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KENNA

Einer nach dem anderen gehen sie den Pfad hinunter zum Strand, bis ich wieder einmal allein auf der Lichtung stehe. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr, aber es ist bloß wieder dieser verdammte Neoprenanzug. Vor und zurück schwingt er wie ein Gehängter am Galgen. Meine Entdeckung in Bezug auf Ryan hat mich sehr aufgewühlt. Ausländer brauchen ein Visum, um Australien zu besuchen. Vermutlich ist er im Urlaub hergekommen, und es hat ihm so gut gefallen, dass er nicht mehr wegwollte, also ist er nach Ablauf seines Visums illegal hiergeblieben. Wenn er erwischt wird, muss er mit Ausweisung rechnen, und wahrscheinlich dürfte er danach nie wieder einreisen. Aber das ist verständlich und nun wirklich alles andere als schlimm.

Trotzdem, das Plakat, das ich im Internet gesehen habe, beweist, dass er zu Hause vermisst wird. Was für ein Mensch würde einfach verschwinden, ohne seinen Verwandten oder Freunden ein Sterbenswort zu sagen?

Und was ist mit den anderen vermissten Touristen? Ich schlinge mir die Arme um den Leib, als ich an Mikkis Reaktion auf die Plakate an der Tankstelle denke. War das wegen Ryan?

Die menschenleere Lichtung ist mir unheimlich, also laufe ich den anderen nach. In einer Hand trage ich meine Wasserflasche, mit der anderen verscheuche ich die Mücken. Das Licht scheint mit jedem Schritt schwächer zu werden. Als ich den Strand erreiche, glitzert das Meer dunkelblau, und die Umrisse der schwarzbraunen Klippen sind kaum noch erkennbar. Sky irrt sich, wenn sie sagt, dass man beim Klettern nichts sehen muss. Erfolgreiches Felsenklettern besteht zur Hälfte darin, mögliche Griffe für Hände und Füße zu lokalisieren und auf ihre Tauglichkeit abzuschätzen, bevor man klettert.

Die anderen richten den Blick nach oben. Die Klippen müssen bestimmt vierzig oder fünfzig Meter hoch sein. Etwa auf halber Höhe befinden sich an der Felswand zwei Markierungen, eine rote und eine blaue. Aus meiner Zeit in Cornwall kenne ich die Gefahren von Seeklippen nur zu gut. Aufgrund des Einflusses von Wind und Wasser ist die Beschaffenheit des Gesteins unterschiedlich, und es gibt poröse Stellen, die abbrechen können, wenn man sich daran festhält. Wahrscheinlich ist der Fels stellenweise sogar ölig. Ich betrachte die Gruppe. Kein Seil, kein Magnesia. Ist das wirklich ihr Ernst? An dieser Stelle und bei dem schlechten Licht frei zu klettern, grenzt an Selbstmord.

Und sie wollen doch bestimmt nicht alle auf einmal loslegen?

»Mikki«, sage ich leise. »Das ist Wahnsinn.«

Sie sieht mich mit gequälter Miene an. »Ich versuche, mich zu konzentrieren.«

Ich zermartere mir das Hirn, was ich sagen könnte, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.

»Die Verlierer müssen eine Woche lang Abendessen machen!«, sagt Sky.

Victor verzieht das Gesicht und fasst Jack an der Schulter. »Dann hoffe ich sehr, dass du nicht verlierst, Bruder.«

»O Mann«, sagt Ryan. »Schon wieder Känguru-Bolognese.«

Jack grinst. »Gute australische Hausmannskost, Alter.«

»Die Teams sind wie folgt«, verkündet Sky. »Team Rot besteht aus mir, Mikki und Jack. Team Blau sind Clemente, Victor und Ryan.«

»Mädchen gegen Jungs.« Victor boxt Jack scherzhaft gegen die Schulter.

Wieder frage ich mich, welche Stellung Sky innerhalb der Sippe innehat. Würde ich sie aus der Ferne beobachten, würde meine innere Feministin jubeln. Sehr gut, Sky! All die großen Jungs tanzen nach deiner Pfeife. Doch in Wahrheit bin ich ihr gegenüber misstrauisch und wundere mich über den Einfluss, den sie auf die anderen hat.

Die Teams besprechen sich, wer als Erster antritt. Anscheinend handelt es sich um eine Art Staffel, bei der jeweils immer ein Teammitglied klettert.

»Der Letzte muss praktisch blind da hoch«, sagt Jack.

»Super«, entgegnet Sky. »Jack hat sich gerade freiwillig gemeldet, als Letzter zur klettern.«

Der harte Blick in ihren Augen ist eine Herausforderung zum Widerspruch. Abermals versetzt Victor ihm einen Boxhieb, und ich ahne, dass Sky jemand ist, mit dem ich es mir besser nicht verderben sollte.

Sie reckt die Faust in die Luft. »Angst ist Treibstoff!«

»Panik ist der Tod!«, erwidern die anderen.

