich sehe mein Geld nie wieder.« Sie legte die Hand über die Augen, dann fiel ihr etwas ein und sie schoss hoch. »Aber, aber … er ist der Mann mit dem weißen SUV . Und Hilke ist mit ihm in diesem Auto gesehen worden. Was leider Gottes der Beweis dafür ist, dass Hilke tatsächlich bei Liebe oder Eierlikör mitmacht. Und genauso wie Regina Gräber mit ihm angebändelt hat. Oh Gott, das bricht Ernst das Herz. Was ist mit Hilke, Martina? Hat sie auch schon Geld überwiesen?«

»Ich sag nichts mehr«, Martina kippte den Schnaps in einem Zug aus und quälte sich aus ihrem engen Sitz hoch. »Ich muss los. Du bist doch auf der richtigen Fährte. Du kannst doch …«

Der durchdringende Ton von Hellas Handy lenkte beider Blicke auf den Tisch. Sofort griff Hella danach und wischte übers Display. Während sie den angekommenen Text las, begann sie zu lächeln. »Na bitte«, sagte sie laut und hielt Martina das Telefon hin. »Ich habe ein Date. Mit gastronom100 . Am Donnerstag um 18  Uhr in der Sturmhaube . Bei schönem Wetter auf der Terrasse. Martina, du kommst mit.«

»Wozu?«

»Ich brauche eine Zeugin.«