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KENNA

Während wir frühstücken, erklingt eine Symphonie aus Vogelstimmen von den Zweigen über unseren Köpfen. Es ist noch früh, der Himmel zwischen den Bäumen gelblich grau. Mikki sitzt neben mir. Ich warte immer noch darauf, dass sie mir von der Prüfung erzählt.

Clemente hat seit unserer Rückkehr vom Strand kein Wort mehr mit mir gesprochen. Ich beobachte ihn aus dem Augenwinkel. Ich will nicht noch jemanden auf dem Gewissen haben . Was hat er damit gemeint?

»Zeit für Kennas Initiationsprüfung«, verkündet Sky, sobald wir aufgegessen haben.

Ich tue erstaunt. Mikki wirft mir einen schuldbewussten Blick zu. Offenbar durften sie mich nicht einweihen. Aber Clemente hat es trotzdem getan.

»Kannst du die Brillen holen, Victor?«, sagt Sky.

»Schnorchel auch?«

»Ja, bring sie ruhig mit für danach. Wir sind seit Ewigkeiten nicht mehr geschnorchelt.«

»Was brauche ich?«, frage ich.

»Bloß Sonnencreme und dein Handtuch.« Sky stopft Sachen in einen Rucksack. »Hey, Süßer, komm mal her.«

Jack hat einen Klecks Sonnencreme an der Wange. Victor blickt finster, als Sky sich zu ihm beugt, um ihn wegzuwischen.

»Alle bereit?«, fragt sie. »Dann folgt mir.«

»Wo gehen wir hin?«, will ich wissen.

»Zum Fluss.«

Sky ist deutlich besser in Form als ich, und ich habe Mühe, mit ihr Schritt zu halten, obwohl ich regelmäßig ins Fitnessstudio gehe. Die anderen folgen schweigend hinter uns. Der Weg gabelt sich mehrmals. Ich glaube, diese Route bin ich noch nie gegangen. Ich versuche, sie mir einzuprägen, doch das dichte Unterholz beeinträchtigt meinen Orientierungssinn.

»Hier wären ein paar mehr Schilder nötig«, sage ich.

»Früher gab es mehr«, entgegnet Sky. »Aber wir haben sie umgestellt oder abgebaut. Wir wollen es den Leuten nicht zu einfach machen.«

»Und niemand ersetzt sie? Haben Nationalparks dafür kein Personal?«

Sky wirft mir einen belustigten Blick zu. »Dieser hier nicht.«

Eine Dornenranke verfängt sich in meinen Shorts. Ich bleibe kurz stehen, um mich von ihr zu befreien.

Nach einer Weile verlassen wir den Wald, erklimmen eine mit verdorrtem Gras bewachsene Böschung, und kurz darauf sehen wir unter uns den Fluss. Still und breit fließt er ins Meer. Unter der dichten Wolkendecke sieht das Wasser dunkel und trübe aus.

»Wenigstens gibt es hier keine Haie«, sage ich.

»Machst du Witze?«, sagt Ryan. »In Flüssen gibt es in Australien die meisten Haie.«

»Wirklich?«

»Sie sind voller Bullenhaie.«

Die anderen nicken.

Jack stupst mich an. »Keine Sorge. Die haben genug zu fressen. Wir hatten noch nie Probleme.«

»Jedenfalls nicht im Fluss«, fügt Ryan hinzu.

Bevor ich ihn fragen kann, was er damit meint, sehe ich im Gras hinter ihm ein Känguru.

Die anderen schenken ihm keinerlei Beachtung.

»Die gibt’s hier haufenweise«, sagt Jack. »Ich glaube, sie mögen das Gras.«

Es hat sogar ein Junges in seinem Beutel! Verzaubert gehe ich vor dem Tier in die Hocke.

»Niedlich, oder?«, meint Mikki.

Das Känguru hört auf zu fressen und starrt mich an. Das Junge im Beutel starrt ebenfalls.

Ich strecke die Hand aus. »Sind sie zahm?«

»So halb«, meint Mikki. »Ich habe sie jedenfalls schon ein paarmal gefüttert.«

Weiter weg hüpfen weitere Kängurus herum.

»Bloß vor den größeren Männchen muss man sich hüten«, warnt Jack.

»Was?« Bestimmt will er mich nur ärgern.

Los, erzählen wir den Briten, dass es hier Killer-Kängurus gibt!

»Die sind ziemlich territorial«, ergänzt er.

Ryan nickt. »Du müsstest mal ihre Krallen sehen. Rasiermesserscharf.«

»Aber sie tun einem doch nichts, oder?«

»Hin und wieder schon«, sagt Jack. »Nicht hier in der Gegend, aber man hört gelegentlich, dass sie Leute mit ihren Hinterbeinen treten und ihnen den Bauch aufreißen.«

Ich erhebe mich. Jetzt bin ich nicht mehr so erpicht darauf, dass sie näher kommen.

