30.

»Sie sind ein sehr guter Autofahrer«, Elvira warf einen kurzen Blick auf Peer, bevor sie wieder auf die Straße sah. Sie hatte Herzklopfen, seit Peer sie mit einem Strauß bunter Frühlingsblumen in der Hand abgeholt hatte, es war sehr romantisch gewesen. Und er sah wirklich gut aus in seinem gestreiften Hemd, sie war so verlegen gewesen, dass sie gar nicht richtig reden konnte. Und jetzt fiel ihr nur so ein blöder Satz ein. Guter Autofahrer, großer Gott, sie war doch keine siebzehn mehr. Sie fühlte sich aber so.

»Vielen Dank«, war seine Antwort. »Sie sehen übrigens sehr hübsch aus. Dieses Blau steht Ihnen wirklich gut.«

Elvira spürte, dass sie rot wurde, sie hatte sich diese Bluse heute Nachmittag erst gekauft. In ihrer Aufregung war sie sich sicher gewesen, nichts Schönes im Schrank zu haben, zumindest nichts, was schön genug für ihr erstes Rendezvous seit Jahren gewesen wäre.

»Danke«, sagte sie leise und musste sich räuspern, weil ihre Stimme so dünn war. Sie wollte nicht schweigend neben ihm sitzen, das machte auch keinen guten Eindruck, also sagte sie: »Ich hoffe, Ihr Neffe war nicht enttäuscht, dass der geplante Kinoabend anders verlaufen ist als geplant.«

»Jannis?«, er nickte mit einem schiefen Lächeln. »Das ist auch so ein Kamel. Er hatte Glück, dass ich heute gute Laune und die Verabredung mit Ihnen hatte, ansonsten hätten wir gerade noch eine mittelschwere Auseinandersetzung gehabt.«

»Oh«, Elvira warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ich hoffe, es war nichts Schlimmes.«

»Na ja«, Peer hielt an einer roten Ampel. »Er hat mich bei so einer Kontakt-App angemeldet, ohne dass ich das wusste.«

»Heißt die Liebe oder Eierlikör

Fast schon entsetzt sah Peer sie an. Sie lächelte. »Die Ampel ist schon grün.«

»Ähm, ja«, er ließ die Kupplung etwas zu schnell kommen, der Wagen machte einen kleinen Satz. »Machen Sie da etwa auch mit?«

»Um Himmels willen, nein«, Elvira lachte laut auf. »Das ist nichts für mich. Aber eine Bekannte hat mir das vorgeschlagen. Hella. Doch auf diese Art und Weise würde ich nie jemanden kennenlernen wollen.«

Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich auch nicht«, pflichtete er ihr bei. »Allerdings hat Jannis diese App auch bei einem alten Freund und Nachbarn von mir installiert. Hermann. Hermann Schulze. Seine Frau ist vor drei Jahren gestorben, seitdem ist er einsam und eine traurige Gestalt. Aber ausgerechnet er hat anscheinend über diese App eine Dame kennengelernt. Vorhin war er kurz da, er ist kaum wiederzuerkennen. Die Dame wirkt Wunder. Und sie sind heute Abend auch im selben Restaurant essen.«

»Es ist nicht immer alles schlecht, was neu ist«, sagte Elvira ernst. »In dem Fall hat es ja geklappt.«

 

»Guten Abend, mein Name ist Schulze, ich habe einen Tisch für zwei Personen bestellt.«

»Herzlich willkommen«, der junge Kellner setzte einen Haken im Reservierungsbuch und streckte einen Arm aus. »Kann ich Ihnen die Garderobe abnehmen?«

»Gern«, Hermann half seiner Begleitung aus dem leichten Mantel und reichte ihn dem jungen Mann. »Vielen Dank.«

Die Frau lächelte ihn an und fuhr sich kurz mit den Fingern über die Frisur, Hermann ließ ihr den Vortritt, als die Bedienung sie zum Tisch im Restaurant begleitete. »Darf es schon ein Aperitif sein?«, fragte der Kellner, während er ihr den Stuhl zurückzog. »Ein Crémant, ein Sherry, ein Champagner?«

»Wir nehmen Champagner«, antwortete Hermann wie aus der Pistole geschossen und sah sie rasch an. »Oder?«

»Sehr gern.«

Sie saßen sich eine Zeit lang schweigend und etwas verlegen gegenüber, bis der Kellner den Champagner brachte. Dann griffen beide nach den Gläsern und redeten gleichzeitig los.

