15

KENNA

Wir springen über die Felsen, um zu Mikki zu gelangen. Ich habe keine Ahnung, ob das Wasser tief genug ist, und die anderen wissen es offenbar auch nicht. Meine Atmung geht viel zu schnell.

Als Kasim starb, zerbrach mein Leben in tausend Stücke. Es dauerte Monate, sie einzusammeln und überhaupt nur den Versuch zu unternehmen, sie wieder zusammenzusetzen. Mikki war eins dieser Stücke – das größte noch intakte. Ich habe sie gerade erst wiederbekommen. Ich darf sie jetzt nicht verlieren. Der Gedanke ist absolut unerträglich.

Mikkis Kopf taucht an der Oberfläche auf.

»Geht es dir gut?«, stoße ich atemlos hervor.

»Juhuu, das war so cool!« Mikkis Stimme klingt zittrig – wie es wohl zu erwarten ist, nachdem man sich um ein Haar an einem Felsen den Schädel zerschmettert hätte. »Los, Jack!«

Ich bin zu erleichtert, um wütend zu sein. Victor landet neben ihr im Wasser, und Clemente und Jack fangen an zu klettern. Mein Herz hämmert immer noch wie rasend. Erst als Mikki aus dem Wasser steigt und sich unverletzt und mit vor Aufregung geröteten Wangen zu mir gesellt, kann ich wieder normal atmen.

Der Himmel ist inzwischen königsblau, der Ozean schimmert schwarz im Licht des Halbmonds. Ich kann die Moskitos nicht mehr sehen, aber ich spüre, wie sie mich umkreisen.

Ryan steht neben mir und wringt sein T-Shirt aus. Meine Gedanken kehren zu den verschwundenen Rucksacktouristen zurück.

»Ich habe online ein Foto von dir gesehen«, sage ich leise. »Da stand, du wirst vermisst.«

Ryans Kopf schnellt herum. »Ach ja?«

Ich möchte ihn fragen, wer nach ihm sucht, und ob er irgendjemandem gesagt hat, dass er wohlauf ist, doch etwas an seinem Tonfall hält mich zurück. Also frage ich stattdessen: »Seit wann bist du schon in Australien?«

Im ersten Moment fürchte ich, dass er nicht antworten wird. »Seit zwei Jahren.«

Also ist er mit einem abgelaufenen Visum hier, so wie ich es vermutet habe. Ich will mehr herausfinden, aber ich kann den Blick nicht von der Klippe abwenden. Clemente und Jack sind gute Kletterer, allerdings fehlt ihnen die Grazie von Ryan oder Sky.

Es passiert, als Jack bereits ein paar Meter geklettert ist. Als er sich streckt, um eine Griffmöglichkeit zu erreichen, bröckelt ein Stück Fels unter seiner anderen Hand ab, und er stürzt rückwärts in die Tiefe. Mir steht vor Schreck der Mund offen. Das dumpfe Geräusch, als er mit dem Rücken im Sand landet, hallt in meinem ganzen Körper wider.

Wir rennen zu ihm.

Jack hebt die Hand. »Alles okay.«

Clemente kommt zurück nach unten geklettert. Mit verzerrtem Gesicht rappelt Jack sich auf. An seinen steifen Bewegungen erkenne ich, dass er starke Schmerzen hat. Clemente redet leise auf ihn ein.

Jack reibt sich den Rücken und nickt.

»Was jetzt?«, fragt Victor.

»Er versucht’s noch mal«, bestimmt Sky.

Clemente dreht sich zu ihr um. »Das ist keine gute Idee. Falls er noch mal stürzt …«

Ich bemerke, wie er sich schützend zwischen Jack und Sky gestellt hat.

»Wir sind keine Feiglinge«, faucht Sky.

»Aber auch keine Idioten«, gibt Clemente zurück.

