24.

Hilke Petersen legte die Getränkekarte zur Seite und setzte die Sonnenbrille auf, bevor sie gut gelaunt ihren Blick auf die vorbeilaufenden Passanten richtete. Das frühlingshafte, sonnige Wetter ließ die Menschen, die schon sommerlich gekleidet durch die Strandstraße bummelten, sofort sympathischer wirken, das traf zumindest auf die meisten zu. Es war wirklich ein schöner Tag, der Himmel war klar und blau, nur einzelne Möwen flogen kreischend durch die Idylle.

Als die Bedienung an den Tisch kam, bestellte Hilke einen Eiskaffee und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Sie hatte noch etwas Zeit, bevor sie sich treffen würden, sie konnte diesen Moment im Café in aller Ruhe genießen.

In der Hauptsaison fuhr Hilke selten nach Westerland, schon gar nicht, um Eiskaffee zu trinken. Dann war es ihr hier zu voll, sie mochte diese Massen an Touristen nicht, die sich durch die Stadt schoben, alles in Beschlag nahmen, oft ein bisschen zu laut, ein bisschen zu fordernd und ein bisschen zu hektisch. Aber jetzt, Anfang Mai, war noch alles ruhig und überschaubar. Und deshalb war sie etwas früher losgefahren und schon ein bisschen durch die Einkaufsstraßen geschlendert.

Der Eiskaffee kam, Hilke dankte lächelnd und zog das Glas näher zu sich. Gerade als sie den Strohhalm in die Sahne tauchen wollte, fiel ein Schatten auf den Tisch und eine laute Stimme sagte: »Ich liebe diese Vorsaison, da trifft man sogar mal Einheimische in den Lokalen, hallo Hilke.«

»Britt«, Hilke hatte sofort den Strohhalm losgelassen und sah jetzt hoch. »Hallo. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Wie geht’s?«

Eigentlich mochte sie die quirlige Britt Elvers, die halbtags bei Martina in der Bank arbeitete. Nur war sie manchmal für ihren Geschmack etwas zu sehr am Leben ihrer Mitmenschen interessiert. Um nicht zu sagen, sie war einfach neugierig.

»Oh, gut«, Britt Evers legte die Hand auf die Lehne des freien Stuhls. »Störe ich dich? Oder darf ich mich dazusetzen? Ich hatte die ganze Zeit schon so eine Lust auf Eiskaffee, aber oben auf der Promenade waren alle Tische besetzt.«

»Hier ist der Eiskaffee sowieso der beste«, Hilke nahm zwei kleine Papiertüten vom Sitz und machte eine einladende Geste. »Setz dich, du störst nicht.«

»Ach, wie schön«, sofort zog Britt den Stuhl vor und nahm Platz. Neugierig blickte sie auf die beiden Tüten, die jetzt auf dem Boden standen. »Ich wollte eigentlich auch shoppen, aber ich habe überhaupt nichts gefunden. Dabei ist es in den Geschäften noch so schön leer.«

Hilke nickte, während Britt der Bedienung zuwinkte und auf Hilkes Eiskaffee zeigte. »Wunderbar, sie hat es verstanden«, sagte sie zufrieden und sah wieder Hilke an. »Erzähl mal, wie geht es dir so? Du hast eine andere Frisur, sie steht dir sehr gut. Macht dich zehn Jahre jünger.«

»Oh, danke«, etwas verlegen strich Hilke sich eine Strähne aus der Stirn. »Ich wollte mal was Neues ausprobieren.«

Britt nickte verständnisvoll. »Das ist gelungen. Und …«, sie deutete auf eine der Einkaufstüten, die das Emblem einer Parfümerie trug, »der Frühling macht auch Lust auf neue Lippenstifte und Parfüms, oder? Das kenne ich gut.«

»Offenbar, ja«, jetzt endlich tauchte Hilke den Strohhalm in die Sahne und probierte. »Wobei das ein Geburtstagsgeschenk für meine Kollegin ist.«

»Ach ja, Silke hat ja Geburtstag«, Britt nickte. »Aber sie feiert nicht, ich habe sie schon gefragt. Schade, es ist im Moment kaum was los im Dorf. Deswegen trifft man überhaupt niemanden mehr und hört kaum was Neues.«

Ihr Eiskaffee wurde gebracht und Britt rührte mit dem Strohhalm die Sahne unter. »Wobei der Frühlingsbasar sehr schön war, aber den hast du ja verpasst. Warst du da im Urlaub?«

»Nein«, Hilke schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur etwas anderes vor. Aber Hella Fröhlich hat ja einen sehr guten Ersatz für mich gefunden.«

