»Die Strähnchen sind immer noch sehr schön«, bewunderte Sabine ihre eigene Arbeit, während sie Hilke den Frisierumhang über die Schultern legte. »Die brauchen wir noch nicht aufzufrischen. Also heute nur waschen, schneiden und föhnen?«
»Ja, bitte«, Hilke nickte. »Ich habe auch nicht so viel Zeit, ich muss in einer Stunde wieder im Büro sein, das schaffst du doch, oder?«
»Locker«, Sabine lächelte. »Dann komm mal mit zum Waschen.«
Hilke schloss wohlig seufzend die Augen, während Sabine mit sanftem Druck das Shampoo einmassierte. Sie ließ sich gern die Haare waschen, sie fand es so entspannend. Noch schöner wäre es allerdings gewesen, wenn Sabine schweigend waschen würde. Das tat sie nur leider nie. Sie musste reden, Stille ertrug sie nicht. »Und? Wie geht es dir so?«
»Gut, danke.« Auch kurze Antworten hielten Sabine nicht vom Plaudern ab.
»Das ist schön. Das hast du auch verdient. Bei mir läuft es noch nicht so gut, falls du mich das noch fragen wolltest.«
Wollte Hilke nicht, es war Sabine aber egal, sie fuhr unbekümmert fort. »Ich habe bislang nur zwei Dates gehabt, die konnte man aber beide vergessen. Wenn ich mir hier immer von den Kundinnen anhöre, wer schon alles wen getroffen hat, wundert es mich auch nicht, dass für mich bald keiner mehr übrig bleibt. Selbst Ute Carstens hat Glück gehabt, zumindest kam sie neulich hier ganz aufgeregt rein und hat erzählt, dass sie einen ganz sympathischen Mann kennengelernt hat. Einen Witwer aus Morsum, sehr nett, sie waren schon zweimal miteinander aus und wollten jetzt am Wochenende mit den Fahrrädern nach Dänemark. Das freut mich echt für Ute, beim ersten Mal hat die ja so ein Pech gehabt. Wie war das eigentlich bei dir? Dein Freund ist doch auch in der App aufgetaucht, oder?«
Hilke hatte während der Kopfmassage kaum zugehört, sondern überlegt, wo sie bloß das zweite Paket mit den Gezeitenkalendern hingestellt hatte. Die Kalender waren vor Wochen ins Gemeindebüro geliefert worden, da war sie sich ganz sicher, sie hatte den Karton selbst in der Hand gehabt. Weil das Fach voll war, hatte sie ihn zur Seite gestellt, sie wusste nur nicht mehr an welche Stelle und suchte nun schon seit zwei Tagen.
»Sie sind noch nicht aufgetaucht«, sagte sie automatisch, bis ihr auffiel, dass Sabine vermutlich etwas ganz anderes gefragt hatte. »Ähm, Entschuldigung, was genau wolltest du wissen?«
Sabine drehte den Wasserhahn auf und fing an, das Shampoo abzubrausen. »Na, dein mir noch unbekannter Freund«, sagte sie etwas lauter, um das Wasser zu übertönen. »Hast du den nicht auch in der App gefunden? Das habe ich zumindest irgendwo gehört. Aber apropos App, sag mal, hat Ernst Mannsen dich auch vor dem geheimnisvollen Kriminellen gewarnt, der es nur auf Geld abgesehen hat? Ich habe eine Kundin, die arbeitet hier im Hotel am Strand und kommt jeden Tag mit dem Zug aus Risum-Lindholm, die hat mir erzählt, dass sie sich mit ihm getroffen hat. Also mit Ernst. Aber er wollte sie gar nicht kennenlernen, sondern hat ihr einen ellenlangen Vortrag über Kriminalität im Internet gehalten. Die Arme war ganz verstört. Ich habe schon überlegt, ob ich Gudrun bei ihrem nächsten Termin mal was sage, das geht doch überhaupt nicht. Außerdem ist er verheiratet, was pfuscht er denn in dem Portal herum?«
Sie drehte den Wasserhahn ab und griff nach einem Handtuch, das sie mit wenigen Handgriffen um Hilkes Kopf zum Turban band. »So, fertig, du kannst schon rübergehen.«
Verwirrt blieb Hilke sitzen, eine Hand auf dem Turban, den fragenden Blick auf Sabine gerichtet. Sie hatte kein Wort von all dem verstanden, was sie gerade gehört hatte.
