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KENNA

Als der Verkehr langsam nachlässt, gibt Jack Gas, und eine höchst willkommene Brise weht durchs geöffnete Fenster herein.

Kupferrote Klippen ragen zu beiden Seiten der Straße auf, die mitten durch den Fels gehauen wurde. Man nennt Australien »the lucky country«, das Land im Glück, aber ich bezweifle, dass die Menschen, die diese Straße gebaut haben, besonders glücklich waren.

»Dieser Strand.« Ich muss rufen, um mir über das Pfeifen des Windes Gehör zu verschaffen. »Wie weit ist es bis dorthin?«

»Vier bis fünf Stunden«, antwortet Jack. »Kommt auf den Verkehr an.«

»Wow, das ist aber ganz schön weit.« Angeblich kann ich mit dem Zug oder Bus zurückfahren, wenn ich will.

»Keine Sorge, es lohnt sich.«

Mikki nickt. »Auf jeden Fall.«

Ihre Begeisterung ist ansteckend. Ein Strand. Ich war nicht mehr am Strand, seit ich vor anderthalb Jahren aus Cornwall weggezogen bin. »Hat er auch einen Namen?«

»Sorrow Bay«, sagt Jack. »Aber wir nennen es einfach die Bucht.«

Die Straße steigt an. Hier und da zweigen zwischen Waldstücken tiefe Schluchten ab.

»Am südlichen Ende gibt es einen Felsvorsprung mit Kliffbrechern«, sagt Jack. »Und eine Flussmündung im Norden. Auf einer Seite liegt eine kleine Siedlung, aber da, wo wir sind, ist es praktisch menschenleer. Der Strand liegt eine Stunde von der nächsten Landstraße entfernt, und man braucht Allradantrieb, um hinzukommen. Es gibt zwar eine Piste, aber die ist voller Schlaglöcher. Man muss wissen, wo die Bucht liegt, sonst findet man den Weg nicht.«

Ich öffne Google Earth auf meinem Smartphone. Sorrow Bay. Da ist sie. Der winzige gelbe Strand liegt am Rand eines großen grünen Nationalparks. Und da ist auch der Fluss. »Shark Creek? Gibt es da welche? Haie, meine ich?«

Jack wirft Mikki einen Blick zu, als wüsste er nicht genau, ob er es mir sagen soll. »Es gab im Laufe der Jahre ein paar Vorfälle, aber uns kommt das zugute. Es schreckt Besucher ab.«

»Mit Vorfällen meinst du …?«

»Na ja, es sind hauptsächlich weiße Haie. Eine Begegnung mit denen überlebt man so gut wie nie. Aber deshalb ist der Strand auch nicht überfüllt. Früher war es ein beliebter Platz zum Zelten, jetzt surfen nur noch wir da.«

Ich schlucke. »Ein Glück, dass ich nicht vorhabe, ins Wasser zu gehen.«

»Warte, bis du den Strand gesehen hast.«

Haie sind etwas, woran Surfer nach Möglichkeit nicht denken. In Cornwall mussten wir uns darüber keine Gedanken machen, aber sowohl Mikki als auch ich haben auch schon an Orten gesurft, wo öfter Haie gesichtet wurden. Bei diesem Sport muss man das Risiko einfach hinnehmen, so wie Skifahrer und Snowboarder das Risiko von Lawinen hinnehmen müssen.

Mikki beugt sich über ihr Handy. Das macht sie hier also – sie surft mit Haien? Eigentlich sollte mich das nicht überraschen. Seit ich sie kenne, ist Surfen ihr Leben. Es war viele Jahre lang auch meines, aber Mikkis Verbindung zum Surfen reichte noch tiefer. Weil sie als Surflehrerin arbeitete, verbrachte sie praktisch den ganzen Tag im Wasser.

Ich unterdrücke ein Gähnen. Der Jetlag macht sich schon wieder bemerkbar. Ich fühle mich, als wäre es mitten in der Nacht, obwohl die Sonne scheint.

Ich schreibe meinen Eltern eine E-Mail und schaue mich dann ein bisschen auf Social Media um. Als ich das nächste Mal aus dem Fenster sehe, kann ich mir fast vorstellen, dass wir in Cornwall sind. Ich sehe hügelige Wiesen voller Löwenzahn, auf denen Kühe neben schneeweißen Gänsen grasen. Nur die Palmen verraten, wo wir uns wirklich befinden – und die Trockenheit der Vegetation. Es ist, als hätte jemand den Ofen zu heiß eingestellt und vergessen, ihn auszuschalten. Schilder fliegen vorbei. Swans Creek, Herons Creek. Für mich ist ein »Creek« ein schlammiger Bach, wenig mehr als ein Graben, aber hier sind die Creeks so breit, dass ich sie als Flüsse bezeichnen würde. Muddy Creek. Eight Mile Creek.

