4

KENNA

Jacks Auto ist so riesig, dass es fast schon wie ein kleiner Laster aussieht. Schwarz mit jeder Menge Chrom, einem personalisierten Nummernschild – Jack0  – und höhergelegt auf überdimensionierten Reifen. Wie kann er sich so ein Auto leisten, wenn er knapp bei Kasse ist? Oder hat Mikki es bezahlt?

Das Radio plärrt. Es wird heiß heute! Für den Fall, dass ihr auf dem Weg zum Strand seid: Die Wellen sind etwa einen Meter hoch bei leichtem Westwind.

Aufgrund des Jetlags wachte ich schon um zwei Uhr auf. Ich lag im Bett und grübelte, wie ich Mikki mehr Informationen entlocken konnte, doch als sie schließlich aufstand, war Jack bereits wach und packte den Wagen, sodass ich keine Gelegenheit hatte, sie allein zu erwischen. Immerhin lächelt sie heute Morgen die ganze Zeit und scheint sich aufrichtig zu freuen, dass ich mitkomme.

Jack biegt um eine Kurve. »Bondi Beach«, sagt er und zeigt aus dem Fenster.

Durch eine Lücke zwischen den Gebäuden sehe ich das glitzernde blaue Meer und einen hufeisenförmigen Strand. Es ist noch früh am Morgen, aber die Menschen drängen sich bereits auf dem hellen Sand. Einzelne Jogger laufen barfuß am Wasser entlang; Rettungsschwimmer mit roten und gelben Kappen halten Wache. Das Sonnenlicht ist gleißend hell, die Farben sind so kräftig und leuchtend, dass ich meine Augen mit der Hand abschirmen muss. Wenn man ein Foto vom Bondi Beach neben das eines englischen Strands legen würde, würde man denken, dass der Fotograf bei Letzterem vergessen hat, den Blitz einzuschalten.

Einige Hundert Surfer schaukeln im Wasser und stürzen sich auf jede Welle, die in ihre Richtung kommt. Ich sehe drei Personen, die alle dieselbe Welle surfen: ein Longboarder, ein Shortboarder und, halb von der Gischt versteckt, ein Bodyboarder. Der Shortboarder paddelt zum Longboarder und gestikuliert aufgebracht. Hinter den beiden lauert der Bodyboarder, als wolle er zwischen ihnen hindurchsurfen. Die Welle bricht, und die drei segeln in einem Durcheinander aus Armen, Beinen, Brettern und Gischt ins Wasser. Ich halte den Atem an, bis ihre Köpfe wieder auftauchen.

»Warum fahren wir hier lang?«, fragt Mikki vom Beifahrersitz aus.

»Ich dachte, ich zeige Kenna mal die Gegend«, antwortet Jack. »Für den Fall, dass sie nicht noch mal herkommt.«

»Wie meinst du das?«, will ich wissen. »Mein Rückflug geht von hier, ich komme also definitiv zurück.«

Jack wirft mir über die Schulter einen Blick zu. Seine Augen sind hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen. »Wer weiß? Vielleicht gefällt es dir ja so gut, dass du gar nicht mehr wegwillst.« Das Gespenst eines Lächelns huscht über sein Gesicht.

Trotz der stickigen Luft im Auto überläuft mich ein kalter Schauer.

Jack biegt auf den Parkplatz eines Supermarkts ein. »Erinnert mich daran, dass ich noch Campinggas kaufen muss.«

Er und Mikki gehen in den Laden und nehmen sich jeweils einen Einkaufswagen. Ich folge ihnen. Jack lädt Beutel mit Pasta und Reis, Dosen mit Gemüse und Fisch und vier riesige Wasserkanister in seinen Wagen.

Mikki hakt Sachen auf einer Liste ab.

»Brokkoli oder grüne Bohnen?«, fragt Jack.

»Brokkoli hält sich länger.«

Er hebt eine große gelbe Frucht hoch, die ich nicht kenne.