Er hat recht. Dem Anschein nach hat Jack sich mindestens den Rücken geprellt. Vielleicht hat er sich sogar ein paar Rippen angeknackst. Bei einem weiteren Sturz könnte es übel für ihn ausgehen. Ich warte ab, in der Hoffnung, dass einer der anderen sich für ihn einsetzt. Clemente schaut erst Ryan an, dann Victor, doch beide weichen seinen Blicken aus.

Ihre Interaktion erinnert mich an die von Wölfen. Sky ist das Alphatier, aber die Betas sind jederzeit bereit zum Angriff, sollte sie auch nur einen Augenblick lang Schwäche zeigen. Anders als bei Wölfen jedoch geht es hier nicht allein um Körperkraft, sonst wäre Victor oder Clemente der Anführer. Aber worum geht es dann? Ist es Skys mentale Stärke, die ihr die Rolle als Anführerin sichert – oder noch etwas anderes?

Jacks attraktives Gesicht ist angespannt. Eine verrückte Idee formt sich in meinem Kopf. Ich habe damit aufgehört. Aber vielleicht nur dieses eine Mal …

»Ich klettere für ihn«, sage ich.

Im daraufhin eintretenden Schweigen sucht Mikki meinen Blick. Zufrieden mit dem, was sie sieht, wendet sie sich an Sky.

»Nehmt eure Positionen ein.« Sky klingt gelangweilt, aber ich habe den Eindruck, dass sie nicht so schnell vergessen wird, dass ich mich gegen sie gestellt habe.

Victor jubelt. »Wir haben einen Gegner!«

Clemente zieht die Brauen zusammen, sagt jedoch nichts.

Ich schaue an den Klippen empor, froh, dass ich mir für die Autofahrt dehnbare Gymnastikshorts statt Jeans angezogen habe. Meine Handflächen sind schweißfeucht. Ich wische sie an meinem T-Shirt ab.

Bisher empfinde ich nichts als eine Mischung aus nervöser Aufregung und Schuldgefühlen. Ich kann mir einreden, dass ich es Jack zuliebe tue, aber in Wahrheit brauchte ich bloß eine Ausrede, um endlich wieder selbst zu klettern.

Du kennst keine Furcht , sagte Mum zu mir, nachdem sie mich zum ersten Mal an die Kletterwand mitgenommen hatte.

Ich muss ungefähr sieben gewesen sein, und damals war mir noch nicht klar, was sie meinte. Ich war ja gesichert, falls ich fiel, würde das Seil mich halten. Außerdem kletterte ich schon, solange ich denken konnte – auf Bäume, auf das Klettergerüst in unserem Garten oder aufs Bücherregal, wenn ich an ein Spielzeug gelangen wollte, das mein Bruder dorthin geworfen hatte. Erst ein paar Jahre später erfuhr ich, dass manche Menschen tatsächlich Höhenangst haben. Meine Familie ging ab und zu zum Bouldern, dann kletterten wir in Absprunghöhe an großen Felsen mit einer dicken Matte auf der Erde. Aber das war keine große Sache. Wenn ich abrutschte, war das zwar peinlich und ärgerlich, aber nicht gefährlich. Ich stand wieder auf und versuchte es von Neuem, fest entschlossen, denselben Fehler kein zweites Mal zu machen.

Das Klettern liegt ihr im Blut , hat Mum früher immer zu ihren Freundinnen gesagt. Sie war am Boden zerstört, als ich es für das Surfen aufgab.

Ich strecke die Finger. Sie sind stark, weil sie im Rahmen meiner Arbeit jeden Tag stundenlang gefordert werden, und von meinen Kraftübungen, aber ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr richtig geklettert, und meine anderen Muskelgruppen sind völlig aus der Übung.

»Los!«, ruft Victor.