Auch Mikki ist mit ihrem Handy beschäftigt.

Ich lehne mich nach vorn und tippe ihr auf die Schulter. »Alles klar?«

»Ja, wieso?«

»Du bist so still.« Seit wir Sydney verlassen haben, hat sie kaum ein Wort gesagt.

»Sie hatte noch keinen Kaffee.« Jack gibt ihr einen kleinen Knuff. »Stimmt’s, Mikki? Wir halten noch mal an der Tanke, bevor wir vom Highway abfahren.«

Aufs Neue bin ich beeindruckt davon, wie gut er sie kennt. Mikki kann sehr launisch sein, vor allem wenn sie Koffein braucht. Ich schaue aus dem Fenster. Grassy Plains. Shallow Bay. Ich mag die Schlichtheit der Namen hier. Die Orte heißen so, wie sie sind. Cow Creek  – ist dort mal eine Kuh stecken geblieben? Mosquito Creek. In den möchte ich nicht reinfallen. Rattle Creek. In den auch nicht.

Als wir an der Tankstelle halten, gehen Mikki und ich auf die Toilette, während Jack den Wagen volltankt. Als ich zurückkomme, betrachtet Mikki etwas am Schwarzen Brett. Es ist über und über mit Zetteln bedeckt, die im Luftzug der Klimaanlage flattern: Wettervorhersagen, Buschwanderungen, Yogakurse und ein Männerkreis …

Vermisst. Deutsche Staatsangehörige. Zuletzt gesehen am 2 . September am Bondi Beach.

Zwei vertraute Augen blicken mich an: Elke. Ein seltsames Gefühl ergreift von mir Besitz. Fast ist es, als würde sie mich verfolgen.

Mikki erschrickt, als sie mich neben sich stehen sieht, und zieht mich zum Tresen. »Was möchtest du?«

»Cappuccino«, sage ich. »Aber den übernehme ich.«

»Lass mal.« Sie wirkt geistesabwesend.

Jack kommt ans Fenster.

Mikki signalisiert ihm durch eine Handbewegung, er solle zurück zum Wagen gehen. »Ich zahle!«, ruft sie und tritt vor, um unsere Bestellung aufzugeben. Ihr Blick springt kurz zurück zu dem Plakat, während wir auf unseren Kaffee warten.

Noch einmal versuche ich, Mikki mein Geld aufzudrängen, doch sie will davon nichts wissen.

»Danke«, sage ich und nippe an meinem Kaffee.

Draußen steht Jack neben einem knallgelben Jeep mit Surfbrettern auf dem Dach und unterhält sich mit zwei Frauen. Rent-a-Jeep steht an der Seite.

»Es gibt die Bumble Bay oben im Norden«, sagt er gerade. »Die ist ziemlich gut.«

»Moment mal.« Eine der Frauen blättert in einem kleinen Surfführer. »Ja, hier steht sie.«

Für den Moment verdränge ich die Gedanken an die verschwundenen Backpackerinnen.

»Hi. Seid ihr Amerikanerinnen?«

»Aus Kanada«, sagt die zweite Frau.

»Tut mir leid. Mit Akzenten bin ich ganz schlecht.«

Mit seinem Kaffeebecher in der Hand tritt Jack hinter die größere der beiden Frauen. »Keine Bewegung!«

Sie reißt die Augen auf. Sie ist hübsch mit ihren roten Haaren und ihrem kurzen Jumpsuit aus Jeansstoff.

Jacks Hand landet auf ihrer Schulter. »Moskito. Hab ihn erwischt!«

Sie lacht. »Danke! Die Viecher sind die reinsten Bestien hier.«

»Warte, da ist noch einer.«

Er kann die Finger gar nicht von ihr lassen. Ich glaube, er sucht lediglich nach einem Vorwand, um sie anzufassen. Ich schiele in Mikkis Richtung. Die Situation ist mir unangenehm, doch sie zeigt keinerlei Reaktion. Vielleicht macht er das öfter.

»Meine Ehefrau hat eben süßes Blut«, sagt die Dunkelhaarige.

»Hast du ihr schon von Sorrow Bay erzählt?«, frage ich Jack.

»Hey, wir müssen dann mal weiter«, sagt er.

Die Frau wirft einen Blick in ihr Büchlein. »Sorrow Bay? Davon steht hier nichts.«

Doch Jack ist bereits unterwegs zu unserem Wagen. In einem Moment flirtet er schamlos mit ihr, doch sobald er das Wort »Ehefrau« hört, muss er auf einmal dringend los. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er im Beisein seiner Verlobten fremde Frauen angräbt – homophob ist er auch noch?

»Wahrscheinlich ist sie zu klein«, sage ich.

»Lass uns weiterfahren, Kenna«, drängt Mikki.

