KENNA
Zwei Jahre zuvor
An diesem Morgen schmeckte Kasim nach Orangenmarmelade.
»Lecker«, sagte ich und küsste ihn gleich noch einmal. Ich hätte ihn länger geküsst, wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal war.
In meiner Küche duftete es nach Toast. Die Zentralheizung lief, und ich schwitzte in meinem Neoprenanzug. Es war Mitte März, und die versprochenen sechs bis acht Fuß hohen Wellen waren da: die beste Brandung, die wir den ganzen Winter über gehabt hatten. Mikki und ich verfolgten während des Frühstücks die Surf Cam auf meinem Handy.
»Whaaa!«, rief Mikki, als sich eine Welle aufbaute und eine winzige, in Gummi gekleidete Gestalt sie surfte, während das Wasser sich hoch über ihrem Kopf wölbte.
Kasim fluchte auf Arabisch. »Die sind zu groß.«
Ich trank meinen Kaffee aus und stand auf. »Du musst ja nicht mitkommen.«
Er versuchte, mir den Weg zu versperren. »Du gehst nicht.«
Manchmal war er ein richtiges Alphamännchen, und meistens fand ich das niedlich – manchmal sogar heiß. Aber nicht, wenn er zwischen mich und die Brandung kam. Hinter ihm brach sich eine Welle mit hypnotischer Kraft. Ich konnte es gar nicht erwarten, endlich ins Wasser zu kommen.
»Tut mir leid«, sagte ich, »aber ich gehe.«
»In Ordnung!« Kasim rang in einer kapitulierenden Geste die Hände. »Dann komme ich aber mit.«
Bestürzt sah ich ihn an. Wie sollte ich ihm sagen, dass die Verhältnisse meiner Ansicht nach zu gefährlich für ihn waren, ohne dabei seinen Stolz zu verletzen?
Seit ich Kasim kannte, war mein Respekt für Surf-Fotografen enorm gewachsen. Manche bezeichnen Surf-Fotografie als Extremsport, und das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Während Surfer ihre Bretter haben, um stundenlang auf dem Wasser zu schwimmen, musste Kasim dies aus eigener Kraft bewerkstelligen und dazu noch seine schwere Kamera in ihrem wasserdichten Kunststoffgehäuse halten. Um eine gute Aufnahme zu bekommen, musste er sich oft in waghalsige Positionen begeben und brachte sich dabei mitunter sogar selbst in Gefahr. Einmal war er von einem außer Kontrolle geratenen Surfbrett an der Schläfe getroffen worden und hatte genäht werden müssen, und ein andermal hatte er sich den Knöchel gebrochen, als er gegen ein Riff geschleudert worden war. Er war einer der fittesten Männer, die ich kannte – aber er besaß kaum Erfahrung mit so hohem Wellengang.
Er war bereits dabei, sich in seinen Neoprenanzug zu zwängen. Hilfe suchend schaute ich zu Mikki, doch die schüttelte lediglich den Kopf. Sie war ganz bleich vor Nervosität. Ich hätte es mir anders überlegen können. Stattdessen stellte ich mein selbstsüchtiges Bedürfnis über seine Sicherheit.
Zehn Minuten später schaukelte ich auf meinem Brett im Meer. Wenn ich bei so hoher Brandung draußen war, wurde ich immer ein bisschen seekrank. Ich schaute mich nach Kasim um und erhaschte einen Blick auf ihn in der Ferne. Er hielt seine Kamera fest in der Hand.
Wir waren bei Weitem nicht die Einzigen, die den Surfwetterbericht gesehen hatten – für März war es ungewöhnlich voll. Vier Männer warteten an der gleichen Stelle wie ich. Eine Welle kam, und einer von ihnen surfte los. Noch drei, dann war ich an der Reihe. Mikki wartete in der Nähe auf eine andere Welle. Endlich erwischte sie eine, und kurz darauf bekam auch ich meine Gelegenheit. Ich surfte eine Welle nach der anderen, bis mir irgendwann bewusst wurde, dass ich Kasim schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen hatte. Hoffentlich geht es ihm gut , dachte ich. Aber wenn ich lospaddelte, um nach ihm zu suchen, würde ich meinen Platz im Lineup verlieren.
Ich rechnete damit, ihn wie so oft am Strand anzutreffen, doch dort war er nicht. Mikki und ich warteten noch eine Weile und fragten andere Surfer, ob sie ihn gesehen hätten. Vielleicht war ihm zu kalt geworden, und er hatte sich von jemandem nach Hause bringen lassen. Aber in der Wohnung war er auch nicht. Da bekam ich Angst, und ich konnte kaum noch atmen. Ich meldete ihn als vermisst, und man begann, ihn zu suchen.
Ich saß in meinem Auto, als ein anderer Surfer mich anrief.
Sie haben ihn gefunden. Ich atmete erleichtert auf, ehe ich seinen Tonfall registrierte. »Wo?«, fragte ich mit erstickter Stimme.
Ich parkte an derselben Stelle wie zuvor und rannte den Strand hinunter. Eine Gruppe Menschen stand um eine reglos am Boden liegende Gestalt herum, und um mich wurde alles schwarz.