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KENNA

Victor ist in einer Art Trance.

Sky steht in der Nähe und hängt Wäsche auf eine Leine. Ich gehe zu ihr. »Ist mit Victor alles in Ordnung?«

Sie schaut desinteressiert zu ihm hin. »Dem geht’s gut. Sein Unfall hat ihn traumatisiert, aber wir arbeiten daran. So machen wir das hier: Wir arbeiten so lange an unseren Ängsten, bis sie verschwinden.« Sie legt einen Arm um mich und führt mich zu einer Bank. »Sag mir, Kenna. Wovor hast du Angst?«

Nervosität steigt in mir hoch. Davor hat Clemente mich gewarnt. Es gibt vieles, wovor ich Angst habe – zum Beispiel vor den meisten Insekten hier –, aber das möchte ich ihr lieber nicht sagen. »Eigentlich nicht viel. Was ist mit dir?«

Sie lächelt. »Ich hatte vor vielen Dingen Angst, aber das habe ich in den Griff gekriegt.«

Plötzlich klingt ihre Aussprache wieder ganz anders als sonst.

Ihre Finger reiben meinen Bizeps. Ich bin es nicht gewohnt, von Freunden angefasst zu werden, aber es ist kein unangenehmes Gefühl, also versuche ich, mich zu entspannen. Eine kühle Brise weht, und Skys Hand ist wärmer als mein Arm – und überraschend weich, wenn man bedenkt, was sie alles damit macht.

»Das ist beeindruckend«, sage ich.

»Sich seinen Ängsten zu stellen, ist eine unglaublich befreiende Erfahrung.«

Dass sie so dicht neben mir sitzt und mir ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt, hat etwas Berauschendes. Da ich den Moment in die Länge ziehen will, beginne ich, ihr von Toby und dem Steinbruch zu erzählen.

»Tief im Innern habe ich schreckliche Angst davor, dass ich jemandem wehtun könnte«, schließe ich.

»Du kannst nicht die Verantwortung für die Entscheidungen anderer übernehmen.«

Ich sehe sie an und würde ihr zu gern glauben. »Es war nicht nur das.«

Ihre Augen funkeln vor Neugier, also erzähle ich ihr auch von dem Tag, an dem Kasim ertrunken ist. »Er wollte nicht, dass ich surfe. Er ist nur mitgekommen, weil ich darauf bestanden habe zu gehen. Er ist meinetwegen gestorben.«

Sky sieht mich voller Mitgefühl an. »Du darfst so was nicht mit dir herumschleppen. Das zieht dich nur runter. Ich kann dir damit helfen. Wir machen eine Visualisierung, das ist eine sehr wirksame Technik. Du kannst sie anwenden, um an deinen Ängsten zu arbeiten, das wird deinen Heilungsprozess beschleunigen. Ich möchte, dass du dir Folgendes vorstellst: Du bist mit Kasim im Wasser, streckst die Hand aus und drückst ihn nach unten.«

Ich zucke zurück. »Ich verstehe nicht, inwiefern mir das helfen soll.«

»Das ist deine schlimmste Angst, oder? Also musst du sie wieder und wieder erleben.«

Beim bloßen Gedanken daran wird mir eiskalt. »Okay.« Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob sie recht hat.

Sky ruft die Gruppe zusammen. Alle versammeln sich um sie.

»Die meisten laufen vor ihren Ängsten weg«, beginnt sie. »Was, wenn ihr sie stattdessen mit offenen Armen empfangt? Was macht das mit euch? Wie verändert es euch? Ich fordere euch auf, das zu suchen, was euch Angst macht. Es wird nicht so schlimm, wie ihr denkt.«

Sie macht es sich auf einer Matte bequem, und die anderen tun es ihr gleich. Jack und Clemente legen sich hin, aber Mikki setzt sich in den Schneidersitz, genau wie Victor und Ryan. Ich beschließe, auch lieber zu sitzen; so kann ich besser nach Ameisen Ausschau halten.

Die Brise zerrt an meinen Haaren, über unseren Köpfen kreischen die Papageien. Kurz versuche ich, das zu tun, was Sky mir geraten hat, und mir vorzustellen, wie Kasim und ich im Meer schwimmen. Ich strecke den Arm aus, lege die Hand auf seine Schulter und … Nein. Ich verziehe das Gesicht und versuche, das Bild aus meinem Kopf zu vertreiben.

Wie lange soll das hier noch dauern? Selbst in guten Momenten habe ich Schwierigkeiten, still zu sitzen, und bei so vielen Moskitos ist es mir nahezu unmöglich. Notgedrungen sehe ich den anderen zu und frage mich, was sie wohl gerade visualisieren. Victor zuckt hin und wieder zusammen, und Jack niest, doch abgesehen davon, sind alle ganz still.

Meine Gedanken wandern zu Clementes Frau. Ich frage mich, was Victor mir eben verschwiegen hat. In der Ferne höre ich die Wellen rauschen. Das Geräusch beruhigt mich. Schon bald passe ich meinen Atem ihrem Rhythmus an.

»Sehr gut gemacht, alle«, sagt Sky.

Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, aber als ich mich aufrapple, ist einer meiner Füße eingeschlafen, und mein Hintern ist taub. Die anderen blicken um sich, als wären sie soeben aus einer Trance erwacht. Jack lässt den Kopf kreisen, um seine Nackenmuskeln zu dehnen. Seine Augen sind trübe – ist er etwa eingeschlafen? Mikki hat ein seliges Lächeln im Gesicht. Ich frage mich, was sie visualisiert hat. Motten oder große Wellen vermutlich.

»Wie ist es dir ergangen?«, fragt Sky.

»Es wird langsam.«

»Bleib dran. Wir vollziehen später noch ein Heilungsritual für dich.«

»Super.« Ich wechsle das Thema. »Du hast gesagt, jeder hier hat seine Probleme. Von was für Problemen reden wir denn?«

»Es steht mir nicht zu, dir das zu sagen. Die anderen haben es mir im Vertrauen erzählt. Wenn du sie fragst, verraten sie es dir vielleicht, aber manch einer behält so was auch lieber für sich.«

»Sicher.« Ich finde es gut, dass sie es mir nicht sagen will, allerdings bin ich jetzt erst richtig neugierig geworden. Sie kennt die Geheimnisse aller – fast wie ein Beichtvater.

Hinter ihr kniet Clemente ohne T-Shirt über einer Wanne mit Wasser und spült seine Kleider aus.

Sky dreht sich um, weil sie sehen will, was ich da anschaue. »Er gefällt dir.«

Röte steigt mir ins Gesicht. Ich gebe keine Antwort, aber das muss ich auch gar nicht.

»Sei vorsichtig mit ihm, Süße.«

»Wie meinst du das?«

Statt einer Antwort lächelt sie geheimnisvoll.

»Jack hat mir von seiner Frau erzählt«, sage ich.

Ihr Lächeln verfliegt. »Was hat er denn gesagt?«

»Dass sie sich an dem Ast da aufgehängt hat.«

»Richtig.«

Ich betrachte aufmerksam ihr Gesicht. »So war es doch, oder?«

Sie zögert einen Sekundenbruchteil lang. »Ja.«

Ich starre sie an. Was verschweigt sie mir?

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Wie gefällt es dir bis jetzt in der Sippe?«

»Es ist großartig.«

Das war die richtige Antwort. Sky nickt zufrieden. »Ein Wort der Warnung, Kenna. Dieser Ort ist nicht perfekt, und die Leute hier sind es auch nicht. Jeder hat seine Geheimnisse, aber wir graben nicht danach, denn manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen.«