7

KENNA

Mikki wirft mir einen hilflosen Blick zu. Sag was, Mikki. Setz dich für mich ein. Doch sie schweigt. Ich spüre, wie unangenehm ihr die Situation ist. Meine Ankunft hat ihr Ärger eingebracht.

Jack stößt Clemente in die Seite. »Was meinst du? Sie erinnert mich an …«

»Lass!« Clementes Blick trifft meinen. Diese unglaublichen Augen … ich kann nicht wegsehen. Oder schlucken. Oder auch nur atmen. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als er herumwirbelt und zwischen den Bäumen verschwindet.

Sky seufzt. »Was machen wir denn jetzt?«

»Kenna bleibt ein paar Tage hier, dann reist sie weiter«, sagt Mikki.

Endlich. Leider ein bisschen zu spät.

»Genau«, sagt Jack. »Wenn wir das nächste Mal Vorräte holen, fahren wir sie zur Greyhound-Haltestelle.«

Um mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, trinke ich einen Schluck aus meiner Wasserflasche und schaue mich um. Eine zwischen den Bäumen aufgespannte Plane schützt die Sportausrüstung: Yogamatten, Gymnastikbälle und Faszienrollen wie die, die ich auch in meiner Praxis verwende.

Überall liegen Surfbretter herum, die gewachsten Oberseiten zum Schutz vor dem Sonnenlicht, das durchs Blätterdach fällt, nach unten gedreht.

»Aber jetzt kennt sie die Bucht«, gibt der Kahlrasierte zu bedenken.

»Wem soll sie denn davon erzählen, Victor?«, fragt Jack.

»Das ist ja das Problem!« Victor hebt die Stimme. »Wir wissen es nicht, stimmt’s?«

Eine Krähe fliegt auf und stößt über den Baumwipfeln einen Warnschrei aus.

»Sei still.« Sky fasst ihn an der Schulter, dann tritt sie zu mir. »Victor hat recht. Du darfst niemandem von diesem Ort erzählen, Kenna.«

Victor folgt ihr. »Was wir hier haben, ist was ganz Besonderes.« Er legt den Arm um sie; anscheinend sind die beiden ein Paar.

»Wem sollte ich denn davon erzählen?«, frage ich. »Ich kenne niemanden in Australien bis auf Mikki und euch.«

Jack wendet sich an die Runde. »Seht ihr?«

»Hohe Brandung!«, ruft eine Stimme.

Wir alle drehen uns um. Clemente kommt den Pfad entlanggelaufen.

»Es ist zu windig«, meint Sky.

»Er hat die Richtung gewechselt.« Clemente fängt an, ein Brett zu wachsen.

Auf einmal heben alle ihre Bretter auf und reichen das Wachs herum. Ich warte darauf, dass sie sich an mich erinnern, aber Clemente verschwindet den Pfad entlang, und die anderen laufen hinter ihm her, bis nur noch Mikki und ich zurückbleiben.

Mikki wirkt aufgewühlt und durcheinander. »Tut mir leid. Sie sind ziemlich eigen, was diesen Ort hier angeht. Die kriegen sich schon wieder ein.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Klar.« Früher waren Mikki und ich ein Team. Wir beide gegen den Rest der Welt. Ich kann nicht fassen, wie sehr sich ihre Loyalitäten verschoben haben.

Sie kramt in ihrem Rucksack, holt ein Bikinioberteil heraus, zieht sich T-Shirt und BH aus und schlüpft hinein.

Ich blinzle geschockt. Früher war sie immer so schamhaft.

Ihre Boardshorts hat sie bereits an. Sie nimmt ihr Brett und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. »Kommst du mit?«

Einen Moment lang spiele ich tatsächlich mit dem Gedanken. Wenn ich nur auslöschen könnte, was passiert ist. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte zu einem Moment, als das Meer noch nicht mein Feind war. »Nein. Aber viel Spaß.«

»Danke.« Mikki läuft los, und auf einmal ist die Lichtung ganz still bis auf die Geräusche der Natur: das Rascheln der Blätter, das entfernte Rauschen der Wellen.

Eine dunkle Gestalt stürzt auf mich zu. Was zum …?

Im nächsten Moment atme ich auf. Es ist nur ein Neoprenanzug, der an einem Kleiderbügel an einem Ast hängt. Ich stehe da und versuche, mich zu sammeln, aber jede Bewegung der Bäume und Sträucher setzt meinen ohnehin schon überreizten Nerven zu.

