Der Anzug war ihm viel zu eng, die Weste hinderte ihn am Atmen, die Jacke kniff erbarmungslos an den Schultern. Seine Schuhe waren so schwer, dass er sich nur mühsam den sandigen Weg entlangschleppen konnte, immer weiter auf die Gruppe zu, die oben auf der Düne stand und ihn erwartete. Ihm war heiß, ihm war so furchtbar heiß, alle sahen ihm entgegen, plötzlich fingen sie an, zu winken und mit Reis zu werfen, es waren nur Frauen, er erkannte Hella und Minna, da stand auch Renate aus der Damenoberbekleidung, die ihn böse anstarrte. Ernst griff sich an den Kragen, wenn er doch nur besser Luft bekäme, und stapfte weiter durch den Sand, vorbei an einer Frau, die lauter Erdbeertörtchen auf einem Tablett balancierte und ein Lied sang. Endlich kam er oben an, er sah sich um, wusste nicht, was er hier sollte, und dann sah er sie: Es war die dicke Frau vom Ordnungsamt. In einem Brautkleid. Sie lachte. Und Ernst schrie so laut er konnte.
»Ernst«, er spürte einen harten Griff an seiner Schulter, er wurde geschüttelt, dann brüllte wieder jemand: »Ernst, hallo?«
»Nein«, rief er angsterfüllt. »Nein, nein, bitte nicht, nein.«
»Ernst, Herrgott, wach auf.«
Als er die Augen aufschlug, sah er Gudrun, die sich über ihn beugte und ihn schon wieder schüttelte. »Meine Güte, was ist denn mit dir los? Wach auf, du hast schlechte Träume.«
Er versuchte, sich aufzusetzen, es ging nicht, er hatte sich so in die Decke eingerollt, dass er völlig bewegungsunfähig war. Kurz entschlossen riss Gudrun an der Wolldecke und befreite ihn aus seinem Kokon. »Du solltest nicht so viel Kaffee trinken, bevor du Mittagsschlaf machst. Du bist ja so unruhig.«
Langsam und unendlich erleichtert setzte Ernst sich auf und lächelte seine Frau an. »Danke, ich danke dir. Ich stehe auf, noch mal danke.«
Langsam richtete Gudrun sich auf und sah ihn kopfschüttelnd an. »Hella hat angerufen, du sollst sie gleich zurückrufen. Es ist wichtig. Ich habe dir das Telefon auf den Tisch gelegt. Kannst du schon reden?«
»Ja«, sofort schlug Ernst die Decke zurück und stand auf. »Natürlich. Warum sollte ich nicht reden können? Es ist alles in Ordnung, es war nur ein schlechter Traum.«
»Was ist nur los mit dir?«, Gudrun war an der Tür stehen geblieben und musterte ihn. »Du bist seit Tagen so nervös und angespannt. Gibt es etwas, das ich wissen muss?«
»Nein, nein«, Ernst nahm das Telefon vom Tisch und sah sie treuherzig an. »Es gibt nichts, das du wissen muss. Es ist alles fein.«
»Aha«, nach einem langen Blick auf ihn atmete Gudrun tief durch. »Dein Wort in Gottes Ohr. Und du wolltest gleich zum Getränkemarkt fahren, ich habe das Leergut schon ins Auto gestellt.«
»Aber ja, mein Herz«, er lächelte sie an. »Ich telefoniere nur schnell und dann mache ich mich auf den Weg. Natürlich wird alles erledigt.«
»Gut«, sie wandte sich ab. Beim Verlassen des Wohnzimmers ließ sie die Tür offen, Ernst ging auf Zehenspitzen hin und schloss sie mit angehaltenem Atem so leise es ging. Erst dann drückte er auf Hellas Nummer.