»Wo macht Ernst mit?«
»Bei Liebe oder Eierlikör natürlich«, Sabine zeigte auf den Friseurstuhl. »Wir können.«
Hilke stand langsam auf und folgte Sabine, die ihr den Turban abnahm, sobald sie sich gesetzt hatte und die Haare leicht rubbelte. »Das muss ich dir doch wohl nicht erklären, oder?«, Sabine lachte laut auf. »Das muss dir auch nicht peinlich sein, solche Dating-Apps sind mittlerweile eine gängige Art, einen Partner zu finden und, wie gesagt, ich mache da ja auch mit, außerdem noch mindestens sechs weitere Kundinnen von mir und das sind nur die, von denen ich es sicher weiß. Du bist weiß Gott nicht die Einzige.«
»Aha«, Hilke versuchte, die Informationen, die aus Sabine heraussprudelten, zu sortieren. Britt hatte neulich doch auch irgendetwas angedeutet. Was mit einer Dating-App zu tun hatte. Sie hatte nur nicht nachgefragt. Das tat sie jetzt: »Mindestens sechs andere Frauen?«
»Wahrscheinlich noch mehr. Das hast du aber nicht von mir«, Sabine sah sie kurz an, während sie ein paar Strähnen mit Haarklammern wegsteckte. »Die meisten sind vor den Dates immer ganz aufgeregt und lassen sich extra noch die Haare machen«, sie lachte leise und ließ die ersten abgeschnittenen Haare auf den Boden rieseln. »Deshalb weiß ich ja, wer da alles so dabei ist. Aber mit Ausnahme von Ute und dir hat noch niemand einen potenziellen Partner gefunden. Zumindest habe ich noch nichts gehört. War das bei euch eigentlich Liebe auf den ersten Blick oder hast du mehrere Treffen gebraucht, um sicher zu sein?«
»Auf den ersten Blick«, antwortete Hilke langsam und sah Sabine im Spiegel an. »Und was ist jetzt mit Ernst Mannsen? Der macht auch mit? Bei dieser Dating-App?«
»Ja«, Sabine hob die Schultern. »Habe ich gehört. Aber wenn man Minna Paulsen glauben darf, dann ist er ja erst durch dich darauf gekommen. Weil er sich Sorgen gemacht hat, dass das Ganze unseriös ist und du darauf reingefallen bist. Weil du doch plötzlich eine neue Frisur und neue Klamotten hattest. Also jedenfalls glaubt Ernst, dass du deinen Freund so kennengelernt hast. Das hat Minna hier erzählt. Und er hat wohl ein paar Artikel gelesen, dass sich in einigen dieser Portale auch Männer mit betrügerischen Absichten tummeln. Und davor will er wohl alle warnen und hat sich deshalb angemeldet. Das vermute ich zumindest. Am besten fragst du ihn selbst. Du kennst ihn doch gut. Und am allerbesten machst du das schnell, bevor er noch mehr Frauen verschreckt.«
»Ja«, Hilke nickte fassungslos. »Das sollte ich besser mal tun.«
Eine knappe Stunde später saß Hilke wieder an ihrem Schreibtisch in der Gemeinde. Sie rollte unkonzentriert mit ihrem Stuhl vor und zurück und versuchte, sich auf das, was Sabine so unsortiert vor sich hingeredet hatte, einen Reim zu machen. Ernst hatte sich in einer Dating-App angemeldet und belästigte Frauen, die das auch getan hatten? Das konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Und das Ganze auch noch ihretwegen? Das konnte doch nicht wahr sein.
Kurz entschlossen griff sie zum Telefon und rief in der Bank an.
