28.

»Peer?«

Jannis warf seinen Rucksack auf den kleinen Stuhl im Flur und drückte die Tür zur Küche auf. Sie war leer, es war alles aufgeräumt, kein gedeckter Tisch, keine Töpfe auf dem Herd, kein Peer, dafür ein Strauß Frühlingsblumen, noch in Papier eingeschlagen, in einer Vase auf der Fensterbank. Er ließ den Türgriff los und rief in den Flur. »Peer? Wo bist du denn?«

»Brüll doch hier nicht so rum«, Peer kam in diesem Augenblick aus dem Bad, dunkelblaue Hose, blau-weiß gestreiftes Hemd, eine Duftwolke hüllte ihn ein, während er im Gehen seine Manschettenknöpfe schloss. »Zu essen gibt es heute nichts, ich gehe aus. Du kannst dir die Nudeln von gestern Mittag warm machen.«

Langsam ging er in die Küche, dicht gefolgt von Jannis, der ihn überrascht ansah. Das letzte Mal, dass er seinen Onkel im Hemd gesehen hatte, war der Tag seiner Abiturfeier gewesen. Vor fünf Jahren.

»Oha, da muss ja ganz schön was passiert sein«, sagte Jannis jetzt laut und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Erzähl. Wer war die Dame?«

Peer warf ihm einen langen Blick zu. »Wie war der Film? Schön? Hast du geweint?«

»Allein hatte ich keine Lust. Ich habe noch ein Bier auf der Promenade getrunken und bin dann nach Hause gegangen.« Gespannt sah Jannis ihn an. »Wer war das denn jetzt?«

Peer lächelte wie aus Versehen und wurde sofort wieder ernst. »Die Dame heißt Elvira Sander. Sie war diejenige, die mich neulich am Bahnhof angefahren und mich noch ins Krankenhaus gebracht hat. Und nun haben wir uns zufällig wiedergetroffen.«

»Zufällig«, Jannis biss sich auf die Lippen, es war zu ärgerlich, dass er Hella versprochen hatte, nicht über dieses Kuppelmanöver zu reden. Wenigstens für den Moment. »Das ist ja wirklich ein lustiger Zufall. Und dann seid ihr was trinken gewesen? Wie lange ging das denn? Ich habe dich überhaupt nicht nach Hause kommen hören.«

»Es war halb zwei«, jetzt lächelte Peer. »Ein sehr schöner Abend, er verging wie im Flug. Als ich zurückkam, habe ich dein Schnarchen bis auf den Flur gehört.«

»Ich deins heute Morgen«, entgegnete Jannis. »Du hast um acht immer noch gepennt, da musste ich schon zum Dienst. Und wieso hast du dich jetzt so aufgebrezelt?«

»Wir haben uns heute noch mal verabredet, die Frau Sander und ich, und wir gehen zum Essen ins Restaurant Strandliebe . Ich hole sie gleich ab.«

Er hob den Kopf, als es klingelte, und sah auf die Uhr. »Wer ist denn das jetzt? Lass mich mal durch.«

Schnell ging er zur Tür und riss sie auf. »Hermann?« Erstaunt trat Peer zurück und musterte ihn. Hermann trug eine dunkelblaue Hose und ein blau-weiß gestreiftes Hemd. »Was hast du denn vor?«

Hermann lächelte ihn breit an und hob eine kleine Tüte hoch. »Ich wollte mich bei Jannis bedanken.« Er sah über Peers Schulter und entdeckte Jannis im Flur. »Da bist du ja. Du wirst nicht glauben, was passiert ist.«

Er ging auf Jannis zu und schlug ihn leicht auf die Schulter, bevor er ihm die Tüte feierlich überreichte. »Du hast doch gesagt, dass du manchmal gern Rum trinkst. Das hier ist ein sehr besonderer, als Dankeschön.«

»Du hast …«, Jannis warf einen kurzen Blick auf Peer, der dem Gespräch mit einem fragenden Gesichtsausdruck folgte, »… dich ja schick angezogen«, vervollständigte er den Satz und sah zwischen beiden hin und her. »Habt ihr das Hemd zusammen gekauft?«

Beide sahen an sich herunter. »Blau-weiß gestreift ist zeitlos«, sagte Peer und sah auf die Uhr. »Hermann, ich habe leider nicht viel Zeit, ich bin verabredet. In einer halben Stunde muss ich los.«