»Igitt, nein«, sagt sie, und er legt sie zurück.

Ich beobachte die Dynamik zwischen den beiden und suche nach weiteren Warnsignalen. Bisher hat er nichts mit der dominanten Person gemein, die ich mir ausgemalt habe, aber vielleicht hält er sich meinetwegen zurück. Kann sein, dass er hinter verschlossenen Türen ganz anders ist.

Ich zeige auf eine pinkfarbene stachlige Frucht. »Was ist denn das?«

Mikki nimmt sie in die Hand. »Drachenfrucht. Die wirst du lieben.«

Wenn ich in einem fremden Land bin, schaue ich immer gerne, was für Schokolade es dort gibt, doch zu meiner großen Enttäuschung schieben die beiden ihre Einkaufswagen am Gang mit den Süßigkeiten vorbei. Zum Glück gibt es noch eine kleine Auswahl neben der Kasse. Einige Sorten sind mir bekannt, andere nicht. Ich suche mir einige Tafeln aus, während die beiden die Lebensmittel aufs Band legen. Jack zwinkert mir zu, und ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das heimlich etwas zum Naschen in den Einkaufswagen seiner Eltern geschmuggelt hat.

Er schiebt seinen Wagen nach draußen und überlässt Mikki das Bezahlen. Es gab dazu keinerlei Kommunikation zwischen ihnen, was auf eine eingespielte Gewohnheit schließen lässt. Noch etwas, was gegen ihn spricht.

»Hier, nimm das.« Ich hole zweihundert Dollar aus meinem Portemonnaie. Am Flughafen habe ich fünfhundert abgehoben.

Mikki wehrt ab. »Auf keinen Fall! Vielleicht bleibst du ja nur ein oder zwei Tage.«

Ehe ich darauf bestehen kann, schiebt sie ihren Wagen nach draußen.

Jack hat die hinteren Türen seines Wagens geöffnet. Dahinter verbirgt sich eine große Kühlbox, die wir mit Milch, Käse und Fleisch füllen. Die Reste von Mikkis Eintopf befinden sich bereits darin. Ich wuchte einen Sack Reis aus dem Einkaufswagen. Er ist schwerer als gedacht, und ich komme ins Straucheln.

Jack ist zur Stelle und legt seine Hände auf meine. »Ich habe ihn.« Er schiebt sein nacktes Knie unter den Sack, um ihn abzustützen.

Der Hautkontakt löst ein merkwürdiges Gefühl in mir aus. Ich lasse den Sack los, und er hebt ihn mühelos in die Kühlbox.

Dann wendet er sich an Mikki. »Wie sieht’s mit deinem Blutzuckerspiegel aus? Willst du eine Banane?«

»Nein, mir geht’s gut«, sagt sie.

Insgeheim bin ich beeindruckt, dass er nachgefragt hat. Mikki hat seit jeher ein Problem mit ihrem Blutzuckerspiegel und muss regelmäßig essen, sonst fühlt sie sich schlecht.

Jack holt eine Banane aus einer Tüte, schält sie und beißt hinein. »Du, Kenna?«

»Im Moment nicht, danke.«

Im Auto ist es unerträglich heiß, und beim Einsteigen stoße ich einen kleinen Schrei aus, weil das Leder des Sitzes mir fast die Haut verbrennt.

»Sorry«, sagt Jack. »Die Klimaanlage ist kaputt.«

Der Geruch von gemähtem Gras vermischt sich mit Benzindämpfen, als wir die Außenbezirke erreichen. Wir kommen an Cricketfeldern und Rugbyplätzen vorbei. Jedes Mal, wenn wir an einer Ampel halten, sehe ich kleine Schnappschüsse australischen Alltagslebens. Ein Mann mit Strohhut steht am Flussufer und angelt; eine vierköpfige Familie schleppt eine gigantische Kühlbox über die Straße. Jedes Auto scheint irgendeine Art von Wasserfahrzeug zu transportieren, sei es auf dem Dach, im Innenraum oder auf einem Anhänger – da gibt es Jetskis und Surfbretter, Boote und Kanus.

