18

KENNA

Der Duft von Speck weckt mich. Meine Glieder sind schwerfällig, meine Augen wollen sich nicht öffnen, aber weil ich die anderen beim Frühstück höre, krieche ich widerstrebend aus dem Zelt. Manchmal gibt es Tage, an denen ich kaum die Motivation aufbringe, mich zu bewegen. Dann würde ich mich am liebsten in Luft auflösen und aufhören zu existieren.

Die anderen sitzen um die Feuerstelle herum. Ich schiebe meine Füße in meine Flipflops, und etwas streift mich im Gesicht, weich und schwarz wie die Flügel einer riesigen Fledermaus. Schon wieder dieser verfluchte Neoprenanzug.

Ich befreie mich davon. »Wem gehört das Teil eigentlich?«

»Clemente«, sagt Jack.

Ich nehme den Anzug vom Ast. »Ich hänge ihn woandershin. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, denke ich, da hängt ein Mensch.« Ich platziere ihn an einem Ast neben Clementes Zelt.

Die anderen sind merkwürdig still geworden.

»Was ist?«, frage ich.

Clemente trägt den Rest seines Frühstücks zur Mülltonne, wirft ihn hinein und verschwindet auf der Toilette.

Alle Blicke ruhen auf mir, als ich mich setze.

»Du konntest es nicht wissen«, sagt Jack leise. »Aber seine Frau hat sich aufgehängt. Genau an dem Baum da.«

Wie gelähmt vor Entsetzen sitze ich da und versuche, diese Information zu verdauen. In meinem Kopf verwandelt sich der Neoprenanzug in eine Frau, die an einem Strick hin und her schwingt. Jetzt verstehe ich die Dunkelheit in Clementes Augen und den Grund, weshalb er nicht will, dass ich ihm zu nahe komme. Mehr noch, ich fühle mich schrecklich, weil ich ihn deswegen zur Rede gestellt habe. Über so etwas kommt man bestimmt nie hinweg. Wie kann er es überhaupt ertragen, hier zu sein? Ich bin nie mehr an dem Strand gesurft, an dem Kasim ums Leben gekommen ist. Ich konnte einfach nicht. Ich bin überhaupt nie wieder gesurft.

»In der Pfanne sind Speck und Eier«, sagt Mikki. »Bedien dich.«

Heilfroh, der Situation entkommen zu können, stehe ich auf.

»Wir gehen dann surfen«, ruft Mikki. »Willst du mit?«

»Nein danke«, sage ich, obwohl ich es sehr wohl will.

Die anderen machen sich auf den Weg. Bald ist die Lichtung leer bis auf Jack, der auf einem Baumstumpf sitzt und eine Kerbe in seinem Surfbrett ausbessert.

»Wie geht’s deinem Rücken?«, frage ich.

Er lächelt. »Super.«

»Wirklich?« Es liegen genug Bretter herum. Wenn sein Rücken nicht wehtun würde, hätte er bestimmt ein anderes ausgesucht und wäre mit den anderen mitgegangen.

»Ich habe eine Schmerztablette genommen«, gesteht er. »Ich warte nur darauf, dass sie wirkt.«

Die Lebensmittel sind in Beutel und Dosen verpackt, um die Tiere fernzuhalten. Ich schütte Müsli in eine Schüssel und schließe den Beutel danach wieder sorgfältig. Mir ist nicht ganz wohl dabei, mich einfach zu bedienen. Ich muss ihnen wenigstens ein bisschen Geld für das Essen geben. Wenn Mikki es nicht annehmen will, dann vielleicht Sky. Die Milch ist im Kühlschrank – dem »Esky«, wie sie es hier nennen – und schwimmt in einem Meer aus geschmolzenem Eis. Ich schnipple mir eine Banane ins Müsli und betrachte Jack, während ich esse. Er hat sein Brett auf dem Schoß, drückt Harz aus einer kleinen Tube auf den Riss und verstreicht es mit einem Stock auf dem Fiberglas. Wie immer trägt er nur seine Boardshorts. Seine Oberarmmuskeln bewegen sich, während er das Harz aufträgt. Er prüft die Reparatur mit der Fingerspitze, dann holt er Sandpapier hervor und schleift die Stelle vorsichtig glatt. Als er fertig ist, öffnet er eine frische Dose Wachs. Belustigt sehe ich zu, wie er sie an die Nase hebt und tief einatmet.

