Sechs Monate später

Die bunten Lampions über dem Eingang strahlten in allen Farben, zufrieden legte Ernst den Kopf in den Nacken und betrachtete das große Plakat, das an der Hauswand befestigt war. Genau so hatte er es sich vorgestellt, sie hatten hier ganze Arbeit geleistet, nichts war dem Zufall überlassen worden. Er ging langsam an der Fensterfront entlang und sah in den Saal, in dem die Tische um die Tanzfläche mit Blumen und Kerzen dekoriert waren. Über der Tanzfläche drehte sich eine silberne Discokugel, die Hella in ihrem Keller gefunden hatte und die noch einwandfrei funktionierte. Es war schon sagenhaft, was sie alles hortete.

»Wieso stehst du hier draußen rum«, Hella hatte das Fenster ganz aufgerissen und beugte sich heraus. »Wir warten auf dich. Komm rein.«

Sie knallte das Fenster zu, während Ernst sich beeilte, in den Saal zu kommen. Das Deichhotel war wirklich genau der richtige Ort für eine solche Festivität, fand Ernst. Deshalb war es sehr gut gewesen, dass Hilke Klaas seinen Vorschlag, und es war irgendwie schon sein Vorschlag gewesen, unterbreitet hatte. Klaas war natürlich sofort einverstanden gewesen, immerhin hatte er es Ernst zu verdanken, dass der Unfallverursacher überführt werden konnte. Jetzt war der weiße SUV wieder wie neu, Klaas’ Bruder würde gar nichts merken, wenn er im nächsten Monat den Wagen wieder abholen würde.

Er drückte die Tür auf und trat in den Saal. Auf der Bühne vor dem Vorhang stand Jannis, der Kopfhörer trug und später die Musik machen sollte. Er hörte sich mit etwas verkniffener Miene die Stücke an, die er spielen sollte. Bei der Vorbesprechung war er angesichts dieser Playlist fast in Ohnmacht gefallen. Das Festkomitee hatte die schönsten Schlager aller Zeiten aufgelistet.

»Stell dich nicht so an«, hatte Hella gesagt. »Wer sich mit alten Frauen zum Date trifft, kann auch mal Schlager hören.«

Jannis hatte sie nur resigniert angesehen und leise »Die Liebe ist ein seltsames Spiel« gepfiffen.

 

Ernst nahm sich noch einen kleinen Moment, um den Saal auf sich wirken zu lassen, bevor er zu den anderen ging, die sich am Tresen versammelt hatten, hinter dem Martina mit einem Klemmbrett stand.

»Ach, Ernst«, sie hob den Kopf und sah ihn an. »Da bist du ja, ich dachte schon, ich müsste alles zweimal erzählen.«

»Nein, nein«, beeilte er sich zu sagen und stellte sich neben Hermann Schulze, der ihm bereitwillig Platz machte. »Ich höre zu.«

»Gut«, sie nickte und blickte wieder auf ihre Liste. »Also, wir haben heute 116  Anmeldungen. Hilke und ich machen gleich den Einlass und wie beim letzten Mal bekommen alle Gäste wieder diese kleinen Anstecker, auf die sie ihre Vornamen schreiben. Falls jemand fragt, die liegen in dem grünen Kasten am Eingang.«

Alle nickten.

»Hella macht wieder die Begrüßung«, fuhr Martina fort. »Vorher gibt es ein Willkommensgetränk, Ute, Elvira und Gudrun gehen mit den Tabletts herum, Ernst und Hermann helfen beim Einschenken.«

Hermann Schulze sah Ute Carstens stolz an und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie lächelte.

»Jannis, die Musik läuft am Anfang leise, mit dem Tanzen wird erst nach dem Essen angefangen. Peer eröffnet das Büfett um 19  Uhr, wenn alle Teller abgeräumt sind, kannst du die Musik lauter machen.«

Jannis nickte stumm, während Peer ihm aufmunternd auf die Schulter schlug.