»Du auch?«, Hermann hob das Kinn. »Das ist ja … also, ich bin auch zum Essen verabredet. Ein bisschen schicker. Deswegen auch im Hemd. Oder hätte ich noch eine Krawatte umbinden müssen?«

»Wo gehst du denn hin?« Jannis klaubte einen Fussel von Hermanns Hemd. »Für Gosch reicht es.«

»Gosch«, Hermann schnaubte. »Wir gehen ins Restaurant Strandliebe

»Ach«, Jannis grinste. »Gleiches Hemd, gleicher Laden. Dann könnt ihr ja zusammen gehen.«

Peer blickte erst Jannis, dann Hermann erstaunt an. »Du gehst ins Restaurant Strandliebe ? Und wofür musst du dich bei Jannis bedanken?«

»Wofür?« Hermann schluckte trocken. »Kannst du dir das nicht denken? Kann ich erst mal ein Glas Wasser haben? Ich bin ganz ausgedörrt. Vielleicht die Aufregung.«

Jannis holte Gläser aus dem Schrank, während Hermann und Peer sich an den Tisch setzten. Hermann sah Peer an, dann stupste er ihn am Arm an und grinste. »Und bei dir hat das auch funktioniert? Von wegen Strandliebe ?« Er deutete auf Jannis. »Das ist doch gut, dass du einen so cleveren Neffen hast, der das alles kann. Das hätte ich nie gedacht, nie, zum Glück hatten wir genug Bier intus, sonst hätte ich Jannis gar nicht machen lassen und mich weiterhin gesträubt. Nur weil man denkt, dass man zu alt und zu dumm für eine solche Technik ist. Dabei ist das alles ganz einfach.« Er nahm Jannis das Glas ab und trank hastig.

Peer hatte ihm die ganze Zeit angestrengt zugehört, jetzt nutzte er die Pause und sagte langsam: »Ich verstehe kein Wort. Für welche Technik bist du zu dumm? Und was hat bei mir auch funktioniert?«

»Diese App«, erklärte Hermann und wischte sich mit dem Taschentuch den Mund ab. »Diese Dating-App für einsame Menschen. Das hat sich doch wirklich ein kluger Mensch ausgedacht.«

Peers Augenbrauen waren oben. »Welche App?« Er sprach das Wort aus, als sei das etwas Klebriges.

»Ach, Peer«, Hermann ließ sich im Stuhl zurückfallen und stopfte das Taschentuch in die Hosentasche. »Liebe oder Eierlikör. Das hat uns Jannis doch erklärt. Und bei mir hat es funktioniert.«

Langsam ging Peers Blick zu Jannis, der ihn unbekümmert ansah. »Sagen wir mal so, du hattest keinen Bock mehr, mir zuzuhören, und bist irgendwann ins Bett gegangen. Und Hermann ist sitzen geblieben und hat mich machen lassen.«

»Aber du hast mir doch gesagt, dass Peer das auch hat«, erstaunt wandte Hermann sich an Jannis. »Auf seinem neuen Handy?«

»Was genau habe ich auf meinem neuen Handy?« Peers Stimme war jetzt frostig.

Jannis seufzte resigniert, bevor er seinen Onkel ansah. »Ich habe ein paarmal versucht, es dir zu erklären, aber das hat dich ja gar nicht interessiert. Auf deinem Handy ist eine App installiert, in der du auch angemeldet bist. Um eine Partnerin zu finden, Mama fand die Idee super. Das habe ich euch erzählt, an dem Abend, an dem wir beide uns eigentlich in der Buhne 16 treffen wollten und du mich versetzt und stattdessen mit Hermann im Garten Bier getrunken hast. Als ich zurückkam, habe ich davon erzählt, dass sich in der Buhne 16 offensichtlich auch Menschen treffen, die sich über diese Dating-App kontaktiert haben. Das fandest du aber uninteressant und bist ins Bett gegangen. Aber Hermann hat nachgefragt und wollte alles wissen.«

»Wir haben nicht darüber gesprochen«, korrigierte Peer. »Du hast da irgendwelche wilden Geschichten erzählt, die mich überhaupt nicht interessiert haben. Und deshalb bin ich ins Bett gegangen.«

»Wärst du mal geblieben«, Hermann sah ihn an. »Dann hättest du nicht wieder die wichtigen Dinge verpasst.«

»Dating-Apps?« Peer schüttelte den Kopf. »Ich wollte noch nicht mal dieses blöde Handy.« Er machte eine kleine Pause, sah plötzlich alarmiert Jannis an und fragte: »Was heißt, ich bin da angemeldet? Das kann jetzt jeder sehen, oder was?«

