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KENNA

Ryan klettert die Böschung hinauf. Von seiner Brust perlt das Wasser. »Ein Glück, dass ich die Harpune mitgebracht habe.«

»Gibt es Fische?«, will Sky wissen.

»Jede Menge.« Ryan hebt die Harpune auf und befestigt den Schnorchel am Band seiner Taucherbrille. Seine Schultern sind gerötet. Stellenweile schält sich die Haut ab.

»Nimm dir auch einen, Kenna«, ruft Sky, ehe sie sich ebenfalls einen Schnorchel aussucht.

Alle anderen machen es ihr nach und waten zurück ins Wasser, bis ich alleine am Ufer sitze. Elkes Schnorchelset ist als einziges noch übrig. Widerstrebend nehme ich es an mich. Die Brille schränkt meine Sicht ein, und ich fühle mich verletzlich, als ich ins Wasser gehe. Ehe ich untertauche, orientiere ich mich und präge mir ein, wo die Strömung stärker wird. Ein paar Schritte in die falsche Richtung, und ich laufe Gefahr, ins Meer hinausgezogen zu werden.

Ich atme tief ein und tauche. Meine Haare schweben um meinen Kopf herum. Die Sandkörner, die die anderen aufgewirbelt haben, beeinträchtigen die Sicht, und die Fische, die in Bodennähe hin und her schwimmen, haben fast die gleiche Farbe wie der Sand. Ich wende mich nach links, wo es etwas klarer ist. Sky schwimmt an mir vorbei. Das rote Band am Rücken ihres Bikinis sieht aus wie eine Blutspur im Wasser.

Nach einer Weile kommen buntere Fische in Sicht: erst ein dicker, der gestreift ist wie ein Zebra, dann ein Trio mit Punkten. Weil ich nicht vergessen habe, was die anderen über Haie gesagt haben, schaue ich mich regelmäßig um.

Clemente schwimmt bis zum Flussbett hinunter und holt sich einen Stein. Ich komme kurz an die Oberfläche, um Luft zu holen, dann tauche ich wieder unter und folge seinem Beispiel. Rock Running ist ein ausgezeichnetes Krafttraining an Tagen mit schlechtem Wellengang. In Cornwall haben Mikki und ich es oft gemacht, nachdem wir es in dem Film Blue Crush gesehen hatten. Man sucht sich einen großen Stein und läuft damit am Meeresboden entlang. Im Film sieht es einfach aus, doch das ist es keineswegs.

Ich grabe die Zehen in den Sand, um besseren Halt zu finden, und gehe ein paar Schritte. Als mich etwas an der Schulter streift, stoße ich unwillkürlich einen kleinen Schrei aus, aber es ist nur Mikki. Sie hebt eine Hand und formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis – das Okay-Signal der Taucher. Ich nicke, woraufhin sie mich bei den Schultern fasst und sich von mir ziehen lässt, um die Übung für mich noch schwerer zu machen. Früher habe ich das immer gerne gemacht, aber heute löst es bei mir Beklemmungen aus. Mit klopfendem Herzen stapfe ich weiter. Sonnenlicht fällt ins Wasser und färbt es in einem wunderschönen Türkis. Fische huschen vorbei: winzig kleine, die violett schimmern, und langsamere mit auffällig gelb-schwarz gefleckten Schwanzflossen. Doch ich nehme sie kaum wahr, weil ich zu aufgewühlt bin. Elke ist auch mit der Sippe geschwommen, vielleicht sogar genau hier, und jetzt wird sie vermisst. Alle haben sich darüber beklagt, wie sehr sie Localism verabscheuen, dabei ist die Bucht ein Extrembeispiel dafür.

Eine Gestalt zu meiner Linken erregt meine Aufmerksamkeit. Scheiße, es ist Ryan mit seiner Harpune – er zielt direkt auf mich.

Ich lasse meinen Stein los und bleibe wie angewurzelt stehen, sodass Mikki mit mir zusammenstößt. Ich zeige auf Ryan, doch auf einmal zielt seine Harpune in eine ganz andere Richtung, und ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich mir das Ganze womöglich bloß eingebildet habe. Mikki tut verdutzt und schwimmt an die Oberfläche, um zu sehen, was ich will.

Ich tauche zeitgleich mit Ryan auf.

»Hast du welche gefangen?«, ruft Sky.

»Nein.« Ryans Taucherbrille verbirgt seine Augen, deshalb kann ich nicht erkennen, ob er mich ansieht. »Bisher noch nicht.«

Sky winkt uns zu sich. »Zeit fürs Training!«

Während wir unsere Sachen zusammenpacken, werfe ich erneut einen Blick auf ihn, doch er sieht nicht in meine Richtung. Wahrscheinlich bin ich paranoid. Sky führt uns am Fluss entlang zum Strand und lässt uns barfuß durch den Sand joggen, wobei wir immer zehn Sekunden die Luft anhalten und dann zehn Sekunden atmen dürfen. Wir rennen hin und her und stecken uns gegenseitig mit unserer Energie an wie ein Rudel Hunde.

Nein , denke ich, als ich genauer hinsehe. In ihren Mienen liegt etwas Wildes. Ein Wolfsrudel. Und ich gehöre jetzt dazu.