KENNA
Ich reiße die Augen auf, als ich jäh nach vorne geschleudert werde. Der Wagen kommt schlingernd zum Halten. Ein Blätterdach verdeckt den Himmel und taucht die Straße ins Halbdunkel – wenn man es überhaupt als Straße bezeichnen kann. Eigentlich sind es nur Staub und Steine.
Vor uns taucht eine Absperrung auf. Gefahr! Erdrutsche. Straße gesperrt.
Mikki öffnet die Beifahrertür, springt ins Freie und zieht die Absperrung zur Seite. Jack fährt weiter. Schotter knirscht unter den Reifen. Mir wird ganz mulmig zumute. Auf einmal bin ich hellwach und recke den Hals, um zu sehen, wo Mikki ist. Jack tritt erneut auf die Bremse, und Mikki steigt wieder ein. Hinter uns steht die Absperrung wieder an ihrem Platz.
Während wir über die Piste holpern, spähe ich nach vorn durch die Windschutzscheibe. »Da stand doch, dass die Straße gesperrt ist.«
»Mach dir deswegen keinen Kopf.« Jack fährt mehrere Minuten lang weiter. Der Wagen hüpft durch Schlaglöcher.
Ein metallisches Geräusch ertönt, als wir in einem besonders tiefen Krater landen. Ich umklammere meinen Sitz aus Angst, dass ein Reifen platzen könnte. Was dann? Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Immer noch kein Netz. Wir wären nicht mal in der Lage, einen Abschleppwagen zu rufen.
Der Wald erstreckt sich scheinbar endlos in alle Richtungen. Die Stämme der Bäume sind nackt und stellenweise geschwärzt, aber hier und da sprießen mutig einzelne junge Blättchen. Hinter einer Kurve kommen wir an eine Senke, in der Wasser über die Straße fließt. Jack fährt hindurch, ohne das Tempo zu drosseln, sodass Fontänen bis zu den Fenstern hochspritzen. Inzwischen habe ich wirklich ein bisschen Angst. Mir war nicht klar, dass diese Bucht so abgelegen ist.
»Ich habe gar keinen Schlafsack dabei«, sage ich.
»Wir haben noch einen übrig«, erwidert Mikki.
»Ich habe auch keine Sonnencreme mitgenommen.«
»Du kannst meine benutzen.« Sie sieht mich an. »Früher hast du dir nie so viele Gedanken gemacht. Aber mir ging es auch so, als ich zum ersten Mal hier war. Der Strand wird dir guttun.«
Jack macht eine Vollbremsung.
»Was ist denn?«, fragt Mikki.
Jack deutet auf etwas Langes, Dunkles, das vor uns auf dem Weg liegt. Ein Ast. Nein, eine Schlange.
Jack lässt den Motor aufheulen, doch das Tier bewegt sich nicht vom Fleck. »Fuck.«
»Fahr einfach drüber«, sagt Mikki.
»Ich will sie nicht zerquetschen.« Jack atmet langsam ein. Seine Knöchel am Lenkrad sind weiß.
»Soll ich …«, beginnt Mikki.
Doch Jack öffnet die Tür und springt nach draußen. »Nein.«
»Vorsicht!«, ruft Mikki.
Er schlägt die Fahrertür zu. Wir beide beobachten ihn durch die Windschutzscheibe.
»Ist die giftig?«, frage ich.
»Wahrscheinlich«, sagt Mikki. »Er hat furchtbare Angst vor Schlangen.« Jack bückt sich und hebt ein vertrocknetes Blatt auf, mit dem er nach der Schlange wirft. Es landet auf ihrem Rücken, und sie kriecht ins Unterholz.
Mit bleichem Gesicht steigt er wieder ein.
Mikki tätschelt seine Schulter. »Gut gemacht.«
Er umklammert lange das Lenkrad, ehe er weiterfährt.
Ein Stück voraus kommen mehrere Fahrzeuge in Sicht: ein auffälliger roter Pick-up und ein schlammbespritzter Geländewagen. Jack hält neben ihnen. Als ich aussteige, ist der Untergrund hart und trocken unter meinen Füßen. Ich rieche Baumrinde und Moos, und die Luft ist erfüllt vom Summen der Insekten.
Jack öffnet die hinteren Türen. »Nehmt mit, was ihr tragen könnt.«
Beladen mit Taschen, geht Mikki einen schmalen Pfad hinunter. Ich schwinge mir meinen Rucksack auf die Schultern, hole das Surfbrett heraus, das Jack mir gestern gezeigt hat, schnappe meinen Tagesrucksack und folge ihr. Es fühlt sich seltsam an, wieder ein Surfbrett unter dem Arm zu halten. Ich habe nicht vor, eine Gewohnheit daraus zu machen. Mikki biegt um eine Kurve und verschwindet aus meinem Blickfeld. Das Surfbrett schlägt gegen meine Hüfte, als ich meine Schritte beschleunige. Der Pfad gabelt sich, aber Mikki ist nirgends zu sehen.