»Und ansonsten läuft alles wie beim letzten Mal«, Martina drückte jetzt ihr Klemmbrett an die Brust und sah in die Runde. »Ernst, du musst noch das T-Shirt mit dem Logo anziehen. Das Festkomitee muss erkennbar sein, sonst gibt es Verwirrung.«

»Muss ich wirklich?« Ernst sah Gudrun Hilfe suchend an. Sie öffnete ihre Strickjacke, das rote T-Shirt mit dem Aufdruck kam zum Vorschein. »Natürlich, wir tragen es alle, dafür haben wir sie doch extra machen lassen.« Tatsächlich trugen auch Martina, Hilke, Gudrun, Elvira, Ute und Hermann dieses Ding, bei den Frauen sah es sogar ganz hübsch aus. Nur bei Hermann wirkte es ein bisschen wie eine Wurstpelle. Er spürte Ernsts Blick und sah an sich herunter. »Ich glaube, ich habe deins an. Es scheint mir etwas knapp, ich bin wohl kräftiger als du.«

»Umziehen«, ordnete Gudrun an und reichte Hermann ein zusammengefaltetes T-Shirt. »Das ist deins. Und Ernst, keine Diskussion. Ihr könnt die hinten wechseln. Martina, haben wir jetzt alles besprochen?«

Sie nickte.

»Dann los. Und viel Spaß.«

Hermann wartete mit einem freundlichen Lächeln, bis Ernst sich ihm anschloss, dann gingen beide in Richtung des kleinen Raums am Ende des Saals.

»Moin, jamesbond006 Ernst zuckte zusammen, als er hinter sich eine bekannte Stimme hörte. Frau Ullrich trug eine gelbe Warnweste über einem bunten Kleid, eine Schirmmütze auf dem Kopf und grinste ihn breit an.

»superwoman! « Ernst starrte auf ihre Schirmmütze, auf die sie sich den Namen hatte drucken lassen. »Schicke Mütze.«

»Ich kann Ihnen die Adresse der Firma geben. Die können garantiert auch jamesbond006

»Das ist nicht mehr nötig«, antwortete Ernst und betrachtete sie mit schräg gelegtem Kopf. »Warum tragen Sie eine Warnweste?«

»Ich ertrage kein Chaos auf dem Parkplatz«, antwortete sie. »Ich habe Klaas vorgeschlagen, die Einweisung der Autos zu machen. Die Leute parken doch wie die Blöden und es wird nicht die gesamte Kapazität genutzt. Wenn das nicht professionell gemacht wird, bricht doch bei so vielen Anmeldungen das Chaos aus, das haben wir doch bei der ersten Veranstaltung gesehen. Das muss ich mir nicht noch mal antun. So, ich muss raus, die Ersten werden gleich kommen. Bis später.«

Sie marschierte zum Ausgang, während Ernst und Hermann ihr beeindruckt nachsahen.

»Und wenn alle geparkt haben, kommt sie als Gast wieder rein?«, fragte Hermann leise und sah Ernst an. Der nickte.

»Sieht so aus. Sie ist ja letztes Mal fast durchgedreht, weil viel mehr gekommen sind, als sie erwartet hatte. Es gab einen Stau vor dem Parkplatz, deswegen hat sie sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren können. Hat sie gesagt. Also ist das doch eine gute Idee.«

»Ja«, Hermann hob die Hand mit dem T-Shirt. »Wir müssen.«

 

Als sie zurückkamen, stand Hella in einem gelben Kleid mit roten Herzen neben Hilke am Eingang. Als sie Ernst und Hermann entdeckte, grinste sie. »Die Eierlikör-Twins«, sagte sie laut und lächelte verschmitzt. »Es sieht nicht so schlimm aus, wie ich dachte. Ihr beide seid ja noch ganz gut in Schuss.«

»Finde ich auch«, Ute Carstens war zu ihnen getreten und schob ihre Hand unter Hermanns Arm. Verliebt sah sie ihn an und strich mit einem Finger über den weißen Schriftzug. »Liebe und Eierlikör«, las sie laut vor. »Was für ein schönes Motto. Hella, das war eine gute Idee.«

»Tja«, Hella strich sich über den weiten Rock. »Lag ja nahe. Wann ist eigentlich euer Umzug?«

»Nächsten Monat«, antwortete Ute und sah Hermann an. »Ich habe schon eine ganze Menge gepackt.« Sie sah Ernsts fragenden Blick und erklärte: »Weißt du das noch nicht? Elvira zieht zu Peer und hat uns ihr Haus vermietet. Hermann und ich haben ja beide nur kleine Wohnungen und uns so über ihr Angebot gefreut. Wir lassen noch die Maler kommen, aber das Haus ist ansonsten tipptopp.«

»Das ist schön«, Ernst nickte zufrieden. »Was für ein Glück, dass es diese App gibt. Und jetzt ist sie noch sicher geworden. Hast du dein Geld eigentlich schon zurückbekommen?«