In meinem Daypack befinden sich mein Portemonnaie, mein Reisepass und mein Smartphone. Ich nehme es und eile den anderen hinterher den Pfad entlang. Der Baumbestand wird lichter, das Rauschen der Wellen lauter. Ein scharfer Salzgeruch liegt in der Luft. Ich gelange zu einem verblichenen Holzschild: Achtung! Unbewachter Strand. Starke Strömungen. Dahinter liegt eine sandige Bucht mit zerklüfteten dunklen Klippen am südlichen Ende. Wellen brechen sich vor den Felsen, klar und vollkommen wie Glas. Es ist ein bittersüßer Anblick, so wie wenn man zufällig einem alten Liebhaber wiederbegegnet, den man insgeheim immer noch mag, obwohl man weiß, dass er einem nicht guttut. Ich bin nach London gezogen, um nicht ständig das Meer sehen zu müssen, aber hier ist es wieder, und sein Sog ist stärker als jemals zuvor.

Mikki balanciert über die Steine. Die anderen sind bereits im Wasser und paddeln aufs offene Wasser hinaus. Ich streife meine Flipflops ab. Der Sand liebkost meine Zehen, als ich Kurs auf die Felsen nehme.

Das Wasser ist von einem unglaublich intensiven Türkisblau. Früher dachte ich immer, es wäre diese Farbe, die dem Surfen seinen unvergleichlichen Zauber verleiht, aber ich bin schon in der Abenddämmerung, bei Mondschein und bei Regen gesurft. Mal war das Wasser grau, mal schwarz, mal silbern. Ich habe jede nur denkbare Schattierung von Blau und Grün gesehen, und jede einzelne ist auf ihre Art magisch.

Clemente hat eine Welle erwischt und surft sie mit kraftvollen, scharfen Turns bis fast an den Strand. Sky steht auf ihrem Brett und reitet die Welle dahinter. Meine Sehnsucht wird stärker. Ich könnte zurücklaufen, Jacks Ersatzbrett holen und mich zu ihnen gesellen. Jenseits der schützenden Bäume ist der Wind stärker. Er bläst mich in Richtung Wasser, als könnte er meine Gedanken lesen. Ich lehne mich nach hinten, um dagegen anzukämpfen, und klettere stattdessen seitlich über die Felsen. Ich suche nach einem flachen Stein, auf dem ich mich niederlassen kann. Na, bitte.

Das Wasser ist so klar, dass ich die Muscheln und Kiesel am Grund sehen kann. Ich greife mit der Hand hinein. Es ist wärmer als gedacht – viel wärmer als das Meer vor Cornwall selbst im Hochsommer. Ich lasse das Wasser durch meine Finger rinnen. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass dieselben Wassermoleküle vielleicht auch schon an meinen alten Strand gespült wurden, sich an einem hawaiianischen Riff gebrochen haben oder einst Teile eines gigantischen Eisbergs waren.

Das Glitzern der Sonne auf der Wasseroberfläche blendet mich. Ich hätte meine Sonnenbrille aufsetzen sollen. Diese Helligkeit hier; ich bin nicht darauf vorbereitet. Eine größere Welle bricht sich an den Felsen, und meine Shorts werden durchnässt, aber das ist mir egal. Ich lecke mir die Lippen und schmecke Salz. Gott, wie ich das vermisst habe. Ich rutsche weiter nach vorn, bis meine Füße ins Wasser hängen. Es ist, als würde ich meine Seele waschen.

Jack erwischt eine Welle und springt auf. Die weiße Krone wölbt sich über seinem Kopf, und er verschwindet im Tunnel, ehe er auf der anderen Seite wieder herausgeschossen kommt. Abermals spiele ich mit dem Gedanken, zurückzugehen und mein Brett zu holen. Aber ich weiß genau, was dann passieren würde. Zum einen würde ich mir wehtun, weil ich völlig aus der Übung bin. Aber was noch schlimmer ist: Ich würde wieder dem Bann des Sports erliegen, den ich aufgegeben habe. Es würde alles von vorne losgehen.

In meinen Jahren als Surferin konnte ich nie Pläne machen, weil sich mein ganzes Leben um die Wellen drehte. Ein geregelter Job? Tagsüber ist am Strand weniger los. Die Hochzeit meiner Cousine? An dem Tag waren die Wellen bombastisch. Ein Städtetrip mit Freundinnen? Für zweihundert Pfund kann ich nach Biarritz fliegen! In gewisser Weise war es eine Erleichterung, als ich mit dem Surfen aufhörte, weil ich endlich mein Leben leben und mich auf meinen Beruf konzentrieren konnte, auch wenn ich nicht behaupten kann, damit glücklicher zu sein.

In Mikkis Nähe baut sich eine Welle auf. Sie paddelt parallel dazu. Nimm sie nicht, Mikki! Sie wird sich direkt an den Felsen brechen, und der Rückstrom würde das Wasser vor ihr wegsaugen. Wenn sie stürzt, kann sie sich ernsthaft verletzen.

Doch sie hält auf die Welle zu. Hinter ihr türmt sich der Ozean auf, und im ersten Moment sieht es so aus, als würde sie kopfüber ins Wasser fallen, doch dann ziehen sich ihre Knie zu einem scharfen Bottom Turn zusammen, und irgendwie gelingt es ihr, die Balance zu halten. Der Rückstrom setzt ein, sodass das Wasser auf den Felsen nur wenige Zentimeter hoch ist, als sie im Zickzack darüber hinweggleitet.

