Prolog

Josefine saß auf dem leicht abgewetzten Samtsessel in der Buchhandlung ihrer Großtante Hilde und klammerte sich an einer Tasse Kakao fest. Sie lauschte der warmen, freundlichen Stimme ihrer Tante, die vor einem deckenhohen Bücherregal stand und einem müde wirkenden Rentner mit traurigen Hundeaugen von einem Roman vorschwärmte. Was genau ihre Tante erzählte, konnte sie nicht verstehen, weil die beiden zu weit entfernt waren. Aber Josefine beobachtete, wie ihre Tante – aus Josefines Sicht einer Zwölfjährigen schon eine uralte Frau – ein dickes Buch aus dem Regal zog und es einen Moment wie einen Schatz an ihre Brust hielt, den sie nicht hergeben wollte.

Dabei lebte ihre Tante doch davon, Bücher zu verkaufen. Und dann sprach sie über das Buch, als wäre sie in die Geschichte verliebt. Zumindest sah ihr Gesicht genauso verzückt aus. Josefine dachte daran, was ihre Mutter einmal gesagt hatte: Tante Hilde habe keinen Mann, weil sie niemanden so Wunderbares gefunden hatte wie die Helden in einem Roman. Dabei sei das doch Mumpitz mit dem verklärten Blick auf die Liebe.

»Ach ja?«, hatte ihr Vater da lachend gesagt und ihre Mutter auf die Stirn geküsst.

Josefine trank einen Schluck, ohne den Blick von ihrer Tante abzuwenden. Mit ihren rotgrauen Locken, die sie hochgebunden hatte, sah Tante Hilde schon ein bisschen aus wie eine Oma. Das weinrote, knielange Wollkleid hielt ein dunkelbrauner Gürtel um die Taille, dazu trug sie dunkelbraune Wildlederpumps. Josefine fand das schick, obwohl ihre Mutter immer meinte, Tante Hilde kleide sich für ihr Alter zu exzentrisch.

Der alte Mann mit den traurigen Hundeaugen hörte Tante Hilde aufmerksam zu, und Josefine meinte, dass sein Blick ein klein wenig wacher wurde. Kauft er eins, oder kauft er keins? Die Frage gehörte zu ihren Lieblingsspielen, wenn sie wie jedes Jahr im Herbst eine Woche bei ihrer Tante verbrachte. Josefine wettete in Gedanken mit sich selbst, und wenn sie fünfmal gewonnen hatte, dann würde irgendwas Gutes passieren. Vielleicht würde Stefan aus der Parallelklasse aufhören, sie auf dem Schulweg zu ärgern. Oder sie würde in der Mathearbeit eine Zwei schreiben. Oder Konstantin aus der Klasse über ihr würde sich in sie verlieben. Obwohl Josefine ihn nur vom Sehen kannte, musste er einfach der netteste Junge der Welt sein.

Heute hatte Josefine schon viermal richtig getippt. Den kleinen Buchladen, der sich in dem malerischen Ort Heufeld in der Rhön befand, hatten heute schon viele Kunden aufgesucht, wahrscheinlich wegen des Markttags auf dem nahen Kirchplatz. Deshalb fuhr vorhin eine Frau, die sich einige Kochbücher ansehen wollte, wohl einen Kürbis unter dem Kinderwagen spazieren. Von ihrem Sessel aus konnte Josefine bis zu dem Elektroladen gegenüber schauen, vor dem ein paar Jugendliche standen und auf die fünf Bildschirme in verschiedenen Größen starrten, auf denen meistens Nachrichten oder Actionfilme flimmerten, je nachdem, wie der Ladenbesitzer gerade aufgelegt war.

Wenn der Mann das Buch kauft, werde ich selbst einmal so einen schönen Buchladen führen, sagte Josefine sich und starrte gebannt zu dem Mann hinüber. Jetzt nahm der Rentner das Buch aus den Händen ihrer Tante. Es kam Josefine so vor, als sacke er durch das Gewicht ein paar Millimeter in sich zusammen. Dafür hoben sich seine Mundwinkel, als er es aufschlug und die ersten Sätze las. Josefine stellte ihre Tasse ab und näherte sich den beiden.

»Ich glaube, das wird mir gefallen«, sagte er nun mit einem fast jungenhaften Lächeln und schritt zur Kasse. Josefine kannte diesen Gesichtsausdruck der Menschen, die einen schönen Roman gekauft hatten. Es war die Vorfreude darauf, bald in eine andere Welt eintauchen zu können. Und sie selbst freute sich, dass sie die Wette mit sich selbst heute schon zum fünften Mal gewonnen hatte. Ihr würde später selbst so ein Buchladen gehören!

Sie folgte Tante Hilde zur Kasse, die sie anlächelte, als sie das Buch abrechnen wollte. Tante Hilde tat sich immer noch schwer damit, dass die Leute ihre Bücher bald nur noch in Euro statt in D-Mark bezahlen würden, was Josefine nicht verstehen konnte. Sie fand es toll, weil alles nur noch die Hälfte kosten würde.

Bevor Tante Hilde den Betrag in die Kasse tippte, klingelte das Telefon. Ein durchdringender Ton, als tripple der Anrufer schon mit den Füßen. Tante Hilde ignorierte das Klingeln.

»Gehen Sie ruhig ran«, sagte der alte Mann.

»Nein, nein, eins nach dem anderen.« Tante Hilde lächelte ihn an.

»Nicht dass Ihnen ein Kunde entgeht«, zwinkerte ihr der Mann zu.

»Ich habe seit Neuestem eine Nummernspeicherung. Ich rufe einfach zurück«, entgegnete Tante Hilde stolz, und zeitgleich verstummte das Klingeln. Josefine schaute zu dem Elektroladen, vor dem sich mittlerweile immer mehr Leute versammelt hatten und nun auf die Bildschirme starrten, als hätten sie noch nie einen Fernseher gesehen. Und wieder klingelte das Telefon.

Der Mann nahm Tante Hilde das Buch aus der Hand.

»Ich habe Zeit. Gehen Sie ruhig ran«, sagte er in ritterlicher Manier.

»Die nächste Anschaffung wird ein Anrufbeantworter sein«, erwiderte Tante Hilde und griff zum Hörer.

»Buchhandlung Gronau. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Leitung blieb stumm. Tante Hilde nahm den Hörer, der an einer Schnur hing, vom Ohr und schaute auf die Ohrmuschel, die mit den kleinen Löchern an einen Duschkopf erinnerte. Statt Wasser spritzte Tante Hilde auf einmal eine aufgebrachte Stimme ins Gesicht, die so laut war, dass auch Josefine und der alte Mann sie hören konnten.

»Hilde, mach das Radio an! Mach sofort das Radio an!«