»Noch nicht«, Ute senkte ihren Blick und seufzte. »Ich weiß auch gar nicht, ob ich es jemals wiedersehe. Hilke, weißt du schon, wann dieser Prozess jetzt ist? Ich muss da ja auch als Zeugin hin, ich habe aber noch gar nichts gehört.«

»Ich auch nicht«, Hilke trat jetzt zwischen sie und Ernst und hakte sich bei ihm ein. »Mein Retter.«

Er wurde ein bisschen rot, während Hilke fortfuhr. »Klaas muss auch eine Aussage machen. Schließlich hat Christoph Wagner nicht nur mehrere Frauen betrogen, sondern auch die Zeche geprellt, das Zimmer nicht bezahlt und den Wagen beschädigt. Klaas bekommt ja auch noch Geld von ihm.«

»Das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen«, fiel Ernst plötzlich ein. »Warum hatte er überhaupt euer Auto?«

»Klaas hatte angeboten, ihm den Wagen auszuleihen. Der Wagner hatte ihm eine seiner Lügengeschichten aufgetischt, von wegen Wagen in der Werkstatt, falsches Teil bestellt, wichtige Geschäftstermine, große Probleme und so. Und Klaas ist so ein Guter, er hat gemeint, er müsse ihm helfen.«

In diesem Moment wurde sie von einer Gruppe Frauen unterbrochen, die plötzlich im Saal stand.

»Guten Abend, sind wir hier richtig?«

Sofort ging Hilke auf die Damen zu, während Hella in die Hände klatschte: »Da kommt schon Martina mit strengem Gesicht, es geht also los. Ernst und Hermann, auf eure Plätze, gastronom100 kriegt seine gerechte Strafe, davon bin ich überzeugt. Aber wir machen jetzt die Welt ein bisschen schöner. Ja, Martina, wir haben auf die Uhr gesehen.«

Martina machte den Mund wieder zu und nickte, bevor sie zur Tür ging, um den ankommenden Gästen die Namensschilder anzuheften.

 

»Ach, ist es nicht herrlich?« Hella schlug Ernst auf den Rücken. »Die Bude wird gleich voll. Dagegen kann doch jedes Dating-Portal einpacken. Los, kommt, wir sind das Komitee, jeder muss an seinen Platz. Ich gehe schon mal zur Bühne und sage Jannis, was er jetzt auflegen soll. Bis später.«

Tatsächlich war der Saal nach wenigen Minuten voll, die Gäste schrieben ihre Namen auf die Anstecknadeln, nahmen das angebotene Willkommensgetränk von den Tabletts, einige unterhielten sich im Stehen, andere suchten schon einen Platz an den Tischen, es war Gelächter und Gemurmel zu hören, über allem lag eine aufgeregte, heitere Stimmung.

Ernst stand mittlerweile hinter dem Tresen und schenkte so ungeschickt den Sekt in die Gläser, dass Hellas Nachbarin Regina Gräber, die gerade angekommen war, ihn mitleidig ansah.

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, fragte sie und beugte sich über den Tresen. »Ich habe jahrelang in der Gastronomie gearbeitet, mir geht so was ja leichter von der Hand.«

»Sehr gern«, antwortete er sofort und machte den Platz frei. »Dann kann ich mich um andere Aufgaben kümmern. Vielen Dank.«

Während Regina Gräber das Einschenken souverän übernahm, bahnte Ernst sich einen Weg durch die Menge, um zu Hella zu kommen. Sie stand an der Seite der Bühne. Von hier aus konnte man viel besser sehen, was los war, stellte Ernst fest. Hinter dem Tresen bekam er ja gar nichts mit.

»Hey«, sagte sie, als sie ihn neben sich bemerkte. »Was machst du hier?«

»Gucken«, antwortete er. »Deine Nachbarin Regina schenkt für mich ein. Macht sie gut.«

»Auch ein gastronom100 -Opfer«, Hella schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, sie ist auf ihrer Suche bald erfolgreicher. Ach Gott, da ist schon wieder Theo Möller. So oft wie diesen Frühling habe ich ihn die letzten zwanzig Jahren nicht gesehen. Jetzt hat er Elfi angesprochen, da werde ich wohl gleich eingreifen.«

Ernst ließ seine Blicke über die Menge wandern, ein Arm hob sich in seine Richtung, er winkte zurück und lächelte. »Da ist Silvia erdbeertörtchen «, sagte er zu Hella. »Die ist ja auch so nett.«

»Sie heißt Körner«, korrigierte Hella. »Silvia Körner. Sag nicht erdbeertörtchen zu ihr. Und da kommt auch gerade Sabine. Und Waltraud. Ach, und sogar Marianne Hiller. Die war letztes Mal noch nicht dabei. Wie schön. Hach, ich finde das so toll.«