»Sollen wir uns …«

»Wollen wir nicht …«

Hermann lachte und deutete auf sie. »Sie zuerst. Ich danach.«

Ute Carstens nickte: »Ich wollte vorschlagen, dass wir uns duzen. Ich heiße Ute.«

Sie hob ihr Glas und sah in sein strahlendes Gesicht.

»Hermann«, antwortete er. »Mit dem größten Vergnügen.«

Sie tranken und stellten die Gläser wieder ab. Hermann beugte sich ein Stück vor und sagte leise: »Was bin ich froh, dass ich keinen Eierlikör mehr trinken muss. Ich mochte den ja noch nie.«

»Ich auch nicht«, Ute kicherte. »Aber bei meinen ersten beiden Dates musste ich ihn trinken, die beiden Herren waren ganz schrecklich. Nicht so schrecklich wie der dritte, aber zumindest Eierlikör-schrecklich.«

»Bei mir waren es auch zwei«, gab Hermann zu. »Danach wollte ich schon Jannis sagen, dass das doch nichts für mich ist. Aber die dritte Dame hatte mich versetzt und dann kamst zum Glück ja du. Und bei dir wusste ich auf Anhieb, dass das kein Eierlikör wird.« Er sah sie bewundernd an, dann fiel ihm etwas ein und er fragte: »Hast du von dem schrecklichen Mann noch mal was gehört?«

»Nein«, sie schüttelte vehement den Kopf. »Nachdem ich ihm das Geld geliehen hatte, nie wieder. Das ist wohl weg, na ja, das verbuche ich mal unter Dummheit. Ich bin einfach auf eine blöde Masche reingefallen. Aber Schluss damit, lass uns nur noch von schönen Dingen reden. Ich habe mein Fahrrad schon mal geputzt, ich freue mich so auf unsere Tour am Wochenende. Welche Fähre wollen wir denn nehmen?«

 

Am Restaurant angekommen, hielt Peer Elvira die Tür auf. »Bitte schön.«

»Vielen Dank«, Elvira wollte gerade durchgehen, als sie aus den Augenwinkeln etwas Grünes sah, das sich eilig auf sie zubewegte. Sofort drehte sie sich um und erkannte Hella, die in einem atemberaubenden Kleid und mit erstauntem Blick vor ihnen stehen blieb. »Elvira«, rief sie sofort begeistert. »Das ist ja nett. Und das ist also nep  … ähm … einen schönen guten Abend.«

»Hella«, Elvira lächelte zurück. »Das ist Peer Sörensen, mein Bekannter, und das ist Hella Fröhlich.«

Sie schüttelten sich die Hand. Hella musterte ihn von Kopf bis Fuß und nickte anerkennend. »Besser als auf dem Foto«, murmelte sie, um dann laut hinzuzufügen: »Sehr angenehm.«

»Wie bitte?«

»Es tut mir leid, aber ich muss leider rein«, sagte Hella. »Ich bin auch verabredet. Vielleicht sehen wir uns ja noch, ich wünsche erst mal einen charmanten Abend.«

Sie rauschte an ihnen vorbei und ließ sie in einer Parfümwolke zurück, die Peer zum Husten brachte. »Was war das mit dem Foto?«

»Keine Ahnung«, Elvira hob die Schultern. »Das habe ich auch nicht verstanden. Gehen wir rein?«

»Nach Ihnen.«

 

Sofort kam jemand, der sie zu einem Tisch am Fenster führte. Während sie sich setzten, sah Elvira plötzlich, dass ein älterer Herr im blau-weiß gestreiften Hemd ihnen zuwinkte. Sie sah zu Peer. »Kann es sein, dass der Herr Sie grüßt?«

Peer folgte ihrem Blick und erwiderte den Gruß, indem er kurz die Hand hob. »Das ist Hermann«, sagte er. »Frisch verliebt durchs Internet. Es geschehen doch noch Wunder.«

Elvira sah hin und lächelte. »Eine schöne Geschichte«, sagte sie leise. »Und die Frau sieht auch sehr nett aus.«

Die Bedienung reichte ihnen die Speisekarte, während Peer schon Wasser und zwei Gläser Sherry bestellte.