Auf unserer Seite des Flusses gibt es eine kleine geschützte Bucht mit einem winzigen Strand. Wir klettern über die Steine und springen in den Sand. Ich streife mir die Flipflops von den Füßen und halte einen Zeh ins Wasser.

»Es ist kälter als das Meer.«

»Auslaufende Flut«, erklärt Ryan. »Das Wasser kommt aus den Hügeln.«

»Wenn es geregnet hat, ist es eisig«, sagt Jack.

Ich wate tiefer ins Wasser. Schon beim nächsten Schritt reicht es mir bis zu den Schenkeln, dann bis zum Hals. Gleich darauf verliere ich den Boden unter den Füßen. Scheiße. Ich bin nur wenige Meter vom Ufer entfernt, aber die Strömung zerrt bereits an mir, und ich muss dagegen anschwimmen, um auf der Stelle zu bleiben. Weiter draußen fließt das Wasser mit hoher Geschwindigkeit und bildet, als es dem Meer entgegenströmt, kleine Wellentäler. Ich bin nicht annähernd eine so geübte Schwimmerin wie Mikki und fühle mich ohne Surfbrett nackt.

Mit einem zittrigen Lachen stakse ich zurück ans Ufer.

»Nehmt eure Brillen«, befiehlt Sky den anderen. »Du nicht, Kenna.«

Sie versammeln sich um den Eimer und trennen Taucherbrillen von Schnorcheln. Auf jeder steht mit wasserfestem Stift ein Name geschrieben.

»Kannst du mir meine rüberwerfen?«, bittet Jack.

Nur zwei Schnorchelsets bleiben im Eimer zurück. Ich nehme das lilafarbene, und mein Herz bleibt stehen. Elke. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Das muss sie sein, oder? Die vermisste Rucksacktouristin?

Ein Schock fährt durch meinen Körper und verlangsamt meine Gedanken. Soll ich so tun, als hätte ich nichts bemerkt? Zu spät. Sky hat gesehen, was ich in der Hand halte. Unsere Blicke treffen sich.

»Da steht ›Elke‹ drauf«, sage ich.

Sky schürzt die Lippen. In meinem Magen brodelt es, mein Atem geht schnell und flach. Victor und Jack lachen über etwas, verstummen jedoch, als sie den Schnorchel sehen.

»Gab es hier mal eine Elke?«

»Vor einer Weile, ja«, sagt Sky.

»Kam sie aus Deutschland?«

»Ja, wieso?« Sky klingt ungehalten.

»Ich habe Plakate gesehen. Sie wird vermisst.«

»Elke?«, fragt Clemente.

»Bist du sicher?«, fragt Sky.

Die anderen tauschen verdutzte Blicke.

»Nee«, meint Jack schließlich. »Das muss eine andere Elke sein.«

Ich versuche, mich an ihren Nachnamen zu erinnern, doch er will mir nicht einfallen.

»Blond, blaue Augen?«

»Wahrscheinlich gibt es Hunderte Elkes in Deutschland, die blond sind und blaue Augen haben«, sagt Ryan.

Ich wende mich an Mikki. »Du hast das Plakat an der Tankstelle doch auch gesehen. War sie es?«

Sie zögert. »Es war kein besonders gutes Foto. Ich weiß nicht genau.«

So wie Mikki reagiert hat, bin ich mir fast sicher, dass sie sie wiedererkannt hat, also warum streitet sie es ab? Aber ich will sie vor den anderen nicht bloßstellen.

»Weiß jemand was darüber?«, fragt Sky.

Schweigen. Clemente mustert mich mit sorgenvoller Miene.

Ich wende mich wieder an Sky. »Wie lange war sie hier?«

»Etwa ein halbes Jahr.«

»Und was ist aus ihr geworden?«

»Sie ist gegangen.«

»Hat sich nicht mal verabschiedet«, sagt Jack. »Sie ist einfach verschwunden.«

»Und jetzt ist sie auf einem Vermisstenplakat aufgetaucht«, sage ich.

»Nicht unser Problem«, meint Ryan.

»Wenn diesem Miststück was zugestoßen ist, nachdem sie uns verlassen hat, ist das ihr Pech.« Sky hat die Angewohnheit, den Akzent der Leute um sie herum anzunehmen. Jetzt klingt sie wie eine Amerikanerin.

»Mit uns hat das nichts zu tun«, stimmt Victor ihr zu.

Ein Schauer durchrieselt mich. Ich bin mir sicher, dass sie mehr wissen, als sie preisgeben. Clemente hat von einem Mädchen gesprochen, das in Panik geraten ist. War das Elke?

Sky holt ein Seil aus ihrem Rucksack. »Zeit für die Initiation. Das hier wird ein Vertrauenstest, Kenna. Vertraust du uns?«