KENNA
Vier Jahre zuvor
Mikki und ich waren übers Wochenende nach Frankreich geflogen. Am Flughafen Biarritz nahmen wir uns einen Mietwagen, und Mikki googelte nach guten Surfspots, während ich gen Norden fuhr.
»Auf Wannasurf steht, es gibt krass hohle Wellen«, las sie vor.
»Cool«, sagte ich.
»›Der Localism ist an diesem Strandabschnitt stark ausgeprägt. Versuche nach Möglichkeit, unauffällig zu bleiben.‹ Ach du Scheiße.«
»Was denn?«
»Einige der Kommentare. ›Jemand hat meinen Seitenspiegel zerschlagen, während ich im Wasser war. Wenn du einen Mietwagen hast, ist der hoffentlich gut versichert.‹ Haben wir eine Versicherung abgeschlossen?«
»Ja, aber die Selbstbeteiligung beträgt fünfhundert Euro.«
Hin und wieder konnte man zwischen den Bäumen Blicke auf den Strand erhaschen. Ich reckte den Hals, um die Wellen sehen zu können. »Halte nach einem Parkplatz Ausschau.«
Mikki packte mich am Arm. »O nein, hier ist noch einer. ›Wenn man ein deutsches Kennzeichen hat, so wie ich, brechen sogar die Bullen in deinen Wagen ein.‹ Ich glaube, wir sollten lieber nicht direkt am Strand parken. Man sieht doch sofort, dass wir einen Mietwagen haben.«
Das stimmte – an der Seite unseres Autos stand in großen Buchstaben Easy Rental .
»Sicher ist es nicht so schlimm, wie sie schreiben«, sagte ich.
»Bitte. Ich kann nicht in Ruhe surfen, wenn ich mir um das Auto Sorgen machen muss.«
Seufzend bog ich in eine Seitenstraße ab. »Jetzt zufrieden?«
Wir zogen unsere kurzen Neoprenanzüge an.
»Versuch, nicht aufzufallen«, sagte Mikki, als wir über den Asphalt liefen.
Aber das war gar nicht so leicht, wenn man pinkfarbene Haare hatte. Alle starrten uns an, als wir aufs offene Meer hinauspaddelten. Der Strand hieß La Gravière – die Kiesgrube –, weil der Sand so steinig war. Angeblich gab es hier die größten Strandbrecher der Welt, und die Menge an Surfern, die sich im Wasser tummelte, schien dies zu bestätigen.
Während wir im Lineup warteten, kam es ein Stück entfernt zu einem Tumult. Ich geriet in Panik, weil ich dachte, jemand hätte einen Hai gesichtet, aber dann wurde mir klar, dass einige Surfer einen jungen Mann mit einer Kamera anbrüllten. Sie versuchten, ihm die Kamera wegzunehmen. Eine Faust flog durch die Luft. Scheiße – jemand schlug zu.
Ich paddelte hin. Mikki und ich hatten unterschiedliche Methoden, auf Aggressionen zu reagieren: Sie zog den Kopf ein, ich machte mich groß. Umso gerührter war ich, als sie mir folgte und in meinen Protest mit einstimmte. Die Surfer zogen sich zurück, und der Typ mit der Kamera schwamm in Richtung Strand. Die Surfer warfen uns giftige Blicke zu und sorgten dafür, dass Mikki und ich für den Rest des Tages keine einzige Welle mehr abbekamen.
»Mistkerle«, brummte Mikki. »Mir reicht’s.«
»Mir auch.«
Wir paddelten zurück.
Der Typ mit der Kamera lehnte an seinem Auto. Als wir uns ihm näherten, lächelte er. »Danke.« Er deutete auf seine Kamera. »Die wollte ich mir nicht abnehmen lassen. Zweitausend Euro allein für das Gehäuse.« Er hatte lockiges schwarzes Haar und einen starken französischen Akzent.
»Warum haben sie dich angeschrien?«, fragte ich.
»Weil ich nicht von hier bin. Ich bin aus Maroc.«
»Marokko?«
»Ja.«
Dann fiel mir sein rechter Arm auf, der schlaff herunterhing. Ausgekugelt im Kampf um die Kamera. Als Mikki und ich ihm halfen, seinen Neoprenanzug auszuziehen, blitzten seine dunklen Augen vor Lachen, obwohl er starke Schmerzen haben musste.
Seine Verletzlichkeit berührte etwas in mir; dieser starke, muskulöse junge Kerl, der seinen Arm nicht mehr bewegen konnte. Wir fuhren mit ihm ins Krankenhaus und später zu unserem Campingplatz.
Kasim kam aus der Wüste. Ich komme aus einer kalten, feuchten Stadt im Norden. Er war ein Macho, ich bin Feministin. Er war emotional und aufbrausend, ich bin logisch und rational.
Wir waren komplette Gegensätze und stammten aus vollkommen unterschiedlichen Kulturen, und doch hatte ich gleich von Anfang an das Gefühl, als wäre er ein Teil von mir.
Die nächsten zwei Jahre waren wir unzertrennlich.