»Ich war hier noch nie, obwohl ich so oft schon dran vorbeigefahren bin«, gestand Elvira. »Sind Sie häufiger hier?«

»Nein. Ich gehe ehrlich gesagt kaum aus. Eigentlich nur einmal im Monat ins Deichhotel zum Kartenspielen.«

»Ins Deichhotel ?« Elvira lächelte. »Das ist lustig, da haben wir immer unsere Geburtstage gefeiert. Als mein Mann noch lebte. Die hatten so eine wunderbare Küche.«

»Wann war das?«

»Das letzte Mal vor elf Jahren«, antwortete Elvira mit einer Spur von Melancholie. »Als Hans-Georg fünfundsechzig wurde. Im Jahr darauf ist er gestorben.«

»Das tut mir leid«, sagte Peer und wartete einen Moment, weil der Sherry gerade gebracht wurde. »Vor elf Jahren war ich übrigens da Küchenchef.«

»Nein«, mit großen Augen sah Elvira ihn an. »Im Deichhotel ? Dann haben Sie uns all die Jahre bekocht?«

»Ja«, er nickte lächelnd. »Die Welt ist klein. Manchmal helfe ich da immer noch aus. Mein ehemaliger Lehrling hat das Haus übernommen. Und lässt mich ab und zu in die Küche. Apropos, was möchten Sie denn essen? Haben Sie schon etwas gefunden?«

 

Ernst holte tief Luft und versuchte, seine Nervosität in den Griff zu bekommen. Hella hatte ihm gesagt, dass er noch zehn Minuten im Auto sitzen bleiben sollte, bevor er ihr folgte, die Zeit war ihm ewig lang vorgekommen. Aber jetzt war sie abgelaufen, jetzt ging es los.

Entschlossen drückte er die Tür auf und betrat das Restaurant. Am Eingang sah er sich verstohlen um und entdeckte sofort Hella, immer noch allein an einem Tisch. Ihre Verabredung war noch nicht da, hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen. Nicht, dass er Wind von der Mission bekommen hatte und gar nicht auftauchte.

Eine junge Frau kam auf ihn zu und lächelte ihn an. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja«, er nickte. »Ich würde hier gern essen, haben Sie vielleicht noch einen Tisch für mich?«

»Sind Sie allein?«, sie griff schon nach einer Speisekarte, während Ernst nickte. »Ja, nur ich.«

»Dann kommen Sie mal mit.«

»Kann ich vielleicht diesen Tisch haben? Den am Fenster?« Ernst deutete auf Hellas Nebentisch, die junge Frau blieb stehen. »Natürlich. Bitte schön.«

Er setzte sich und schlug die Speisekarte auf. Er tat so, als würde er sie konzentriert lesen und hörte Hella, die sich am Nebentisch räusperte. Sofort sah er hinüber, sie blickte demonstrativ an ihm vorbei. Ihm wäre es lieber gewesen, Mats oder Martina an seiner Seite zu wissen. Dann hätte er nicht die ganze Verantwortung. Oder zumindest noch jemand, der schon schlechte Erfahrungen mit gastronom100 gemacht hatte und ihn zweifellos erkennen würde. Renate Oberbekleidung Bahnsen zum Beispiel. Oder aber Hilke, dachte er und seufzte laut. Er hätte sich so gewünscht, dass er im Irrtum gewesen wäre. Aber sie war wohl doch auf diesen ominösen Mann hereingefallen. Seine Nachforschungen würden ihr das Herz brechen.