Sky und Ryan nehmen ihre Positionen am Fuß der Klippe ein. Ich beobachte Ryan, der über die Schulter nach hinten schaut, um Victors Signal abzuwarten. Wissen die anderen, dass er vermisst wird?

Wieder einmal wandern Clementes Blicke zu mir.

»Was ist?«, frage ich.

Er zuckt zusammen. »Sorry. Du erinnerst mich bloß an jemanden.«

»An wen denn?«

Doch er schüttelt den Kopf und wendet den Blick ab.

Wir werden unterbrochen, als Victor das Startzeichen gibt. »LOS !«, brüllt er.

Mit einem Satz hängen Ryan und Sky an der Felswand. Ich erkenne sofort, dass beide geübte Kletterer sind – vor allem Ryan. Da ist keine Spur mehr von der fahrigen Nervosität, die mir zuvor an ihm auffiel. Er klettert scheinbar mühelos mit geschmeidigen, routinierten Bewegungen. Victor reckt den Arm in die Höhe. »Los, los, los!«

Mein Blick wandert die Klippe hinauf und sucht nach Griffmöglichkeiten, als würde ich selber klettern. Ein Teil von mir, von dem ich glaubte, ihn für immer hinter mir gelassen zu haben, erwacht wieder zum Leben.

Ryan und Sky sind bereits so weit oben, dass sie sich bei einem Sturz ernsthaft verletzen würden. Ryan stützt den Fuß seitlich an den Fels und wendet sich nach rechts. Über ihm entdecke ich einen Spalt. Er hat seine Route gut geplant. Er ist schon fast bei seiner Markierung angekommen. Sei vorsichtig , ermahnt ihn eine Stimme in meinem Kopf. Und eine andere, leisere Stimme fügt hinzu: Ich will auch.

Clemente schaut mit verschränkten Armen zu. Kein Anzeichen von Angst, dabei muss er sich doch Sorgen machen. Ich mache mir Sorgen. Wie will er mit seinen drei bandagierten Fingern da raufkommen? Während Sky und Ryan die ideale Statur fürs Klettern haben – schlank, aber muskulös mit langen, sehnigen Unterarmen –, ist Clemente stämmiger und massiger.

Sky hat kurz nach Ryan ihre Markierung erreicht. Dann wenden sich beide nach links, dorthin, wo das Meer an den Fuß der Felsen spült. Sky späht zwischen ihren Beinen hindurch nach unten. Jetzt hat sie das Wasser unter sich. Im Dunkeln ist es unmöglich zu sagen, wie tief es ist. Sie hängt in knapp sieben Metern Höhe an der Felswand, deshalb rechne ich damit, dass sie noch ein Stück tiefer klettern wird, ehe sie sich fallen lässt, doch sie stößt sich ab und springt, wobei sie sich mitten im Flug herumdreht, sodass sie in Richtung offenes Meer blickt.

Platsch!

Sofort klettert Mikki los. Victor hüpft ungeduldig von einem Bein auf das andere, bereit, loszulegen, sobald auch Ryan im Wasser landet. Er scheint Energie für drei zu haben. Vielleicht hängt das mit seinem speziellen Tee zusammen. Gegen meinen Jetlag hat er jedenfalls geholfen.

Ryan landet mit einem lauten Aufklatschen im Meer, und Victor springt an die Felswand. Mikki ist schon halb oben. Ich bin stolz auf sie. Sie muss geübt haben, denn sie ist deutlich besser als früher. Allerdings geht ihr bereits die Luft aus, und ihre Zehen tasten blindlings am Stein. Auch Victor hat so seine Schwierigkeiten.

Mikki übersieht einen günstiger gelegenen und sichereren Halt, hebt ihren Fuß bis auf Hüfthöhe und zieht sich mit aller Kraft nach oben. Als sie ihre Markierung erreicht, zittern ihre Arme sichtlich. Sky stößt einen kleinen Jubelschrei aus, aber Mikki hat noch ein ganzes Stück zu klettern, ehe sie wieder wohlbehalten neben mir steht.

Ich werfe einen Blick auf die Felsen unter ihr. Wie würde es sich anhören, wenn sie fiele?

Ich spüre einen Stich am Fußknöchel und verscheuche den Moskito, ohne den Blick von Mikki loszureißen. Jetzt klettert sie nach links. Unter ihr spülen die Wellen an den Fuß der Klippen, aber sie ist noch nicht weit genug gekommen. Das Wasser ist zu flach.

Sie klettert weiter. Victor ist ihr dicht auf den Fersen, und sie schaut sich immer wieder nach ihm um. Schau nach vorn, Mikki!

Sie streckt den Arm zur Seite aus, und in dem Moment rutscht ihr Fuß ab. Einen schrecklichen Augenblick lang hängt sie mit einer Hand am Felsen, während ihre Zehen verzweifelt nach Halt suchen. Dann lässt sie los. Sie stürzt in die Tiefe und landet mit wild rudernden Armen und Beinen im Wasser.

Es erinnert mich auf grauenhafte Weise an ein Ereignis von vor über zehn Jahren.