Er bemerkt, dass ich ihn beobachte, und grinst. »Der beste Geruch der Welt.«

»Was machst du eigentlich beruflich?« Ich komme mir neugierig vor, aber ich habe Mikkis Interessen im Auge.

»Ein Kumpel von mir hat eine Firma, die Solaranlagen installiert. Clemente und ich rufen ihn an, wenn wir einen Job brauchen.«

»Ich hoffe, du musst dabei nichts Schweres heben.« Mikki hat erwähnt, dass er über gewisse Zeiträume nicht arbeiten konnte. Bei seinen Verletzungen muss ihm körperliche Arbeit schwerfallen.

»Ich versuche, es zu vermeiden.«

Er schenkt mir ein Lächeln voller blendend weißer perfekter Zähne, doch der Ausdruck in seinen Augen passt nie so wirklich dazu, und ich spüre, dass bei dem Unfall nicht nur sein Rücken in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er war ein professioneller Surfer, aber was ist er jetzt? Das hat er immer noch nicht herausgefunden. Die letzten paar Jahre können für ihn nicht leicht gewesen sein. Ich spüre die Traurigkeit in seinem Innern und würde ihm zu gerne helfen.

Er richtet sich auf und reibt sich den Rücken. Er wirkt ein bisschen weggetreten, und ich frage mich, was für Medikamente er nimmt. In jedem Fall müssen sie stark sein. »Soll ich mir deinen Rücken noch mal ansehen?«

»Ja, wärst du so gut?«

Seine Augen sind heute Morgen besonders blau. Ich bitte ihn, sich auf eine Matte zu legen. Sonnenlicht fällt durch die Blätter der Bäume und wirft fleckige Schatten auf seine Haut. Im Tageslicht kann ich eine lange senkrechte Narbe an seinem unteren Rücken sehen, zusammen mit blauen Flecken und einer kleinen Schürfwunde. Seit gestern hat sich seine Muskulatur verhärtet.

»Hast du Öl da?«, frage ich.

Er zögert. »Ich habe Deep Heat in meinem Zelt.«

»Kann ich es holen?«

Wieder vergeht ein Moment, als gäbe es etwas in seinem Zelt, von dem er nicht will, dass ich es sehe. »Klar. Links in der Seitentasche.«

Das Zelt riecht nach Männerdeo. Ich sehe mich um und finde das Öl. Mikkis Sachen sind ordentlich gefaltet, Jacks liegen überall verstreut.

Papageien kreischen und flattern in den Bäumen über uns, als ich das Öl zu beiden Seiten von Jacks Wirbelsäule verteile. »Mikki sagte, du bist in der World Qualifying Series angetreten. Wie alt warst du, als du deinen Unfall hattest?«

»Sechsundzwanzig.«

»Atme in die Stelle, auf die ich Druck ausübe. Und wie alt bist du jetzt?«

»Neunundzwanzig.«

Surfer sind durchschnittlich mit Ende zwanzig am Gipfel ihres Leistungsniveaus angekommen. Surfen ist ein schwieriger Sport, und offenbar dauert es so lange, bis man Erfolg hat. Jack muss schon als Teenager Wettkämpfe bestritten und sich langsam in der Rangliste nach oben gearbeitet haben. Sein Unfall hat ihn zurückgeworfen, ehe er den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hatte.

Bei Sportarten wie Surfen weiß man nie, wer es schaffen wird. Man braucht Talent, Gelegenheit und die richtige Mentalität, aber auch Glück spielt eine Rolle. Das gilt wohl für jeden Sport, aber gerade beim Surfen gibt es so vieles, was man nicht in der Hand hat. Jeder Strand ist anders. Jede einzelne Welle ist anders. Wir paddeln hinaus ins Unbekannte, in ein Reich, in dem die Natur regiert.

Mikki hatte das Pech, nie die erforderlichen Punktzahlen zu erreichen – vielleicht konnte sie auch nicht mit dem Wettkampfdruck umgehen. Jack hatte eine andere Art von Pech. Noch etwas, was die beiden vereint.

Ich richte mich auf und klopfe mir den Staub von den Knien. »So. Mehr kann ich nicht tun.«

»Danke«. Vorsichtig richtet Jack sich auf. Wenn man den Großteil des Arbeitstages in der Nähe halb nackter Körper verbringt, sieht man alle Narben, Speckröllchen und andere Stellen, die normalerweise unter der Kleidung verborgen bleiben. Jacks Körper ist ein Meter fünfundachtzig schlanke, muskulöse Perfektion.