»Ihr kennt euch seit der Grundschule, stimmt’s?«, fragt Jack.

»Ja«, bestätige ich. »Nachdem mein Vater seinen Job verloren hat, sind wir von Schottland nach England umgezogen. Der Bruder meiner Mutter hatte eine Farm in Cornwall und brauchte Hilfe, also bin ich mitten im Jahr auf eine andere Schule gewechselt. Ich war die Neue mit dem komischen schottischen Akzent. Der Lehrer hat mich in die Klasse geführt, und da habe ich dieses Mädchen gesehen, das dieselben Turnschuhe anhatte wie ich.«

»Dieselben was?«

»Sneaker.« Mikki dreht sich um und grinst mich an. »Eigentlich sprechen Aussies ja dieselbe Sprache wie wir – aber nicht wirklich.«

Es waren Adidas. Schwarz mit weißen Streifen.

Cooler Name , sagte Mikki, als ich mich neben sie setzte.

Das ist die Kurzform von McKenzie , erklärte ich. Ich mag deine Schuhe. Mehr war nicht nötig. In dem Alter ist das Leben noch einfach. Wenn es doch nur so bleiben könnte.

Ich sehe eine Frau im Bikini, die ein Longboard auf ihrem Wagen befestigt. Das weckt Erinnerungen an die Sommer meiner späten Jugend in Cornwall, als der Dachgepäckträger von Mikkis VW Käfer unter der Last unserer Bretter fast zusammenbrach.

Der Verkehr ist dicht, als wir uns dem Stadtzentrum nähern.

»Komm schon, fahr zu!« Jacks Knie wippen ungeduldig. »Ich will endlich ins Wasser.«

»Ich auch«, sagt Mikki.

Hochhäuser gleiten vorbei und tauchen die Straße in Schatten. Eine Frau in einer Burka trägt ein Tablett mit Sushirollen über eine Kreuzung. Ein japanisches Mädchen hat eine McDonald’s-Tüte in der Hand. Fast könnte dies eine englische Großstadt sein – bis man genauer hinschaut und alte Männer in Shorts und Baseballkappen mit Surflogos sieht und ältere Damen mit nackten Beinen und Sandalen statt dicken braunen Strumpfhosen und festen Schnürschuhen.

Ein Plakat im Wartehäuschen einer Bushaltestelle erregt meine Aufmerksamkeit. Vermisst. Französische Staatsangehörige. Das Foto zeigt ein lächelndes dunkelhaariges Mädchen. Als der Bus weiterfährt, sieht man mehr von der Wand und ein weiteres Vermisstenplakat. Und dann noch eins.

»Wow! So viele verschwundene Rucksacktouristen.« Ich denke an Elkes Mutter und ihre traurigen Augen.

Miki macht eine Geste mit der Hand. »Australien ist ein großes Land. Hier verschwinden jedes Jahr dreißigtausend Menschen.«

Ich starre immer noch durch die hintere Scheibe auf die Poster, als Jack weiterfährt. Drei junge Frauen.

»Sieh mal!«, ruft Jack.

Zwischen den Hochhäusern erhasche ich einen Blick auf die strahlend weißen Segel der Oper von Sydney, aber im Moment bin ich eher an den vermissten Touristinnen interessiert. »Aber wie verschwinden sie denn?«

Mikki dreht sich auf ihrem Sitz zu mir herum und sieht mich an. Die Streben der Sydney Harbour Bridge malen filigrane Muster auf ihr Gesicht.

»Wer weiß? Manche verlaufen sich irgendwo, andere wollen einfach mal für eine Weile verschwinden. Die meisten tauchen früher oder später wieder auf.«