KENNA
Wir sind am Strand, als sich das erste Tageslicht über dem Horizont zeigt. Die Wellen ragen wie Gespenster aus der Dunkelheit. Ich wate durchs flache Wasser und klatsche mir eine Ladung ins Gesicht, um meine Gedanken zu ordnen, während die anderen an mir vorbeipaddeln. Ich habe nicht gut geschlafen, weil ich die ganze Zeit an Elke denken musste. Kann sein, dass sie aus freien Stücken gegangen ist – vielleicht hat sie sich mit einem aus der Gruppe zerstritten –, und ihr ist erst danach rein zufällig etwas zugestoßen. Aber ich bin skeptisch. Die Nachricht auf meinem Kopfkissen beweist, dass die Sippe etwas zu verbergen hat. Ich grüble darüber nach, als ich aufs Meer hinauspaddle. Wer von ihnen mag sie geschrieben haben? Mikki war es nicht, glaube ich. Es war nicht ihre Schrift, außerdem hätte sie sicher persönlich mit mir gesprochen. Und wenn ich dieser Argumentation folge, kann ich auch Clemente ausschließen. Er hätte Gelegenheit dazu gehabt, als wir uns gestern Abend unterhalten haben. Aber vielleicht zieht der Verfasser der Nachricht es auch vor, anonym zu bleiben, weil er etwas weiß, das er nicht wissen sollte.
Die Sonne kriecht über den Horizont. Während die Farbe des Himmels von Dunkelblau zu Violett und schließlich zu Rosa wechselt, sehe ich den anderen im Wasser zu. Wieder einmal fällt mir auf, wie viel das Verhalten beim Surfen über jeden Einzelnen verrät.
Vor allem Jack schaut man gerne zu. So geschmeidig und leichtfüßig ist er, dass man ganz überrascht ist, wenn er sein Brett in einem scharfen Top Turn oder Cutback herumreißt. Man würde nicht glauben, dass er so etwas draufhat.
Clemente paddelt mit absoluter Entschlossenheit an, selbst wenn klar ist, dass es sich bei der Welle um einen Closeout handelt, unbeeindruckt von dem Monster, das sich in seinem Rücken auftürmt. Er scheint das ausblenden und sich ganz auf die Welle vor ihm konzentrieren zu können. Vielleicht spiegelt das die Art und Weise wider, wie er sein Leben lebt.
Ryan hat Jack ganz offensichtlich noch nicht verziehen, dass dieser ihn gestern geschnitten hat, und drängelt sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor. Komisch. Ryan ist ein stiller Mann, der einem die meiste Zeit kaum in die Augen sehen kann, aber im Wasser wird er zu einem komplett anderen Menschen – und offensichtlich ist er extrem nachtragend.
Victor ist in den Wellen genauso selbstsicher und stark wie an Land. Seine phänomenalen Bottom Turns beweisen, wie viel Kraft er in den Oberschenkeln hat. Mikki erwischt als Nächste eine Welle. Scheiße – Clemente paddelt auch an, und Mikki hält genau auf ihn zu. Im letzten Moment duckt er sich, und sie gleitet über ihn hinweg.
»O mein Gott, das tut mir so leid!«, ruft sie.
Die anderen lachen, als Mikki und Clemente wieder hinauspaddeln. Victor beugt sich zu Clemente und klopft ihm auf die Schulter. »Fast hätte sie dich erwischt, Bruder!«
Clemente grinst schief. »Ich dachte schon, sie will mich ausknocken!«
Mikki ist direkt hinter ihm. Ihr Kopf ist hochrot, aber wir müssen lachen.
»Sie ist brandgefährlich«, sage ich. »Vor ein paar Jahren hätte sie fast mal meinen Freund überfahren.«
Meine Stimme erstirbt, noch während ich dies sage, und die anderen beäugen mich neugierig. Es fällt mir immer noch schwer, über ihn zu sprechen, ohne die Trauer zu spüren. Eine Welle kommt in meine Richtung. Okay, Kasim, die hier ist für dich. Als das Wasser unter mir anschwillt, springe ich auf die Füße. Mein Muskelgedächtnis übernimmt die Führung, und ehe ich weiß, wie mir geschieht, ragt mein Brett fast vollständig aus dem Wasser, weiße Gischt spritzt im hohen Bogen in die Luft und landet mit einem Klatschen auf der Wasseroberfläche.
Es gibt beim Surfen, vielleicht in jedem Sport, Augenblicke, in denen alles passt und man ganz mit dem Moment verschmilzt. In Büchern über Sportpsychologie wird das als »Flow« bezeichnet, aber dieses Wort mit vier Buchstaben scheint mir nicht annähernd mächtig genug, um das Gefühl zu beschreiben, das meine Beine hinauffährt und sich in meinem ganzen Körper ausbreitet. Das einzige Problem daran ist, dass man sofort mehr will. Du darfst dich nicht wieder da reinsaugen lassen , ermahne ich mich, auch wenn eine kleine Stimme in meinem Kopf mir sagt, dass es bereits zu spät ist.
Muscheln graben sich in meine Fußsohlen, als ich später durch den Sand stapfe.
»Warte!«, ruft Mikki.
»Der Strand ist phänomenal!«, schwärme ich. »Ich habe zwölf Wellen erwischt. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt zwölf Wellen erwischt habe.«
Mikki strahlt. »Ich wusste, dass es dir gefällt.«
»Du hast dir hier ein schönes Leben geschaffen.«
Sie blickt mir forschend ins Gesicht. Vermutlich fragt sie sich, ob ich es ernst meine oder lediglich die Taktik geändert habe.
Besorgniserregend ist, dass ich mir selbst nicht ganz sicher bin. Wie konnte ich vergessen, wie gut es sich anfühlt, auf einem Surfbrett durchs Wasser zu gleiten? Elkes Verschwinden ist definitiv verstörend, und es macht mir Angst, dass Mikki im Begriff ist, mit einer Ehe eine riesengroße Verpflichtung einzugehen, ohne sich im Vorfeld Gedanken darüber gemacht zu haben. Aber zugleich sehe ich auch den Reiz von Sorrow Bay. Es gibt auf dieser Erde nicht mehr viele Flecken, an denen man eine so perfekte, so unberührte Brandung findet.
Mikki wechselt das Brett in die andere Hand und legt den Arm um meine Taille. »Das ist jetzt auch dein Leben, nicht vergessen.«
»Für eine gewisse Zeit.« Ich will sie nicht täuschen.
Ihre Augen leuchten. »Dieser Ort hier verkörpert, was wir sind und was wir tun, und das liebe ich so daran. Wir leben ganz einfach, fast wie vor Tausenden von Jahren, als die Menschen noch Jäger und Sammler waren.«
Mit dem Sammeln habe ich kein Problem. Was mir Sorgen bereitet, ist das Jagen. Egal, wie großartig die Wellen sind, Mikki ist hier nicht sicher.
»Lass uns schnell was essen und dann noch mal reingehen«, sagt sie.
»Super Idee.« Es hat keinen Sinn, nicht zu surfen, solange ich hier bin, aber in einem Monat werde ich nach Hause fliegen, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Mikki dann zusammen mit mir im Flugzeug sitzt.
Im Gehen werfe ich einen Blick über die Schulter und rufe mir ins Gedächtnis, dass das Meer einem unendlich viel Freude schenken, sie einem aber auch jederzeit wieder nehmen kann.