»Na, endlich«, hörte er sie schon nach dem ersten Freizeichen. »Ich habe es gestern Abend schon ewig versucht, da war dauernd besetzt und vorhin ging keiner ran. Kannst du reden?«
»Nicht so laut«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, ob Gudrun hinter der Tür steht. Gestern Abend hat sie stundenlang mit Wiebke telefoniert und vorhin waren wir im Garten. Aber ich kann jetzt schlecht über erdbeertörtchen reden, obwohl es sehr aufschlussreich war …«
»Das kannst du später erzählen«, unterbrach Hella ihn aufgeregt. »Wir haben gestern den Durchbruch geschafft, du wirst es nicht glauben, aber ich habe den Hauptverdächtigen getroffen und leider muss ich deine Befürchtungen, was Hilke betrifft, bestätigen.«
»Was?«, aufgeregt verstärkte Ernst den Griff um das Telefon. »Was heißt wir? Und welche Befürchtungen? Und welcher Hauptverdächtige? Und was für ein Durchbruch?«
»gastronom100 . Der weiße SUV . Ich hatte ein Date mit ihm. Und Martina war als Zeugin dabei.«
»Nein«, fassungslos ließ Ernst sich auf einen Stuhl sinken. »Und Hilke? Was ist mit Hilke? Was hat sich bestätigt?«
»Ach, Ernst«, in Hellas Stimme schwang Mitgefühl. »Du hattest recht, Hilke steckt vermutlich mittendrin. Der Mann hat mich nach unserem Date noch ein Stück mitgenommen. In seinem weißen SUV mit dem Hamburger Kennzeichen und der dicken Schramme. Und dabei habe ich auf der Rückbank etwas entdeckt, halt dich fest, es war ein pinkes Tuch mit gelben Herzen, es gehört Hilke, ich habe es sofort erkannt. Sie ist in diesem Auto gewesen. Sie ist auf ihn reingefallen.«
»Ich«, Ernst rang nach Luft, »ich habe es befürchtet. Was machen …«
»Ernst?«, plötzlich riss Gudrun die Wohnzimmertür auf. »Wieso ist die Tür zugeknallt? War hier ein Fenster offen? Ach, du telefonierst noch, du solltest langsam los, es wird sonst zu spät.«
»Ja, Gudrun«, sagte Ernst sehr laut. »Ich bin gleich fertig. Also, Hella, dann komme ich auf dem Rückweg vom Getränkemarkt bei dir vorbei und wir gehen die Zahlungen für den Kinder-Club gemeinsam durch. Das kann kein Fehler sein, sonst müssen wir Martina dazubitten. Also bis nachher.«
Er legte das Telefon wieder auf den Tisch und sah Gudrun achselzuckend an. »Hella hat da ein Problem mit den Quittungen, ich fahr später mal bei ihr vorbei.«
»Das macht doch alles Martina«, sagte Gudrun zweifelnd. »Die ganze Buchhaltung für den Kinder-Club. Zusammen mit Hilke Petersen. Was hat Hella denn damit zu tun?«
»Frag mich nicht«, Ernst zog seine Strickjacke über und griff nach der Brieftasche. »Ich kümmere mich jetzt um die Getränke und danach um den Kinder-Club. Wo ist eigentlich Mats?«
»Oben«, Gudrun deutete an die Decke. »Er hatte gestern Abend wohl ein paar Bier zu viel. Er liegt mit Kopfhörern im Bett und will nicht gestört werden. Lass ihn mal in Ruhe, du hast ihn ja die ganzen letzten Tage mit Beschlag belegt. So viel Opa-Zeit ist vielleicht für einen jungen Mann auch nicht gesund.«
»Dann fahre ich jetzt. Bis später.«
Bevor Gudrun noch irgendwas sagen konnte, war Ernst schon an der Haustür. Jetzt musste er erst mal verdauen, was er gerade am Telefon gehört hatte.
Genau vor dem Eingang des Getränkemarkts wurde gerade ein Parkplatz frei, Ernst lenkte den Wagen in die Lücke und stieg aus. Er musste sich beeilen, um so schnell wie möglich zu Hella zu kommen. Wenn sie tatsächlich Beweise für die vermuteten kriminellen Machenschaften hatte, mussten sie einen bombensicheren Plan machen, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Wenn möglich zunächst ohne Polizei, auch um Hilkes Ruf nicht zu beschädigen. Nicht, dass alle erfuhren, dass sie, so wie Wilma S., das peinliche Opfer eines Liebesschwindlers geworden war. Er hoffte nur, dass es für Hilke nicht schon ein finanzielles Desaster geworden war. Vielleicht könnten sie doch noch rechtzeitig eingreifen, eventuell war es noch nicht zu spät.