»Friesische Bank, mein Name ist Wolf.«
»Hallo, Martina, hier ist Hilke.«
»Hallo.«
»Du sag mal, ich war gerade beim Friseur und habe von Sabine etwas gehört, das ich kaum glauben kann. Es geht um eine App namens Liebe oder Eierlikör und um Ernst Mannsen, der da irgendwie mitmacht. Sagt dir das was?«
»Ich muss arbeiten.«
»Ja, Martina, ich weiß, ich rufe auch vom Büro aus an. Nur ganz kurz: Weißt du, ob das alles stimmt? Ob Ernst da tatsächlich mitmacht? Hat er mal was gesagt? Normalerweise fragt er dich doch immer, wenn er mit seinem Handy nicht zurechtkommt. Hast du ihm dabei geholfen? Ihm gezeigt, was eine Dating-App ist? Das kann er doch nicht allein.«
»Ich kann dir leider am Telefon keine Auskünfte geben«, Martina blieb unverbindlich. »Es sind auch Kunden in der Bank.«
»Du musst ja nur Ja oder Nein sagen. Sabine hat auch gesagt, dass ich was damit zu tun haben soll. Dass Ernst meinetwegen mitmacht. Stimmt das?«
»Eine lange Geschichte«, sagte Martina. »Die du vermutlich gar nicht wissen willst. Oder hast du auch ein Problem?«
»Ich? Nein, was für ein Problem sollte ich haben? Oder weißt du irgendetwas, was ich noch nicht weiß?«
»Auch das kann ich dir am Telefon nicht sagen. Aber es kann schon sein.«
»Was meinst du jetzt damit?«
»Dass es sein kann. Das Problem. Theoretisch. Ich muss jetzt weitermachen. Wiederhören.«
Sie legte auf und Hilke sah verwirrt aus dem Fenster. Es konnte sein? Was sollte sie denn für ein Problem haben? Mit einem Blick auf die Uhr dachte sie einen Moment nach. Dann rollte sie ihren Stuhl zurück und sprang auf. »Silke?«
»Ja?« Ihre Kollegin hob den Kopf, als Hilke plötzlich mit der Tasche in der Hand vor ihr stand. »Silke, ich muss ganz dringend etwas erledigen. Kannst du hier allein die Stellung halten? Ich weiß nur nicht genau, wie lange es dauert.«
»Ja, klar«, Silke lächelte zustimmend. »Natürlich kannst du gehen, du hast doch sowieso noch so viele Überstunden, ich mach das schon.«
»Danke dir«, Hilke nickte und ging. Es duldete einfach keinen Aufschub.
Sie klingelte ein zweites Mal, dann trat sie ein Stück zurück. Dass niemand zu Hause war, hatte sie nicht erwartet, das war jetzt wirklich ärgerlich. Sie wollte gerade wieder gehen, als sie ein Schild an der Seite bemerkte: Bin im Garten .
Sofort ging sie am Haus entlang und drückte die Gartenpforte auf. Gudrun Mannsen kniete im Rosenbeet und hob sofort den Kopf, als sie das Scharnier quietschen hörte.
»Ach, Hilke«, sie kam mit einem leisen Ächzen hoch und zog ihre Handschuhe aus. »Das ist ja nett, dass du uns besuchst.« Sie schritt vorsichtig durch das Beet und stieg über die kleine Buchsbaumhecke. »Dann komme ich auch mal zu einer kleinen Pause. Kann ich dir was anbieten? Kaffee? Tee? Wasser?«
»Ich wollte gar keine Umstände machen, ich wollte eigentlich nur etwas mit Ernst besprechen«, Hilke lächelte sie an und sah sich um. »So ein schöner Garten. Ist Ernst denn da?«
»Nein«, Gudrun berührte sie leicht am Ellenbogen, um sie zur Terrasse zu dirigieren. »Eigentlich wollte er nur schnell Getränke holen und anschließend noch zu Hella, um irgendetwas mit Quittungen für den Kinder-Club zu klären. Aber er ist schon wieder seit Stunden unterwegs, ich habe keine Ahnung, warum das alles so lange dauert. Und normalerweise werden die Finanzen doch von dir und Martina erledigt, oder?«
»Schon«, Hilke nickte und folgte ihr zu den Gartenstühlen, die unter einem Sonnenschirm standen. »Aber ich hatte in den letzten Wochen wenig Zeit, mich darum zu kümmern, das hat alles Martina gemacht.«
»Na ja«, Gudrun deutete auf einen Stuhl. »Er muss ja irgendwann wiederkommen. Aber vielleicht kann ich dir auch helfen?«
Zögernd setzte Hilke sich. »Ich glaube nicht. Die Frage kann mir vermutlich nur Ernst beantworten. Und ich wollte dich gar nicht aufhalten.«
»Du hältst mich nicht auf«, entgegnete Gudrun. »Ganz im Gegenteil, ich habe sowieso keine Lust mehr, allein im Rosenbeet zu graben, also, worum geht es denn?«
