8

KENNA

Ein Schrei dringt aus meiner Kehle.

Die Leiche rappelt sich auf, und ein Mann mit zerzausten blonden Haaren und struppigem Bart kommt auf mich zu. Instinktiv hebe ich beide Hände, doch er macht keine Anstalten, mich anzugreifen.

»Hi«, sage ich. Es klingt wie ein Quieken.

Sein Blick springt von meinem Gesicht zu den Bäumen hinter uns. »California Dreaming« lautet der Schriftzug auf seinem schmutzigen weißen T-Shirt.

Ich weiß nicht, ob er zur Sippe gehört oder ein Tourist oder ein Obdachloser ist.

»Ich habe mich verlaufen«, sage ich. »Weißt du den Weg zurück zum Zeltplatz?«

»Wer bist du?« In seiner Stimme schwingt Zorn mit.

»Kenna. Eine Freundin von Mikki.«

Er denkt kurz nach. Dann umrundet er mich. »Hier lang.«

Warum hat er im Gebüsch gelegen? Ich gebe mir einen Ruck und beeile mich, ihm zu folgen. »Wie heißt du?«

»Ryan.«

»Kommst du aus Kanada?«

Er wirft einen Blick über die Schulter und schaut mich einen Moment prüfend an. »USA «, sagt er schließlich.

»Aha. Woher denn?«

»New York.« Er übertreibt seinen Akzent. »Nein, in Wahrheit bin ich aus Kalifornien.«

Offenbar gehört er zu der Sorte Mensch, die das Gefühl haben, aus allem einen Witz machen zu müssen. Ich hasse das, weil man dann nie sicher sein kann, ob jemand etwas ernst meint oder nicht. Normalerweise ist das ein Schutzmechanismus – wenn alles zum Lachen ist, bleibt man immer an der Oberfläche und vermeidet es, allzu persönlich zu werden. Trotzdem ist es unfassbar anstrengend.

Ryan bleibt abrupt stehen und deutet nach vorn. Im Baum vor uns hängt etwas Orangefarbenes. Groß und oval. Vielleicht eine Frucht. Er schlingt die Beine um den Baumstamm und klettert nach oben.

»Was ist das?«, frage ich.

»Papaya.« Er pflückt sie mit einer Drehbewegung, inspiziert sie und wirft sie gleich darauf zur Seite, als hätte er sich daran die Finger verbrannt. Dann rutscht er den Stamm wieder herunter. »Da waren schon die Fledermäuse dran. Die übertragen Krankheiten.«

Er spuckt in seine Handfläche und wischt sie an der knorrigen Baumrinde ab.

Ein lautes Zwitschern ertönt aus einem nahegelegenen Gebüsch. Ich weiche vor dem Geräusch zurück. »Was ist das?«

»Bloß Grillen.«

Wir gehen weiter.

»Woher kennst du den Weg?«, frage ich. »Hier sieht doch alles gleich aus.«

»Ich war oft genug hier.« Ryan zeigt auf einen dicken Baumstamm von etwa einem Meter Durchmesser. »Irgendwann erkennt man die Orientierungspunkte.«

»Ich wundere mich, dass es hier nicht mehr Schilder gibt.«

»Früher gab es mehr.«

Zwischen den Zweigen blitzt etwas Grünrotes auf. Mit zusammengekniffenen Augen spähe ich nach oben zu den Vögeln.

»Loris.« Ryan steckt sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. Jedes Mal, wenn unsere Blicke sich treffen, schaut er weg. Er setzt sich wieder in Bewegung. Das Unterholz wird dichter.

»Pfeif«, sagt er.

»Was?«

»Damit die Schlangen wissen, dass du kommst.«

Ist das ein Scherz?

»Bei warmem Wetter kommen sie zum Sonnenbaden raus. Du willst nicht auf eine treten. Wenn sie dich hören, haben sie Zeit zu verschwinden.«

Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob er mich auf den Arm nehmen will, trotzdem stoße ich einen Pfiff durch die Zähne aus, während ich gleichzeitig den Boden vor mir absuche. Keine Ahnung, wo Ryan mich hinführt. Verdammter Jetlag. Ich habe überhaupt keine Kraft mehr.