Ernst betrachtete weiter all die Menschen, die gekommen waren, weil er so eine geniale Idee gehabt hatte. Na ja, Hella und er, aber das war auch nicht so wichtig. Er sah Peer in seiner Kochjacke zu Elvira gehen, um ihr etwas zu sagen. Elvira drehte sich sofort zu ihm um, hörte ihm andächtig zu und strich ihm abschließend zärtlich über die Wange, bevor er wieder in die Küche ging. Am Eingang entdeckte er wieder Hilke, die gerade übers ganze Gesicht strahlte und in ihrer bunten Bluse mit dem schönen Lippenstift so hübsch aussah. Sie hatte wirklich Glück gehabt, dass ihre Füllung ausgerechnet an dem Tag herausgefallen war, an dem auch Klaas einen Zahnarzttermin gehabt hatte. Es wäre zu schade gewesen, wenn die beiden sich nicht getroffen hätten. Sie waren ein so schönes Paar.

»Was ist los?«, Hella stieß ihn in die Seite. »Du guckst so sentimental.«

»Ach«, er sah sie an, »ich bin nur sehr froh, dass wir auch dieses Problem so gut gelöst haben. Na ja, bis auf das Geld, das noch nicht wieder zurückgezahlt ist, aber vielleicht kommt das noch. Aber all die einsamen Menschen, die …«

Plötzlich unterbrach ihn ein Trommelwirbel, sofort drehte Hella sich weg und eilte auf die Bühne. Die Gespräche versiegten, während ein Spot anging und eine strahlende Hella Fröhlich im gelb-roten Herzchenkleid ins richtige Licht setzte. Sie breitete die Arme aus, sofort fingen die Ersten an zu applaudieren.

»Vielen Dank«, rief Hella und hob ihr Mikro hoch. »Danke schön und herzlich willkommen zu unserer zweiten Veranstaltung im Deichhotel . Hier treffen sich jeden ersten Freitag im Monat die Singles der Region, um neue Leute und neue Lieben zu finden. Hier wird getanzt, geredet, kennengelernt, gegessen und getrunken, vielleicht auch geküsst und geheiratet, wir werden sehen. Also, viel Spaß bei unserer Party, wie immer unter dem Motto: Liebe UND Eierlikör . Das Büfett wird von unserem wunderbaren Peer Sörensen gleich eröffnet, und falls Sie Fragen haben, unser geschultes Personal, das Sie an den entsprechenden T-Shirts erkennen können, berät Sie gern. Und nun wünsche ich Ihnen viele Frühlingsgefühle, viel Liebe, schöne neue Kontakte und einen wunderbaren Abend.«

Unter großem Beifall tänzelte Hella von der Bühne und stoppte erst, als sie wieder neben Ernst stand. »Wie war ich?« Nur langsam verebbte der Applaus, die Gespräche im Saal und die leise Musik setzten wieder ein.

»Wie immer perfekt, du Zirkuspferd.« Er lächelte sie an, runzelte dann die Stirn und fragte: »Was meintest du mit geschultem Personal?«

»Uns«, Hella strahlte. »Dich, mich, Gudrun, Elvira, Peer, Hermann, Ute, Martina, Hilke, Klaas. Das Komitee.«

»Und was an uns ist geschult?«

»Wir sind Freunde.« Hella beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Wir sind zum Glück keine einsamen Herzen. Wir haben uns ja alle gefunden. Und jetzt müssen wir den einsamen Menschen nur noch zeigen, wie das geht: jemanden zu finden. Weil das Leben zusammen doch einfach schöner ist.«

Ernst schluckte.

»Ernst Mannsen, hast du feuchte Augen?« Hella musterte ihn kopfschüttelnd, bevor sie nach seinem Ellenbogen griff. »Reiß dich zusammen, das ist eine Party. Jetzt gehen wir was essen und danach werde ich mir bei Jannis einen Tango wünschen und den smarten Mann im roten Pulli, der gerade eingetroffen ist, auf die Tanzfläche zerren. Auch wenn man genug Freunde hat, so ein kleiner Tango kann ja nicht schaden.«

»Du, Hella?«

»Ja?«

»Bevor du dich mit ihm allein triffst, würde ich gern mal zwei, drei Sätze mit ihm …«

»Ernst!« Sie beugte sich so dicht zu ihm, dass sich ihre Nasen fast berührten. »Entspann dich. butterblume02 ist Profi.«