Als ich mich zwinge, statt seiner Brust wieder sein Gesicht anzuschauen, wird mir bewusst, dass er mich mit unverhohlener Belustigung betrachtet.

Ich wende mich ab. »Tut mir leid.«

»Hey, schau, so viel du willst.«

Mein Atem geht schnell und flach, als er mir in die Augen sieht. Was machst du da, Kenna? Ein Lori-Pärchen fliegt in Kampfformation über uns hinweg, und ich weiche einen Schritt zurück.

Jack nimmt sein Brett. »Du kommst nicht mit?«

»Nein.«

»Dann bis später.« Im Laufschritt eilt er über den Pfad davon.

Ich sehe zu, wie er verschwindet. Hinter mir knackt ein Zweig, und ich fahre herum. Es ist Ryan.

Hat er das zwischen mir und Jack mitbekommen? Seine Miene gibt keinen Aufschluss darüber.

»Ich dachte, du bist mit den anderen surfen«, sage ich.

»Ich war vorhin schon.« Er sagt nicht, wo er gewesen ist, aber definitiv nicht am Strand. Dazu kommt er aus der falschen Richtung. Er fährt sich mit den Fingern durch sein sandblondes Haar. Darin hängt etwas – ein vertrocknetes Blatt.

»Ich will oben auf die Klippen«, sage ich. »Gibt es einen Weg dorthin?«

»Ja. Ich zeige ihn dir.«

»Oh. Okay.« Damit habe ich nicht gerechnet, aber mir fällt kein guter Grund ein, das Angebot auszuschlagen, also stecke ich das Handy und meine Wasserflasche in meinen kleinen Rucksack und schnappe mir Mütze und Sonnenbrille.

Ryan führt mich auf einen Pfad, den ich bisher noch nicht kannte. Rosa und graue Papageien watscheln auf ulkigen kurzen Beinchen vor uns her. Wir sind schneller als sie, und als wir ihnen zu nahe kommen, fliegen sie zeternd auf.

Ich will unbedingt mehr über Ryans Situation herausfinden. »Weiß deine Familie, dass du hier bist?«

Ryans Kopf schnellt zu mir herum. »Nein.«

Seine Eltern müssen außer sich sein vor Sorge. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum er ihnen so etwas antut. Aber es ist klar, dass er nicht darüber reden will.

Inzwischen führt der Weg bergauf. Ich bin außer Atem. Ryan bleibt ein Stück voraus stehen und pflückt etwas von einem Baum – etwa ein halbes Dutzend kleiner ovaler lilafarbener Früchte, die er sich in die Taschen steckt. »Passionsfrucht«, sagt er, als er sieht, wie ich ihn neugierig beobachte.

Weiter vorne wird der Wald lichter, und das Meer erstreckt sich unter uns wie ein Stück blauer Cord. Die anderen sitzen in der Nähe der Felszunge auf ihren Brettern.

»Wow!«, hauche ich.

Ein seltenes Lächeln von Ryan. »Ja, oder?«

Ein wackliges hölzernes Geländer sichert den Rand der Klippen.

Gefahr! Erosion! Zaun nicht übertreten. $ 1000 Bußgeld . Das windschiefe Schild sieht so aus, als würde es selbst jeden Moment abstürzen.

Ich halte den Atem an, als Ryan aufs Geländer klettert und sich darauf niederlässt. Seine Beine baumeln über dem Abgrund. Seine nackten Füße sind tief gebräunt, die Zehnägel zu lang. Eine Brise zaust mir die Haare und weht sie nach vorn. Mein T-Shirt flattert. Vorsichtig spähe ich über das Geländer. Wir befinden uns ungefähr über der Stelle, wo wir gestern geklettert sind.

Surfer sehen das Meer mit anderen Augen als normale Menschen. Ehe ich anfing zu surfen, habe ich nie viel über Wellen nachgedacht. Wenn sie mir überhaupt auffielen, hatte ich den Eindruck, dass sie sich vollkommen willkürlich verhielten. Ich erkannte nie irgendwelche Muster. Ich weiß noch, wie ich nach einem meiner frühen, ziemlich beschämenden Versuche auf dem Brett am Strand saß, mir das Wasser aus der Nase lief und ich darauf wartete, dass Mikki und ihre Mutter kamen. Ein alter Mann mit weißem Haar und wettergegerbtem Gesicht stand in der Nähe.

»Wie machen die das nur?«, fragte ich ihn, als ein Surfer nach dem anderen elegante Achten fuhr. »Ich konnte nicht mal aufstehen.«

Der alte Mann lächelte. »Man muss die Linien lesen.«

»Wie meinen Sie das?«

Er deutete auf die dicken dunklen Streifen der größeren Wellen, die sich der Küste näherten, und erklärte mir, dass sie immer in Gruppen von zwei bis zehn Wellen kamen. Manchmal vergingen fünf Minuten zwischen zwei Gruppen, manchmal fünfundzwanzig. Er sagte auch, dass Wellen sich bei Flut langsamer brechen, was es für Anfänger wie mich leichter macht, während sie bei Ebbe schneller und hohler sind.

Es war eine völlig neue Sprache, und ich schwor mir, sie zu erlernen.

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte ich.

»Ich bin seit 1962 hier gesurft.«

»Surfen Sie immer noch?«

»Ich würde, wenn ich könnte.« Er deutete auf seinen Gehstock, den ich zuvor gar nicht bemerkt hatte. »Na los, geh wieder ins Wasser.«

Danach habe ich ihn nie wieder gesehen, aber mehrere Monate später lächelte mir sein Gesicht von der Rückseite von Dads Zeitung entgegen. Michael Cooper, Surfmeister von 1965 , erliegt im Alter von 72 seiner Parkinson-Erkrankung. Ich stand auf, um ganz dringend etwas im Schrank zu suchen, damit ich nicht erklären musste, weshalb ich um einen Mann weinte, den ich kaum gekannt hatte.

Seine Worte ließen mich nicht mehr los. Sie waren wie ein Vermächtnis. Die Linien lesen …

Ryan deutet aufs Meer. »Siehst du, da kommen sie.«

Unter uns kommen größere Wellen. Es tut weh, zuzusehen, wie sie sich brechen. Ich sehne mich so sehr danach, wieder im Wasser zu sein. Mikki paddelt an, aber Jack schneidet ihr den Weg ab. Was für ein Idiot! Ich kann nicht glauben, dass er sich so verhält.

Mikki erwischt die nächste Welle. Scheiße, sie ist verdammt groß. Mikki surft, als würde sie seit Monaten nichts anderes tun, trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie sofort einen Abgang machen wird, wenn ich auch nur eine Sekunde lang den Blick von ihr abwende. Als sie sich sauber vom Brett fallen lässt, atme ich auf. Ich erinnere mich wieder daran, weshalb ich hier bin, hole das Handy aus der Tasche und halte es in die Höhe. Verdammt. Auch hier kein Netz. Ryan sieht mir zu, gibt jedoch keinen Kommentar ab. Ich stecke es zurück in den Rucksack.

Die verkrüppelten Bäume, die die Klippen säumen, krümmen sich in alle möglichen Richtungen, als befänden sie sich auf einer ewigen Suche nach Schutz vor dem Wind.

»Was stand da über mich?«, fragt Ryan unvermittelt.

Ich erschrecke ein wenig. »Wie bitte?«

»Das Plakat, auf dem stand, dass ich vermisst werde.« Jetzt ist er wieder ganz angespannt.

»Oh.« Ich denke nach. »Ich habe es nur ganz kurz gesehen. Alles, woran ich mich noch erinnere, ist dein Foto.«

»Aha.«

Ich weiß nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht ist. »Was denkst du denn, wie lange du noch in Australien bleiben willst?«

Ryan sieht mich flüchtig an. An einigen Stellen sind seine Brauen fast weiß gebleicht, und sein Gesicht ist voller Sommersprossen. Die australische Sonne war nicht gnädig zu ihm – aber wer weiß, vielleicht war es auch die Sonne von Kalifornien. »Wer sagt, dass ich überhaupt hier wegwill?«

Seine Schultern sind verkrampft, seine Hände haben sich zu Fäusten geballt. Ich sollte keine weiteren Fragen stellen, aber ich kann einfach nicht widerstehen. »Willst du nicht zurück?«

»Ich kann nicht.« Er klingt traurig, aber entschlossen.

Alle möglichen und unmöglichen Gedanken kommen mir in den Kopf, als ich mich frage, was einen Menschen dazu veranlassen könnte, ans andere Ende der Welt zu fliehen.