RYAN
Mein Herz schlägt viel zu schnell, und meine Atemzüge kommen kurz und flach, einer nach dem anderen. Hoffentlich merken die anderen nichts. Ich verschwinde zwischen den Bäumen. Die Harpune schlägt mir beim Laufen gegen das Bein, unter meinen Füßen knacken Zweige.
Was hat Jack sich dabei gedacht, schon wieder eine Fremde herzubringen? Die Bucht ist mein Zufluchtsort – mein Versteck. Ich stolpere über eine Baumwurzel und falle der Länge nach hin. Als ich mich wieder aufrapple, ist da plötzlich ein Ticken in meinem Gehirn, als könnte mein Kopf jeden Moment explodieren. Ich fasse mir an die Brust und hole tief Luft, dann renne ich weiter.
Endlich teilen sich die Bäume, und ich erreiche die winzige grasbewachsene Lichtung, die wir die Wiese nennen. Keiner der anderen kommt je hierher, deshalb ist es der einzige Ort, an dem ich ungestört bin. Schwer atmend lasse ich die Harpune fallen und strecke mich am Boden aus.
Ich schließe die Augen und beginne zu klopfen. Tap-tap-tap! Zehnmal auf den Bauch, zehnmal an jeder Seite, zehnmal gegen das Brustbein … insgesamt zehn verschiedene Stellen an meinem Körper und im Gesicht. Eine Runde genügt nicht, deshalb fange ich, kaum dass ich fertig bin, noch einmal von vorne an. Aber die Gedanken kreisen unaufhörlich in meinem Kopf, und ich bin nicht in der Lage, mich auf das Klopfen zu fokussieren und zur Ruhe zu kommen.
Kennas Fragen am Fluss – am liebsten hätte ich ihr den Mund zugehalten und sie zum Schweigen gebracht. Als wir sie tragen mussten und ich an der Reihe war, habe ich sie »aus Versehen« fallen lassen, aber die verdammte Sky hat sie sofort gerettet.
Hör auf, an sie zu denken! Ich stecke mir die Finger in die Ohren und versuche, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, indem ich den Atem anhalte. Als Kind hat es mir immer großes Vergnügen bereitet, Dinge zu zählen. Zahlen gaben mir ein Gefühl von Sicherheit. Bis aus den Zahlen große Geldsummen wurden – dann war es mit der Sicherheit vorbei. Wahrscheinlich habe ich den denkbar schlechtesten Beruf gewählt. Das treffendste Wort, um das Bankgeschäft zu beschreiben? Frenetisch. Man kann niemals abschalten, denn der Markt schläft nicht. Meine Frau hatte einen teuren Geschmack, und ich bin immer größere und größere Risiken eingegangen, um den Lebensstil zu finanzieren, den sie sich wünschte. Abends lag ich im Bett, knirschte mit den Zähnen und versuchte, nicht daran zu denken, was gerade auf dem Markt los war. Viele Jahre lang fand ich keine Ruhe.
Eines Morgens ganz früh, nachdem ich drei Nächte in Folge kein Auge zugetan hatte, schlüpfte ich aus dem Bett und fuhr im Sonnenaufgang an die Küste zu einem Felsvorsprung, um zuzusehen, wie sich unten die Wellen brachen. Die Zahlen schwirrten immer noch in meinem Kopf herum. Ich stellte mich oben auf den Felsen und sprang – einfach nur, um sie zum Schweigen zu bringen. Und es half tatsächlich. Die Zahlen wurden direkt aus meinem Kopf gespült. Die Wellen warfen mich hin und her, und ich fühlte mich so ruhig und zufrieden wie seit Jahren nicht mehr. Das nächste Mal nehme ich ein Surfbrett mit , sagte ich mir, als ich blutend und voller Blessuren zurück zum Auto humpelte. Ich wachste ein Brett, das ich seit meiner Jugend nicht mehr benutzt hatte, und surfte den ganzen Winter über die Wellen vor diesem gemeingefährlichen kleinen Riff. Auf einmal kam ich mit dem Stress auf der Arbeit wieder besser klar. Ich versuchte es auch mit anderen Sportarten – Klettern, Fallschirmspringen, Snowboarden und Motocross. Je gefährlicher, desto größer meine innere Ruhe. Ich konnte sogar meine Medikamente absetzen, weil ich sie nicht mehr brauchte.
Dann kam Ava zur Welt, und der finanzielle Druck verdoppelte sich, weil ich der Alleinverdiener in unserer Familie war. Dazu noch der Schlafmangel. Auf einmal hatte ich keine Zeit mehr für den Sport. In meiner Not machte ich etwas ziemlich Dummes, das ich für den Rest meines Lebens bereuen werde. Denk nicht daran.
Ein schmerzhaftes Ziehen geht durch meinen Körper. Tap-tap-tap. Konzentrier dich auf die Zahlen.
Letztes Jahr wurde es einmal so schlimm, dass ich dachte, ich hätte einen Herzinfarkt. Ich musste die Bucht verlassen und zum Arzt fahren. Jack meinte, ich könnte seine Daten für das Formular benutzen, das ich ausfüllen musste. Seitdem habe ich mich bemüht, es nicht so weit kommen zu lassen. Wenn es gar nicht mehr anders geht, helfen auch Jacks Pillen, von denen ich mir hin und wieder heimlich eine genommen habe. Wenn er etwas merkt, dreht er garantiert durch.
Inzwischen kann ich mich fast nur noch beim Surfen halbwegs entspannen. Windstille Tage sind immer am schlimmsten, denn dann gibt es keine Wellen, die mich von dem Chaos in meinem Kopf ablenken können. An solchen Tagen hasse ich mich mehr denn je. Ich denke an Ava, die siebentausend Meilen weit weg ist, und versuche mir vorzustellen, was sie vielleicht gerade macht. Vielleicht ist es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Aber ich kann nicht – ich will nicht ins Gefängnis.
Wieder wird mir der Brustkorb eng. Mir kann nichts passieren , sage ich mir. Hier findet mich niemand. Die anderen in der Sippe kennen nicht mal meinen Nachnamen. Ich achte darauf, ihn nie zu erwähnen, und meinen Pass sowie alle meine Bankkarten habe ich gleich nach meiner Ankunft versteckt. Ich habe mich sehr bemüht, unauffällig zu bleiben und mir keinen Ärger einzuhandeln, aber ganz ist es mir nicht gelungen. Im Takt mit meinem Klopfen hallt Elkes Name in meinem Kopf wider. Kenna hat ihren Schnorchel gesehen, wie lange wird es noch dauern, bevor sie auch den Rest entdeckt? Wenn sie erfahren, was ich getan habe, muss ich vielleicht auch hier ins Gefängnis. Ich stelle mir eine fensterlose Zelle mit kaltem Betonboden vor, so klein, dass ich kaum die Arme ausstrecken kann. Das beklemmende Gefühl in meiner Brust wird immer schlimmer.
Beruhig dich!
Ich klopfe und klopfe, aber es hilft nicht. Meine Atemzüge sind immer noch unregelmäßig, und mein Herz schlägt so schnell, als wollte es zerspringen. Das ist alles Kennas Schuld. Sie muss weg. Erst dann wird es mir besser gehen.