 

Ein paar Tische weiter sah Ute Carstens plötzlich an Hermann vorbei und stutzte. »Komisch«, sagte sie leise und beugte sich zu Hermann. »Da sitzen zwei Lister, die ich kenne. Aber an getrennten Tischen, jeder für sich.«

Sofort drehte Hermann sich um. »Wer? Ach, die Dame im grünen Kleid? Sie sieht ja … sehr besonders aus.«

»Ja«, Ute nickte. »Das ist Hella Fröhlich. Und am Tisch daneben sitzt Ernst Mannsen. Die sind befreundet, aber sie tun so, als würden sie sich gar nicht kennen. Das ist ja merkwürdig.«

Hermann wandte sich ihr wieder zu. »Möchtest du hingehen und sie begrüßen?«

»Auf keinen Fall«, Ute biss sich auf die Lippe. »Vielleicht machen die ja auch mit bei Liebe oder Eierlikör und haben hier beide zufällig ein Treffen. Wobei Ernst Mannsen verheiratet ist, das kann doch wohl nicht sein.«

»Vielleicht ist er hier mit seiner Frau verabredet. Das wissen wir ja nicht«, bemerkte Hermann und lächelte. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach so. Du arbeitest also noch im Supermarkt? Das ist auch ein anstrengender Beruf.«

»Ja«, widerstrebend löste Ute ihren Blick von Hella, die gerade ein Stück Brot zerkrümelte. »Aber ich bin schon lange da und habe nette Kollegen. Und am 1 . August gehe ich ja in Rente.«

»Dann hast du Zeit für schöne Dinge. Und wenn du Lust hast, könnten wir die dann ja auch zusammen machen.«

Ute sah ihn lange an. »Ja«, sagte sie und nickte. »Ich bin wirklich froh, dass der Sohn von deinem Freund dich angemeldet hatte. Es ist sehr schön, dass wir uns getroffen haben.«

Hermann legte seine Hand auf ihre und drückte sie sanft. »Das finde ich auch.«

 

Elvira schob ihre leere Suppentasse zurück und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Die war sehr gut«, sagte sie zu Peer, der zustimmend nickte. »Fast so gut wie im Deichhotel

»Aber nur fast«, sagte er sofort. »Es fehlte ein bisschen Muskatnuss. Aber geschenkt.«

Unvermittelt griff er zu seinem Weinglas und hob es in Elviras Richtung. »Wenn Sie nichts dagegen haben, könnten wir auch zum Du übergehen. Nachdem wir uns schon so vieles aus unseren Leben erzählt haben.«

»Sehr gern«, Elvira stieß mit ihm an und lächelte. »Ich hoffe, ich habe nicht zu viel geredet. Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt mit jemandem auszugehen und mich zu unterhalten. Meine Tochter meint immer, ich müsse mehr unter Leute, ich würde verlernen, wie man sich benimmt, wenn andere dabei sind.«

»Das sagt Jannis mir auch«, Peer stellte sein Glas wieder hin. »Das sind die jungen Leute, die müssen sich immer einmischen. Aber ich finde, du benimmst dich tadellos. Und erzählst viele interessante Sachen. Und den Plan, von der Insel wegzugehen, den hältst du immer noch aufrecht?«

Elvira sah ihn zögernd an. »Ich habe in den letzten beiden Jahren oft darüber nachgedacht, weil ich mich ein bisschen übrig geblieben gefühlt habe. Es sind so viele der alten Nachbarn und Freunde weggezogen. Und es ist schwer, in unserem Alter wieder neue Bekannte zu finden. Aber jetzt war ich beim Frühlingsbasar und habe dort nette Leute kennengelernt. Sie haben mich auch gefragt, ob ich Lust hätte, auch bei anderen Anlässen zu helfen. Das könnte vielleicht ganz schön werden.«

Peer nickte. Er sah sie an, bis er schließlich sagte: »Wenn du Lust hast, dann könnten wir auch öfter zusammen ausgehen. Ich bin die meiste Zeit allein zu Hause. Jannis sagt, ich werde komisch.«

»Das machen wir.« Elviras Blick fiel plötzlich auf Hella, die immer noch allein am Tisch saß. »Ach je, ich glaube, die nette Hella wird versetzt«, sie runzelte die Stirn. »Vielleicht ist das doch nicht so toll mit dieser Dating-App. Wenn man so hoffnungsvoll auf jemanden wartet, der nicht kommt, ist das doch auch traurig.«

»Oder wenn jemand kommt, der blöd ist«, ergänzte Peer. »Für mich wäre das nichts. Das wäre mir viel zu anstrengend.«