Jannis zog den Kopf ein. »Nicht jeder. Nur die Frauen, die da angemeldet sind.«

»Bist du verrückt?«, Peer fuhr herum, griff das Handy aus dem Regal hinter sich und schob es zu Jannis. »Mach das weg. Und zwar sofort.«

Achselzuckend rief Jannis die App auf und hielt sie Peer bedauernd hin. »Neunzehn Anfragen und du hast nicht eine davon beantwortet.«

Neugierig sah Hermann aufs Display. »Respekt, so viele hatte ich nicht. Nur vier. Aber dafür war das zweite Treffen schon ein Erfolg. Sie heißt übrigens Ute. Wir sind heute schon zum dritten Mal verabredet.« Er lächelte zufrieden und sah Jannis beim Löschen der App zu, bevor er sein eigenes Handy aus der Tasche zog und danebenlegte. »Meine kannst du jetzt auch löschen. Ich glaube, ich muss niemand anderen mehr treffen. Die ist schon die Richtige.«

Peer schüttelte immer noch den Kopf. »Ich fasse es nicht. Mir fehlen die Worte. Wie kommt ihr denn auf so einen Blödsinn?«

»Es ist kein Blödsinn«, widersprach Hermann. »Das ist eine sehr gute Möglichkeit, jemanden kennenzulernen. Und ich bin wirklich froh, dass Jannis mir davon erzählt hat. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal eine Frau treffen würde, die mir gefällt. In meinem Alter. Und hier auf der Insel.«

»Du weißt doch gar nicht, was für Menschen da mitmachen. Das könnten auch Verrückte sein, an die du da gerätst«, Peer sah ihn immer noch fassungslos an. »Man kann doch auch auf normale Art jemanden kennenlernen. Statt im Internet.«

»Wo denn?«, fragte Hermann sofort zurück. »Beim Einkaufen? Oder beim Tanken? Ich bin seit drei Jahren Witwer, ich habe in der Zeit niemanden kennengelernt. In unserem Alter ist das schwer. Wir gehen doch allein nirgendwo mehr hin. Ich weiß gar nicht, warum du dich darüber aufregst, ich fand, das war eine tolle Idee. Oh, ich muss los«, er trank sein Wasser aus und sprang auf. »Ich hole Ute aus List ab. Geht ihr wirklich auch ins Restaurant Strandliebe

Peer nickte. »Der Tisch ist um halb acht bestellt.«

»Das ist ja ein Zufall, dann sehen wir uns ja noch«, Hermann schlug ihm lächelnd auf die Schulter. »Ich bin der mit der hübschen Frau. Schönen Abend und noch mal danke, Jannis.«

Sie sahen ihm schweigend nach, bis die Haustür hinter ihm zuschlug. Nach einer ganzen Weile drehte Peer sich um und sagte: »Denk nicht, dass ich mit diesen Dingen einverstanden bin, aber ich muss zugeben, im Fall von Hermann war das eine gute Idee. Der Mann blüht ja regelrecht auf.«

»Siehst du«, Jannis grinste, »es muss sich ja nicht jeder über den Haufen fahren lassen, um jemanden kennenzulernen.«

Peer erhob sich langsam. »Wir sind trotzdem noch nicht durch mit dem Thema. Dass ihr mich da so einfach angemeldet habt, das ist wirklich dreist. Und völlig umsonst gewesen. Aber jetzt muss ich los.« Er ging zum Fenster, griff nach dem Strauß in der Vase und ließ das Wasser über der Spüle abtropfen. »Und ich will nichts mehr hören.«

So umsonst war die Anmeldung auch nicht gewesen, dachte Jannis und grinste vor sich hin. Peer würde schon noch erfahren, dass es keine Zufälle gab. Sein Handy blinkte plötzlich, eine SMS ging gerade ein.

»Hey, Jannis, Lust auf ein Bier? XXX Emma. «

Jannis tippte schnell eine Antwort. »Unbedingt. In der Bar vom Restaurant Strandliebe? Ich kann sofort losfahren. «

Emmas Rückmeldung kam prompt. »Perfekt. Bin so gut wie auf dem Fahrrad. «

»Freue mich. «

Zufrieden steckte Jannis sein Handy weg. So konnte er sich doch gleich selbst überzeugen, ob sein genialer Plan aufgegangen war.