Auf einmal sind wir wieder auf der Lichtung. Die anderen stehen in tropfnassen Schwimmsachen herum. Als sie mich sehen, verstummen sie schlagartig. Es ist nicht schwer zu erraten, worüber sie gesprochen haben. Mikki lächelt mich verlegen an.

Ryan tritt auf die anderen zu. »Kann mir mal jemand erklären, was die hier zu suchen hat?«

»Keine Sorge«, sagt Sky. »Wir haben alles im Griff. Sie ist nur für ein paar Tage hier.«

»Mich hat niemand gefragt«, sagt er.

Ich dachte, Sky und Victor wären zusammen, aber jetzt legt sie in einer sehr vertraulichen Geste den Arm um Ryans Schulter und geht mit ihm in den Schutz der Bäume, um zu reden. Die anderen zerstreuen sich. Noch einmal lächelt Mikki, dann tritt sie auf eins der Zelte zu. Ich würde gerne mit ihr sprechen, aber wahrscheinlich will sie sich umziehen.

Der Jetlag wird immer schlimmer. Sehnsuchtsvoll betrachte ich die Zelte. Am liebsten möchte ich mich in einem davon verkriechen und schlafen. Meine Wasserflasche ist noch da, wo ich sie neben dem Haufen aus Taschen abgestellt habe. Herrlich. Ich trinke in tiefen Zügen. Das Wasser hat die Temperatur einer heißen Badewanne und schmeckt nach Plastik, aber das ist mir egal.

Clemente und Jack sind am Wasserhahn und nehmen eine provisorische Dusche, indem sie Flaschen abfüllen und über ihren Köpfen ausgießen.

Auf einmal spüre ich einen heftigen Schmerz am großen Zeh. Als ich nach unten schaue, sehe ich eine riesengroße braun glänzende Ameise auf meinem Fuß.

»Scheiße!« Ich schüttle sie ab und hüpfe, aus Angst, dass noch weitere in der Nähe sein könnten, auf einem Bein herum.

»Was ist passiert?«, ruft Jack.

»Eine Ameise hat mich gebissen.«

»Bulldoggenameise«, sagt er. »Fiese Biester.«

»Gott, das brennt.« Mir tränen die Augen.

»Mach dir Eis drauf.« Die Kühlbox aus Jacks Auto steht im Schatten unter einem Baum. Er geht hin und holt eine Handvoll Eiswürfel heraus. Ehe ich protestieren kann, führt er mich zu einem Baumstumpf, nimmt meinen Fuß auf seinen Schoß und presst die Eiswürfel auf meinen Zeh. Auf ein unsichtbares Signal hin heben die Loris von ihrem Ast ab und fliegen laut kreischend einen Kreis über den Baumwipfeln.

Die Haare an Jacks Schenkel reiben sich an meinem Knöchel. Dieser Typ hat wirklich keinerlei Gespür für persönliche Distanz. Clemente schaut mit düsterer Miene zu. Gleich darauf bemerke ich, dass auch Sky und Ryan uns beobachten.

Ich nehme Jack das Eis ab. »Ich kann das schon alleine.«

Die Loris kehren auf ihren Ast zurück, und ihr Gekreisch geht bei geringerer Lautstärke weiter, als würden sie die soeben geflogene Runde analysieren. Ich kühle meinen Zeh.

»Ich habe dich am Strand gesehen«, sagt Jack. »Was meinst du? Schön, oder?«

»Ja, wirklich sehr schön.«

Jack strahlt. »Sag ich doch!«

Ich werde nicht recht schlau aus ihm. Freundlich zu Schlangen, obwohl er sie nicht ausstehen kann, Mikkis Bedürfnissen gegenüber aufmerksam und bisher immer nett zu mir. Also: Was ist es an ihm, das mich stört? Ist es nur meine Vermutung, dass er Mikki finanziell ausnutzen könnte?