Sie auch? Ich will den Frauen beweisen, dass ich anders bin. »Es gibt sogar einen Zeltplatz. Wir sind auf dem Weg dorthin.«

»Kenna!« Mikki zieht mich grob am Arm.

Eine der Frauen zückt ihr Mobiltelefon. »Ich google es mal.«

Jack drückt auf die Hupe.

Mikki kugelt mir fast den Arm aus. »Mein Gott, Kenna, jetzt komm doch endlich!«

»Sorry«, sage ich. »Wir müssen los. Schönen Aufenthalt noch!«

»Euch auch!«, ruft die Frau.

Im Auto herrscht Schweigen, als Jack wieder auf die Straße auffährt.

»Schaut euch die Bäume an«, sagt er irgendwann. »Der Wind kommt aus Süden. Diese Bastarde kriegen all die guten Wellen ab.«

Was für ein Arschgesicht. Lass es gut sein , sage ich mir.

Er knufft Mikki in die Seite. »Magst du noch mal die Vorhersage checken, bevor wir abbiegen?«

Mikki holt ihr Telefon heraus. Ich erinnere mich an die verschwundenen Touristinnen und zücke ebenfalls mein Handy. Es gibt diverse Artikel über sie. Ich klicke auf den ersten. Acht verschwundene Rucksacktouristen, und kein Ende in Sicht … Flüchtig schaue ich mir die Fotos an. Die meisten sind Frauen, aber es gibt auch zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Einer trägt einen Neoprenanzug, und seine nassen blonden Haare kleben ihm seitlich im Gesicht; der andere sieht in Anzug und Krawatte so sauber und adrett aus, dass man ihn sich überhaupt nicht als Rucksacktouristen vorstellen kann. Auch die Nationalitäten sind verschieden: USA , Schweden, Irland … Einige haben ein Surfbrett in der Hand.

Der Kaffee zeigt bei mir keinerlei Wirkung. Ich bin kurz davor, einzudösen, obwohl ich mich nach Kräften bemühe, wach zu bleiben.

»Heute haben die Wellen drei bis vier Fuß«, verkündet Mikki. »Morgen leicht nachlassend.«

»Mist!«, sagt Jack.

Ich klammere mich an meinen Sitz, als er um eine Kurve biegt.

Ein Schild fliegt an mir vorbei: Willkommen im Sorrow Nationalpark.

Wir befinden uns auf einer einspurigen Schotterpiste. Zwischen den Bäumen ist hin und wieder dunkles Wasser zu erkennen. Der Shark Creek, nehme ich an. Für mich sieht es nach einem ausgewachsenen Fluss aus.

Dann ein weiteres Schild: Gefahr von Überflutung .

»Was macht der Wind?«, will Jack wissen.

Mikki starrt auf das Display ihres Smartphones. »Morgens aus südlicher Richtung, zum Nachmittag hin eher Nordwind.«

Gähnend klicke ich auf den nächsten Artikel. Ein weiterer vermisster Tourist wurde genau wie Elke zuletzt am Bondi Beach gesehen. Na ja, wahrscheinlich zieht es die meisten Backpacker dorthin.

»Beeil dich lieber«, sagt Jack, als er sieht, was ich tue. »Gleich ist das Signal weg.«

»Ernsthaft?«

»Hier draußen ist ja niemand«, sagt Jack. »Jedenfalls niemand außer uns.«

So langsam bereue ich, mitgekommen zu sein. »Es gibt hier kein Internet, keinen Handyempfang, gar nichts? Scheiße!«

Der Artikel lädt nicht. Tatsächlich: Kein Netz. Normalerweise bin ich ständig online. Patienten buchen mich über meine Website. Ich habe dort zwar gepostet, dass ich den ganzen Monat über im Urlaub bin, aber wenn einer meiner Stammpatienten sich verletzt, wird er mir vermutlich eine Nachricht schreiben. Und was, wenn ich von hier wegwill? Ohne Telefon, um mir ein Taxi oder ein Uber zu rufen, bin ich von einem Typen abhängig, den ich kaum kenne.

Meine Augenlider sind mittlerweile so schwer, dass es wehtut, sie offen zu lassen. Ich kann nicht länger gegen den Jetlag ankämpfen. Im Fußraum finde ich einen schwarzen Hoodie. Ich hebe ihn auf, knülle ihn zusammen und lege ihn gegen das Fenster als Kissen. Dann schließe ich die Augen. Während ich wegdämmere, höre ich Mikkis Stimme.

»Sie schläft«, sagt sie anklagend. »Du hast es doch nicht schon wieder gemacht, oder?«

»Nein!«, sagt Jack. »Natürlich nicht. Sie ist deine Freundin!«

Im Halbschlaf frage ich mich, worüber sie reden. Aber ich bin zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen.