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KENNA

Beim Essen betrachte ich die glücklichen Gesichter der anderen in ihren zerrissenen, abgetragenen Klamotten. Sie verzichten auf all die gängigen Annehmlichkeiten: ein weiches Bett zum Schlafen, Bars, Clubs und Bildschirme. Sie brauchen das alles nicht, weil sie die Bucht haben. Diesen unglaublichen Strand, der ihnen ganz allein gehört.

Ich weiß nicht, wo Victor und Sky eben hingegangen sind, aber jetzt sitzen sie ganz dicht nebeneinander, wirken entspannt und zufrieden.

An diesem Abend sitzen wir am Feuer und reden über die hässliche Seite des Surfens: Localism.

»Ich habe gehört, in Kalifornien soll es ganz schlimm sein«, sage ich.

»Ja. An meinem Strand waren die Einheimischen ziemlich dominant«, antwortet Ryan.

»Es gibt eine Region zwischen Spanien und Frankreich, das Baskenland«, sagt Clemente.

Gott, dieser Akzent.

»Wenn ich da surfe, hassen sie mich, weil ich Spanier bin«, fährt er fort. »Und wenn ich in Frankreich surfe, hassen sie mich, weil sie denken, ich wäre Baske. Als ich das letzte Mal in Mundaka war, hat mir jemand die Autoreifen zerstochen.«

»Was für ein Scheiß«, sagt Jack.

»In Brasilien ist es genauso«, meint Victor. »Wenn du aus Rio bist und an den Stränden vor São Paolo surfst …« Er wackelt mit den Fingern.

»In Cornwall war es auch ziemlich übel«, sagt Mikki.

Ich sehe sie an und erinnere mich an den Tag, als jemand mit Sprühfarbe Japse raus auf die Felsen oberhalb unseres Strandes gesprayt hat. Wir waren damals noch Teenager, und die Parole war nicht speziell auf Mikki gemünzt, denn es gab mehrere japanische Surfer im Ort. Trotzdem muss es sie sehr verletzt haben. Die Kommune schaffte es aus unerfindlichen Gründen nicht, die Reinigung in Auftrag zu geben. Als ich es irgendwann nicht mehr aushielt, fragte ich meinen Dad, wie man am besten Sprühfarbe entfernt, und er kam mit an den Strand, um mir zu helfen. Aber wie lässt sich eine Einstellung wegschrubben?

»Für Frauen ist es anders«, sagt Victor zu Mikki. »Frauen schlagen sie wenigstens nicht.«

Sky verdreht die Augen. »Genau, stattdessen drängeln sie sich vor, behindern uns im Wasser, schüchtern uns ein und grabschen uns an.«

Victor legt den Arm um sie. »Eines Tages werde ich dich mit nach Rio nehmen.«

Sky ignoriert ihn. »Deshalb ist die Bucht hier so besonders. Hier müssen wir uns mit solchem Mist nicht rumschlagen.«

»Es sollte Surfspots nur für Frauen geben«, sage ich.

Sky und Mikki beugen sich zu mir, um mich abzuklatschen. Wir lachen über die Mienen der Männer.

»Das ist traurig«, findet Clemente. »Surfer lieben es zu reisen, andere Orte kennenzulernen und verschiedene Breaks zu surfen.«

»Das Problem ist, dass es zu viele von uns gibt und nicht genug Wellen«, meint Ryan.

Clemente zeigt auf Victor und Jack, die rechts und links neben ihm sitzen. »Aber wenn es keinen Localism gäbe, hätte ich diese beiden hier nie kennengelernt.«

»Ach ja?«, sage ich.

»Ich bin in Narrabeen gesurft«, erklärt Clemente. »Und habe gehört, wie Victor belästigt wurde – im Wesentlichen weil er ein verdammt guter Surfer ist. ›Bist wohl nicht von hier, oder?‹, hat einer von ihnen gefragt. So ein schlaksiger Australier.«

Clemente wirft Jack einen Blick zu, und erst da wird mir bewusst, dass er über ihn spricht.

»Victor hat sich dummerweise auf ein Gespräch mit ihm eingelassen«, fährt Clemente fort. »Sein Englisch war noch schlechter als meins, und das will was heißen.«

Victors dröhnendes Lachen lässt mich zusammenfahren. »Was redest du, Bruder? Mein Englisch ist viel besser als deins.«

»Er hat eine Welle erwischt, und Jack hat sich vorgedrängelt«, sagt Clemente.

»Das mache ich bei jedem«, sagt Jack.

»Das brauchst du nicht extra zu erwähnen«, brummelt Ryan.

»Victor war kurz davor, eine Prügelei anzufangen«, fährt Clemente fort. »Und ich habe mir Sorgen um Jacks Gesundheit gemacht.«

Alle lachen.

»Und? Was ist dann passiert?«, frage ich.

»Ich habe gleich gemerkt, dass Victor ein anständiger Kerl ist«, sagt Clemente. »Also habe ich ihn auf Spanisch angesprochen, damit Jack nicht versteht, was ich sage.«

»Sprichst du Spanisch?«, frage ich Victor.

»Ich kann es nicht sprechen, aber ich verstehe das meiste«, antwortet er.

»Ich habe ihm erklärt, dass Jack bei mir wohnt«, erzählt Clemente weiter. »Dann habe ich Victor zum Abendessen eingeladen. Ich habe ihm gesagt, Jack würde als Entschuldigung kochen. Ihr hättet mal Jacks Gesicht sehen sollen, als es klingelte und Victor vor der Tür stand.«

Die anderen kriegen sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Männer sind schon komisch: Sie geraten schnell in Streit, vergeben einander aber genauso schnell. Inzwischen scheinen Jack und Victor beste Freunde zu sein, deshalb fällt es mir schwer, die Geschichte von ihrem Kennenlernen zu glauben.

»Gott, ich hasse Localism«, sagt Mikki.

Wir alle stimmen ihr zu. Wobei: Ohne Localism hätte ich Kasim nicht getroffen.

Aber vielleicht wäre er dann noch am Leben.