Mikki taucht aus dem Zelt auf und geht mit ihren nassen Sachen zu einer zwischen den Bäumen aufgespannten Wäscheleine. Clemente steht an der Kühlbox. Ich sehe, wie er eine Socke mit Eis füllt und sie sich um die Finger wickelt: ein selbst gemachtes Kühlkissen.

Eiswasser tropft zwischen meinen Fingern hindurch, als ich zu ihm humple.

»Hast du dich an der Hand verletzt?«

Seine feuchten Haare stehen ihm in kleinen dunklen Igelstacheln vom Kopf ab. Er schnalzt mit der Zunge. »Halb so wild.«

»Soll ich mal einen Blick drauf werfen?«

»Nein«, sagt er und geht weg.

Wie unhöflich kann man sein? Ich geselle mich zu Mikki.

Sie deutet mit einem Kopfnicken in Clementes Richtung. »Was wollte er?«

»Nichts.«

Clemente füllt eine Flasche aus einem der Wasserkanister, die wir im Supermarkt gekauft haben. Ich kann nicht aufhören, ihn anzuschauen, und jedes Mal merke ich, dass auch er mich anschaut – wahrscheinlich weil ihm meine Blicke aufgefallen sind. Hör auf damit, Kenna!

Ich wende mich wieder an Mikki. »Was ist das hier für ein Ort? Wer sind diese Leute?«

Etwas huscht über ihre Züge.

»Was hast du?«

»Sie waren für mich da, als du es nicht warst.«

»Bist du böse auf mich?«

Sie atmet zitternd ein. »Weißt du, wie es dir ging, als du Kasim verloren hattest? Genauso habe ich mich gefühlt, als du nach London gezogen bist. Ich weiß, es ist nicht dasselbe, aber so war es nun mal für mich. Auf einmal warst du einfach weg.«

Ich staune über diesen Gefühlsausbruch. So redet sie sonst nie. »Genau, es ist überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Du konntest mich anrufen, mit mir skypen …« Noch während ich dies sage, erinnere ich mich daran, wie ich mich von der Welt abgekapselt und ihre Anrufe ignoriert habe. »Es tut mir leid.«

In ihren Augen schimmern Tränen. Ihre Schultern beben, daran sehe ich, wie viele Emotionen sie mühsam zurückhält.

Ich nehme sie in die Arme. »Es tut mir so leid. Scheiße, gleich muss ich auch weinen.«

Sie erwidert meine Umarmung, dann macht sie sich, immer noch um Fassung ringend, von mir los.

»Was du durchgemacht hast, war viel, viel schlimmer, das verstehe ich. Aber es hat so wehgetan. Ich habe mir die ganze Zeit gesagt, dass du irgendwann zurückkommst, aber es schien so, als wärst du für immer nach London gezogen.«

»Ich habe dir doch angeboten, bei mir zu wohnen. Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest.«

»Ich bin Surflehrerin. Was soll ich in London? Ich fühle mich innerlich tot, wenn ich nicht am Meer bin.«

Innerlich tot. Das kann ich definitiv nachempfinden.

»Cornwall war ohne dich nicht mehr dasselbe. Ich habe mich so einsam gefühlt.«

Eine einzelne Träne rollt über Mikkis Wange. Wütend wischt sie sie weg. »Deshalb bin ich hierhergekommen. Und jetzt bin ich endlich wieder glücklich – sogar noch glücklicher als in Cornwall –, und du redest ständig davon, dass ich nach Hause kommen soll. Das kannst du vergessen.«

Ich versuche es mit einem anderen Ansatz. »Ich habe dich vorhin gesehen, wie du in fünf Zentimeter tiefem Wasser gesurft bist.« Ich rechne damit, dass sie ein bisschen schuldbewusst aussieht – oder wenigstens die Gefährlichkeit ihres Tuns anerkennt.

»Na und?«

Ich komme mir vor wie eine Mutter, die sich ungebeten in die Angelegenheiten ihrer Tochter einmischt. »Hast du eine Ahnung, wie riskant das war? Wir sind hier mitten im Nirgendwo. Wenn dir was passiert …«

»Dein Ernst?«, sagt Mikki. »Ausgerechnet du machst mir deswegen Vorhaltungen?«