Ich kralle die Finger in den Fels. Im trüben Licht kann ich gerade noch genug erkennen. Meine Laufschuhe haben nicht die Geschmeidigkeit und den Grip von Kletterschuhen, deshalb muss ich meine Zehen besonders fest gegen den Fels stemmen, doch schon bald arbeiten meine Gliedmaßen von ganz alleine. Das muskuläre Gedächtnis ist etwas Großartiges. Ich hatte schon Patienten, die mich nach einer Verletzung unter Tränen anriefen – nicht wegen der Schmerzen, sondern aus Frust, weil sie glaubten, all ihr mühseliges Training sei umsonst gewesen. Es war nicht umsonst , sage ich ihnen. Ihr Körper wird sich erinnern.

Ich schaue nicht nach unten und denke auch nicht daran, wie viele Meter mich vom Boden trennen, sondern konzentriere mich ganz auf mein Ziel. Nur noch ein kleines Stück, dann seitlich bis zur Markierung. Clemente befindet sich auf gleicher Höhe wie ich. Seine Markierung ist tiefer, aber weiter rechts als meine. Ich verziehe das Gesicht, als er nach oben greift und sich mit aller Kraft hochzieht. Das muss wehgetan haben. Sein Bizeps spannt sich an, doch sein Gesicht verrät nichts. Er blendet die Schmerzen einfach aus.

Und ich muss ihn ausblenden. Ich strecke mich, so weit ich kann, und berühre meine Markierung. Gedämpfte Jubelschreie von Mikki und Sky dringen zu mir.

Mein Körper läuft auf Autopilot, als ich seitwärts klettere. Ein Sieg sollte mir nichts bedeuten. Es macht mir nichts aus, das Abendessen zu kochen, ich würde es auch so tun, wenn man mich fragt. Aber ich spüre die Blicke der anderen auf mir. Ich hasse mich dafür, aber ich will sie unbedingt beeindrucken.

Die anderen sind aus dieser Höhe ins Wasser gesprungen, aber ich habe nach wie vor keine Ahnung, wie tief es an dieser Stelle ist, deshalb klettere ich rasch weiter nach unten. Ein Anfeuerungsruf von Victor: Clemente muss seine Markierung erreicht haben. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass er nicht alle Finger benutzen kann. Jeden Moment wird er springen, also drehe ich mich herum, stoße mich ab und mache mich auf den Aufprall gefasst. Das Wasser schlägt wie eine kühle Decke über mir zusammen. Als ich auftauche, höre ich Mikki und Jack johlen. Sky nickt, als ich über die Steine zu ihnen klettere, und ich spüre, dass sie mich jetzt mit anderen Augen betrachtet.

Sie kommt zu mir geschlendert. »Na, was hältst du von unserer Trainingseinheit?«

»Das war unfassbar gefährlich«, sage ich.

Sie lächelt. »Für mich sah es so aus, als hättest du Spaß gehabt. Wie lange willst du in Australien bleiben, sagst du?«

Ich zögere. »Ich arbeite selbstständig, insofern bin ich flexibel.«

Schwarz und glänzend spült das Wasser über unsere Zehen.

»Vielleicht solltest du darüber nachdenken, länger zu bleiben.«

»Wieso?«

»Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt, Kenna. Wenn man sie oben auf eine Klippe stellt, sieht man den Unterschied. Die meisten weichen vor dem Rand zurück. Einige wenige treten darauf zu.«

»Lass mich raten«, sage ich. »Du würdest zum Rand treten.«

Sky deutet zu den anderen, die am Fuß der Klippen stehen und die Klettertour Revue passieren lassen. »Wir alle. Ich sage nicht, dass das der bessere Weg ist oder dass wir besonders mutig sind. Man könnte auch sagen, wir sind besonders dumm. Wir verletzen uns häufiger, und unser Leben ist kürzer. Wir leben wild und gefährlich. Wenn wir fallen und sterben, dann ist das eben so. Wir haben uns nicht ausgesucht, so zu sein, genauso wenig, wie sich die Menschen in der anderen Gruppe ausgesucht haben, vorsichtig zu sein. Wir sind so geboren worden.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Weil ich glaube, dass du eine von uns bist, Kenna.«