So schnell es ging, stapelte Ernst das Leergut auf einen Einkaufswagen und steuerte damit auf den Getränkemarkt zu. In Windeseile schob er die Kisten in das Leergutgerät, zog den Bon ab und eilte mit dem Wagen in den Markt. Vier Kisten Wasser, zwei Kisten Bier, murmelte er leise und steuerte direkt auf die Wasserabteilung zu, die Augen auf die Kisten an der Wand gerichtet, nicht auf den Gang, was er erst merkte, als ihm jemand mit Schmackes in seinen Wagen fuhr. Durch den Aufprall wurde dieser ihm aus den Händen gerissen und krachte gegen eine Bierkistenpyramide, die zwar etwas ins Wanken geriet, aber stabil blieb. Aufatmend zog Ernst den Wagen weg, bevor er sich zum Unfallverursacher drehte. »Können Sie nicht ein bisschen …«
Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken, als er sah, wer ihn da gerammt hatte. Die dicke Frau vom Ordnungsamt. superwoman! Es war doch nicht möglich. Er deutete ein schwaches Lächeln an. »Ist ja nichts passiert«, nuschelte er leise und zog seinen Wagen mit sich. »Schönen …«
»Moment«, die Stimme war harsch und schneidend, Ernst blieb sofort stehen und drehte sich zu ihr um. Sie ließ ihren vollen Wagen an der Seite stehen und kam langsam auf ihn zu, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, die Lippen zu einem dünnen Strich gepresst. Als sie dicht vor ihm stand, bohrte sie ihm den Finger in die Brust. »Ha«, schnaufte sie laut. »Ich habe Sie erkannt. Und dieses Mal können Sie nicht abhauen.«
»Aber wieso? Ich haue doch nicht …«
»jamesbond006 « , ihr Finger bohrte sich jetzt tiefer in seine Brust. »Aber im Gegensatz zum richtigen Bond haben Sie nicht die feine englische Art. Sich verabreden und dann nicht erscheinen, das sind mir die Richtigen. Schämen Sie sich nicht?«
»Das muss ein Missverständnis sein«, Ernst trat einen Schritt zurück. »Ich weiß leider nicht, wovon Sie sprechen. Mein Name ist Mannsen, Ernst Mannsen.«
»Ja, ja, aber Sie nennen sich Bond, jamesbond006 . Ich habe doch Ihr Bild gesehen, ich bin doch nicht blöde. Aber das sind die Richtigen, Dates ausmachen und nicht kommen. Warum tun Sie das? Wollten Sie mich verarschen?«
»Nein, ich …«, Ernst sah sich nervös um, hoffentlich bekam niemand dieses Gespräch mit, was sollten die Leute nur von ihm denken? Und er hatte für diese Art Unterhaltung jetzt auch überhaupt keine Zeit, er musste zu Hella, vielleicht war Gefahr im Verzug, sie mussten dringend reden. »Hören Sie«, versuchte er es jetzt in Ruhe. »Sie haben da etwas falsch verstanden, ich kann es Ihnen nur im Moment nicht erklären, aber ich verspreche, dass ich das noch machen werde. Nur ausgerechnet jetzt bin ich sehr in Eile und habe gleich noch einen Termin, in dem es fast schon um Leben und Tod geht. Also, lassen Sie uns die Klärung dieses Missverständnisses verschieben, wie gesagt, ich kann das alles erklären. Nur nicht jetzt.«
»Da bin ich ja gespannt«, sie verschränkte die Arme unter ihrem Busen und sah ihn streng an. »Sogar sehr gespannt. Ich nehme diese App nämlich sehr ernst und ich habe keine Lust, verstehen Sie, überhaupt keine Lust, mich von irgendwelchen gelangweilten Rentnern veräppeln zu lassen. Wenn Sie meinen, solche Plattformen zum Spaß benutzen zu können, dann haben Sie sich geirrt. Andere Menschen meinen es nämlich durchaus ernst mit der Suche.«
»Unbenommen«, versicherte Ernst ihr und hob beschwichtigend die Hände. »Das glaube ich sofort und finde das auch sehr gut. Und wie gesagt, ich bin natürlich bereit, Ihnen alles zu erklären, aber vielleicht mal an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Und jetzt muss ich Sie bitten, Verständnis für mich zu haben, ich muss mich wirklich beeilen, weil ich noch etwas Wichtiges zu erledigen habe.«
superwoman! hob zwei Finger an ihre Augen und deutete anschließend damit auf ihn. »Wir sind noch nicht fertig, Ernst Mannsen«, sagte sie mit einer gefährlichen Ruhe. »Ich finde Sie. Und dann will ich eine Erklärung.«
»Natürlich, gern.« Ernst schluckte, während sie, mit Blick auf ihn, ein paar Schritte rückwärts ging, sich dann umdrehte und ihren Wagen schließlich in Richtung Kasse schob. Erleichtert atmete er aus. Er würde drei Kreuze machen, wenn Mats ihn endlich aus dieser schrecklichen App abmeldete. Er hatte einfach nicht die Nerven für solche Dinge. Und vielleicht würde es schon bald vorbei sein, das kam jetzt ganz darauf an, was Hella herausgefunden hatte. Bald, hoffte er, ganz bald, würden sie die Bombe platzen lassen.