Ein hölzernes Hinweisschild: zum Strand . In der Ferne das Rauschen der Wellen. Insektensummen in meinen Ohren, als ich weiterlaufe. Der Pfad ist halb überwuchert, Zweige zerkratzen mir das Gesicht. Dann versperrt mir ein Spinnennetz den Weg. Ich mag schon unter normalen Umständen keine Spinnen, aber die in England sind wenigstens nicht tödlich. Ich werfe einen Blick zurück in der Hoffnung, Jack zu sehen, doch da ist niemand. Auch die Wellen sind nicht mehr zu hören, was merkwürdig ist. Vorsichtig schiebe ich mit der Nase des Surfbretts das Netz zur Seite, dann ducke ich mich, Ausschau nach Spinnen haltend, darunter hindurch. Die Bäume stehen dicht an dicht zu beiden Seiten, und im Vorbeigehen verfangen sich immer wieder Zweige in meinem Haar. Habe ich den falschen Weg genommen?
Hinter der nächsten Kurve steht ein Mann.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. »Hi.«
Er trägt nichts als ein Paar Boardshorts. Er hat sehr kurz geschorenes schwarzes Haar und atemberaubende graugrüne Augen. Er starrt mich an, als hätte er einen Geist gesehen.
»Ich bin Kenna.«
Er räuspert sich. »Clemente.«
Er ist braun gebrannt und hat die schmalen Hüften und den starken Oberkörper eines Surfers. Tattoos zieren seine Arme und Beine. Er muss einer ihrer Freunde sein – ein Mitglied der Sippe.
»Ich suche den Strand«, sage ich. »Und meine Freundin Mikki.«
Clemente gibt sich einen Ruck. »Dann bist du hier falsch.«
Er spricht mit leichtem Akzent – Spanisch, wenn ich mich nicht irre.
»Oh«, sage ich. »Aber das Schild …«
»Komm.« Ehe ich ihn aufhalten kann, nimmt Clemente mir das Surfbrett ab. Ich folge ihm durchs Unterholz zurück bis zur Gabelung. Nach kurzer Zeit erreichen wir eine Lichtung, auf der vier Zelte um eine hölzerne Picknickbank und einen Grill gruppiert sind. Zu einer Seite steht ein kleines Gebäude aus Beton – ein Klohäuschen?
Eine junge Frau kommt auf mich zu. »Scheiße, wer bist du denn?«
Ich versuche, nicht zurückzuzucken. Sie hat einen starken australischen Akzent, lange blonde Dreads und eine Haut, die zu viel Sonne abbekommen hat.
»Das ist Kenna«, stellt Jack mich vor. »Mikkis Freundin aus England. Kenna, das ist Sky.«
Sky fährt zu Mikki herum.
»Er hat sie eingeladen, nicht ich«, sagt diese leise.
Ich spüre einen schmerzhaften Stich in der Brust.
Jack legt mir einen Arm um die Taille und lotst mich zu einem Haufen aus Taschen und Brettern. »Stell erst mal alles hier ab.«
Ausnahmsweise bin ich froh, dass er so zupackend ist. Argwöhnisch gehe ich an Sky vorbei. Halb rechne ich damit, dass sie mich anfällt. Ein junger Mann mit dunkler Haut, rasiertem Schädel, markanten Wangenknochen und dicken Muskeln tritt vor und stellt sich neben sie und Clemente. Die drei taxieren mich von oben bis unten. Ich komme mir vor wie eine Kriminelle vor Gericht.
Sky wendet sich an Jack. »Du kannst nicht einfach ohne Absprache irgendwelche Leute anschleppen.« Sie ist schlank und muskulös – der Ringerrücken ihres Tops bringt ihre definierten Schultern zur Geltung – und mehrere Zentimeter kleiner als ich. Sie trägt zerrissene Carghoshorts, und die Zehennägel ihrer nackten Füße sind meerblau lackiert.
Der Kahlrasierte schüttelt den Kopf. »Ja, das kannst du echt nicht ständig machen, Bruder.« Seinen Akzent kann ich nicht einordnen.
»Sie ist extra aus England hergeflogen«, sagt Jack. »Wär doch schade, wenn sie so weit reist und dann nur ein paar Stunden mit ihrer Freundin verbringen kann.«
Als Mikki die Sippe erwähnte, habe ich mir einen Haufen Hippies vorgestellt, die Blumen im Haar tragen, Gras rauchen und barfuß ums Lagerfeuer tanzen. Nicht so was wie das hier.
Sie stehen eng zusammen und diskutieren darüber, wie sie mit mir verfahren sollen. Ihr Verhalten erinnert mich an das einer Sportmannschaft, die überlegt, mit welcher Taktik sie das gegnerische Team am besten fertigmachen soll.