»Ja, ja«, antwortete Britt. »Eine Elvira Dingenskirchen, ich kannte sie vorher nicht, aber wir haben uns noch unterhalten, sie war nett.« Sie nahm den Strohhalm wieder zwischen ihre Lippen und saugte, bis es blubberte. »Der ist ja wirklich sehr gut. Es war übrigens ziemlich voll auf dem Frühlingsbasar, wobei eine Menge Leute von außerhalb dabei waren, die meisten kamen gar nicht aus dem Dorf. Ich habe nicht viele Bekannte getroffen. Vielleicht stimmen die Gerüchte, dass es einige Frauen unter uns gibt, die gerade Frühlingsgefühle haben und deshalb auf der Suche nach der großen Liebe sind. Und das mithilfe von moderner Technik. Das zieht natürlich auch anderes Publikum an.«

»Moderne Technik?« Hilke sah sie an. »Was denn für eine … oh, ist das mein Handy?« Tatsächlich kam ein Geräusch aus Hilkes Tasche, es wurde lauter, als sie das Handy hervorzog. Mit einem entschuldigenden Blick nahm sie das Gespräch an. »Hallo? Ich bin …«

Sie runzelte die Stirn, während sie zuhörte, dann nickte sie langsam. »Okay. Ja, da kann man nichts machen … nein, das ist nicht schlimm … wirklich nicht. Mach dir keine Gedanken, dann gehe ich vielleicht allein … ja, natürlich … gut, dann meldest du dich, wenn du fertig bist. Okay, bis später, tschüss, tschüss.«

Britt musterte sie neugierig, während Hilke das Telefon wieder in ihrer Tasche verstaute. »Das war meine Kinoverabredung«, sagte sie unvermittelt. »Er musste leider absagen, ihm ist etwas dazwischengekommen. Na ja. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Ach, das ist ja …«, mit aufgerissenen Augen sah Britt sie an. »Das ist ja ärgerlich. War das dein Freund?«

»Ja, es ist aber auch keine Katastrophe. Hast du vielleicht Lust? Der Film heißt Liebe am Meer , er soll sehr schön sein. Und die Karten habe ich ja schon gekauft.«

»Och, warum nicht?« Britt nickte nach einem Moment. »Ich war ewig nicht im Kino. Ich müsste nur schnell zu Hause anrufen, dass ich später komme, aber das ist kein Problem. Sehr gern.«

Während sie ihren Mann anrief, signalisierte Hilke der Bedienung, dass sie zahlen wollte. Es war schade, sie hatte sich auf einen Kinoabend zu zweit gefreut, aber es ließ sich nun mal nicht ändern. Und wenn Britt Elvers Lust hatte, musste die Kinokarte ja auch nicht verfallen.

 

Als sie kurz darauf die wenigen Meter bis zum Kino schlenderten, sahen sie schon eine Traube von Kinobesuchern vor der Tür auf den Einlass warten.

»Es sieht aus, als würden sich nur Frauen für Liebe am Meer interessieren«, bemerkte Britt und sah sich um. »Hier sind ja kaum Männer. Ist das denn so eine richtig schöne Schmonzette? Mit Liebe und Happy End und so?«

»Ich hoffe«, antwortete Hilke. »Ich mag die Hauptdarstellerin, deshalb wollte ich den Film gern sehen. Und gegen Liebe und Happy End habe ich auch nichts.«

»Nein«, Britt grinste. »Ich habe schon gehört, dass du in dieser Hinsicht auch gerade Glück hattest. Hast du ihn auch über so eine Dating-App kennengelernt? Zufällig die, über die gerade alle reden? Hast du deshalb eine neue Frisur und diese schöne Jacke … Hoppla, Entschuldigung«, Britt hatte beim Umdrehen eine Frau angerempelt, die einen Schritt zurücktrat. »Ich habe Sie gar nicht gesehen, es tut mir leid, ach, Sie sind das, hallo.«

Die Frau sah erst Britt, dann Hilke fragend an, sie hatte offenbar keine Ahnung, wer da plötzlich vor ihr stand. »Ich … ähm, es ist ja nichts passiert.«

Britt streckte sofort ihre Hand aus. »Wir haben uns beim Frühlingsbasar getroffen, ich bin die, die sich die Erdbeertorte auf die Bluse gekleckert hat, Sie waren so nett, mir beim Reinigen behilflich zu sein. Britt Elvers. Und das hier ist übrigens Hilke Petersen, die Sie vertreten haben, Hilke, das ist Elvira ähm …«

»Ah, jetzt erkenne ich Sie«, die Frau lächelte erst Britt, dann Hilke an. »Elvira Sander, ja, das freut mich, Frau Petersen, ich hoffe, ich konnte Sie gebührend ersetzen.«

»Bestimmt«, Hilke schüttelte ihr die Hand. »Und Sie sehen auch gleich Liebe am Meer

»Ja«, sie nickte. »Eigentlich wollte ich ihn zusammen mit einer Bekannten anschauen, ach, Sie kennen sie ja bestimmt, Hella Fröhlich, aber sie hat vor zehn Minuten angerufen und abgesagt, ihr ist was dazwischengekommen. Aber jetzt bin ich schon mal hier und gehe eben allein rein. Unterhalten kann man sich während des Films ja sowieso nicht.«

Das stimmt, dachte Hilke, aber man konnte die Hand von jemandem halten. Nur vielleicht nicht gerade die von Hella oder Britt. Sie musste lächeln.

Während Britt und die nette Frau Sander sich noch über den Frühlingsbasar unterhielten, sah Hilke an ihnen vorbei. Dort entdeckte sie tatsächlich zwei Männer, beide groß und schlank, der eine schon älter, der andere noch sehr jung. Sie kamen langsam in ihre Richtung, nur wenige Meter vor dem Kino fiel der Blick des Älteren auf das Filmplakat, auf das er mit entsetztem Gesicht deutete. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, Jannis. Was habe ich dir getan? Warum soll ich mir so eine Schnulze ansehen?«

Britt und Frau Sander bekamen den Disput gar nicht mit, nur Hilke beobachtete amüsiert das zerknirschte Gesicht des anderen, der beschwichtigend sagte: »Der Film ist ganz berühmt für seine Naturaufnahmen. Der wird dir gefallen, es gibt tolle …«

»Naturaufnahmen, ich zeig dir gleich Naturaufnahmen. Liebe am Meer , also, ich weiß nicht, was bei dir schiefläuft, ich geh wieder nach Hause. Um neun kommt die Champions League, das ist mir aber hundertmal lieber als so ein Mädchenfilm«, er wandte sich entschlossen ab und wollte gehen.

»Peer, jetzt warte«, der Jüngere sah ihn flehend an. »Wir können doch mal was zusammen machen, du wirst sehen, der ist ganz schön. Wann warst du denn das letzte Mal im Kino? Gab es da überhaupt schon Farbfilme?«

»Witzig, sehr witzig. Du kannst dir das allein ansehen, ich bin weg.« Er setzte sich tatsächlich in Bewegung, der Jüngere wollte ihm folgen, drehte sich dabei ungeschickt um und rempelte mit Schwung Elvira Sander an. Erschrocken fuhr sie herum und funkelte den jungen Mann an, der die Hände hob, aber loslief, um seinen Begleiter einzuholen. »Es tut mir leid«, rief er ihr hektisch zu. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich … Peer, Herrgott, jetzt warte doch mal. Sei doch nicht immer so stur …«

Kopfschüttelnd sah Elvira Sander ihm nach, bis sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck änderte. Sie schaute an dem jungen Mann vorbei, als hätte sie einen Geist gesehen. Hilke folgte ihrem Blick und beobachtete den älteren Herrn, der gerade die Hand des Jungen abschüttelte und dabei zufällig in Elviras Richtung sah. Jetzt blieb er stehen, lächelte plötzlich und hob langsam die Hand. Elvira lächelte zurück, dann beugte sie sich zu Britt und sagte: »Entschuldigen Sie, ich habe da gerade einen Bekannten getroffen, den ich ganz schnell begrüßen muss.«

Inzwischen sahen beide Männer sie an, der ältere überrascht und freundlich, der jüngere mit einem Hauch von Triumph. Als Elvira auf die beiden zukam, streckte sie die Hand aus, die der ältere sofort ergriff. »Sie sind das«, sagte Elvira freudig. »Das ist ja eine Überraschung. Wollten Sie gerade wieder gehen?«

»Mein alberner Neffe hier hat anscheinend eine Vorliebe für Filme, mit denen ich nichts anfangen kann«, sagte er und hielt ihre Hand immer noch fest. »Ich dachte, es gäbe einen Abenteuerfilm.«

»Oh, nein«, Elvira lächelte. »Ein Abenteuerfilm ist das nicht. Aber er ist ganz schön. Vielleicht sehen Sie ihn sich trotzdem an? Und vielleicht können wir anschließend zusammen etwas trinken gehen?«

»Das ist doch eine sehr gute Idee«, rief der Neffe dazwischen. »Peer, mach das doch.«

Langsam schüttelte Peer den Kopf. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte er. »Wir gehen jetzt zusammen etwas trinken und mein Neffe sieht sich den Film allein an.« Er deutete auf Jannis, dann sah er Elvira an. »Mein Name ist übrigens Peer Sörensen. Wollen wir gehen?«

»Elvira Sander«, sie lächelte. »Sehr gern.«

Hilke und Britt sahen Elvira Sander an der Seite des älteren Mannes weggehen, der jüngere blieb unentschlossen stehen und schaute ihnen hinterher. Als sie sich weit genug entfernt hatten, griff er zu seinem Handy und tippte eine SMS . Zufrieden lächelnd steckte er danach das Telefon wieder weg und schlenderte vom Kino weg in Richtung Strand.