Stolz erfüllt mich. Mit dreißig ist sie genauso furchtlos wie ich mit zwanzig. Aber die Risiken, die sie eingeht! Je eher ich sie von hier weghole, desto besser. Ich fische mein Handy aus der Tasche. Immer noch kein Netz. Ohne ein eigenes Transportmittel oder auch nur die Möglichkeit, ein Uber zu rufen, bin ich auf die Hilfsbereitschaft der anderen angewiesen. Hinter mir ragen Klippen auf. Vielleicht gibt es weiter oben irgendwo Empfang. Aber wie soll ich da hochkommen?

Ich mache mich auf den Weg zurück über den Strand. Die Sonne brennt auf meinen Armen und auf meinem Kopf. Ich habe nicht daran gedacht, einen Hut aufzusetzen oder mich einzucremen.

Am hinteren Ende der Bucht ragt eine Felswand bis ins Wasser. Dahinter muss sich der Fluss befinden. Mir fällt auf, wie ruhig das Wasser neben den Felsen ist und dass sich die Wellen an dieser Stelle nicht brechen. Hätte ich nicht meine ganze Jugend mit Surfen an der tückischen Küste Cornwalls verbracht, wäre mir die starke Unterströmung nicht aufgefallen.

Ich hebe meine Flipflops auf und gehe zurück in den Wald. Das Säuseln der Blätter hat etwas Beruhigendes, die Luft hier ist um mehrere Grad kühler. Der Pfad führt erst nach links, dann nach rechts, und nichts deutet darauf hin, dass die Bäume je aufhören. Stellenweise ist das Unterholz so dicht, dass ich mich blindlings durchschlagen muss. Wolken von Moskitos steigen auf, als ich mir meinen Weg bahne.

Das Zirpen der Grillen schwillt bis zu ohrenbetäubender Lautstärke an. Ich habe das Gefühl, ich könnte meilenweit in eine beliebige Richtung laufen, ohne jemals den Weg ins Freie zu finden. Hin und wieder werfe ich einen Blick hinter mich, um mich zu vergewissern, dass ich noch sehen kann, aus welcher Richtung ich gekommen bin.

Eine Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit. Auf einem Blatt sitzt ein leuchtend blauer Schmetterling. Er öffnet und schließt seine Flügel. Wie gebannt bleibe ich stehen und betrachte ihn. Etwas summt an meinem Ohr vorbei und fliegt gegen meine Wange. Quietschend verscheuche ich das Insekt mit der Hand.

Als ich aufblicke, habe ich jede Orientierung verloren. Ich drehe mich einmal langsam um mich selbst. Grün, so weit das Auge reicht – so viel Grün, dass einem schwindlig wird davon.

Zu beiden Seiten schmale Schneisen im Unterholz. Welchen Weg bin ich gekommen? Ich schaue nach links, dann nach rechts. Beide Richtungen sehen exakt gleich aus. Ich kann die Wellen nicht mehr hören, deshalb weiß ich nicht, ob der Strand hinter oder vor mir liegt. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Immer noch kein Signal. Keine Panik. Ich bin seit höchstens drei oder vier Minuten unterwegs, also wähle ich willkürlich eine Richtung aus und wende mich nach rechts. Wenn ich nach fünf Minuten nicht zurück auf die Lichtung stoße, werde ich kehrtmachen und die andere Richtung probieren. Nichts leichter als das.

Ich marschiere los. Schon bald klebt mir mein T-Shirt am Rücken, und ich bekomme rasenden Durst. Ich habe meine Wasserflasche nicht mitgenommen. Mir kommt eine Schlagzeile über einen Wanderer in den Kopf, der sich mehrere Tage lang in den Blue Mountains verirrt hatte und nur überlebte, weil er das Wasser trank, das sich in den Blättern gesammelt hatte. Ich spähe ins Gebüsch, aber da ist nirgendwo ein Tropfen – es ist viel zu heiß.

Sind die fünf Minuten schon um? Mir schwirrt der Kopf. Ich lasse mich gegen den nächstbesten Baumstamm sinken und versuche nachzudenken. Soll ich hier warten, bis es kühler wird, oder lieber weitergehen? Ich schließe die Augen.

Etwas summt an meinem Ohr, und ich fahre in die Höhe. Ich muss eingeschlafen sein, denn ich bin noch durstiger als zuvor. Mein Kopf tut weh. Ein Stück weiter vorn stehen die Bäume dichter, also begebe ich mich in ihren Schatten. Durch die Büsche sehe ich etwas. Mein Gehirn braucht einen Moment, um den Anblick ordnungsgemäß zu verarbeiten. Auf der Erde, durch die Lücken im Blätterwerk gerade eben zu erkennen, liegt eine Leiche.