»Ich …«, es war einfach zu verrückt, um es Gudrun zu erzählen, die vermutlich keine Ahnung hatte. Vielleicht hatte Hilke auch alles völlig falsch verstanden oder Sabine hatte sich geirrt. »Du, es ist wirklich nicht so wichtig«, sagte sie deshalb und wollte schon wieder aufstehen. »Ich rufe ihn einfach nachher an.«
»Hat es etwas damit zu tun, dass Ernst sich Sorgen um dein Liebesleben macht und aus welchen Gründen auch immer befürchtet, dass du an den Falschen geraten bist?«
Perplex sah Hilke sie an. »Hat er dir alles erzählt?«
»Ja«, Gudrun deutete ein Lächeln an. »Es ist so typisch für ihn. Er sieht ja überall das Schlechte in der Welt, es ist vielleicht berufsbedingt und weil er früher so gern zur Polizei wollte. Er war irritiert, dass du dich jetzt immer so hübsch zurechtmachst, und glaubt, dass du jemanden kennengelernt hast. Und wahrscheinlich vermutet er, dass mit dem Mann etwas nicht stimmt, weil du ihn noch niemandem vorgestellt hast. Ich habe neulich aus Versehen einen Teil seines Telefongesprächs mit Hella mitbekommen, ich glaube, die beiden haben sich da in etwas hineingesteigert.«
»Aber warum?« Hilke schüttelte irritiert den Kopf. »Er hätte mich doch einfach fragen können.«
»Du kennst ihn doch. Das ist ihm dann auch wieder peinlich. Er hat bestimmt versucht, es auch so rauszubekommen.«
Plötzlich fiel Hilke sein Auftritt in der Gemeinde neulich ein. Was hatte er da gebrüllt? Romance Scamming? Sie hätte doch mal nachfragen sollen, was oder wen er damit gemeint hatte.
»Tja, ich …«, fing sie an, als plötzlich die Gartenpforte aufgestoßen wurde und eine ältere, ziemlich dicke Frau in den Garten marschierte, die schließlich erbost vor ihnen stehen blieb.
»Ach, guten Tag«, sagte Gudrun gelassen und wandte den Kopf in ihre Richtung. »Wollten Sie zu uns oder haben Sie sich im Garten geirrt?«
»Frau Ullrich«, Hilke sah sie erstaunt an. »Ist was passiert?« Sie wandte sich an Gudrun. »Das ist Frau Ullrich vom zuständigen Ordnungsamt und das ist Frau Mannsen.«
»Sie sind Frau Mannsen?« Ohne einen Blick an Hilke zu verschwenden, starrte Frau Ullrich Gudrun böse an. »Das auch noch. Wo ist er?«
»Wer?« Unverändert freundlich, aber mit einer kleinen Irritation im Blick stand Gudrun langsam auf. »Was möchten Sie denn?«
»jamesbond006 «, platzte Frau Ullrich laut heraus. »Er hat mich vorhin so schnöde abserviert, aber das kann ich mir nicht gefallen lassen. Er soll es mir erklären. Und zwar sofort.«
Sie stemmte beide Hände in die Hüften und blickte sich um. »Also, wo ist er?«
»James Bond?« Gudruns Mundwinkel zuckte, Hilfe suchend sah sie Hilke an, die auch nur die Schultern hob und sanft fragte: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Frau Ullrich?«
»Nein«, jetzt wurde sie auch noch laut, »nichts ist in Ordnung, ich will sofort Ernst Mannsen sprechen. Sofort, ich lasse mich nicht noch mal vertrösten.«
»Ich dachte, Sie wollten zu James Bond?« Gudrun versuchte es mit einem Witz, es half aber nichts. Frau Ullrich drehte sich einmal um ihre Achse und rief: »Sie brauchen sich gar nicht zu verstecken, ich weiß, dass Sie hier sind, und ich will eine Erklärung.« Sie fuhr herum, als plötzlich die Gartenpforte laut quietschte. Auch Gudrun und Hilke drehten die Köpfe. Aber es war nicht James Bond, der plötzlich in den Garten kam, es war nur Mats. Die Kopfhörer um den Hals baumelnd, die Hände in den Taschen der Jogginghose vergraben, blieb er auf der Stelle stehen und starrte entsetzt Frau Ullrich, dann Hilke und zum Schluss Gudrun an. Er hob die Hand und kratzte sich verlegen am Kopf, bevor er leise sagte: »Oma, es ist nicht so, wie es aussieht. Ich kann dir alles erklären. Er meint es nur gut.«
Gudrun sah von ihrem Enkel zu Hilke und der immer noch erbosten Frau Ullrich, dann atmete sie tief durch und sagte: »Frau Ullrich, setzen Sie sich bitte. Mats, du auch. Ich hole was zu trinken und dann wollen wir alles hören, was nicht so ist, wie es aussieht. Und zwar ausführlich.«