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KENNA

Am Nachmittag surfen wir wieder. Zwar ertappe ich Clemente mehrmals dabei, wie er mich ansieht, trotzdem habe ich den Eindruck, dass er bewusst versucht, mir aus dem Weg zu gehen.

Während des Abendessens beobachte ich ihn unauffällig. Am Selbstmord seiner Frau ist definitiv etwas faul, aber das bedeutet natürlich nicht automatisch, dass er etwas mit Elkes Verschwinden zu tun hat. In Wahrheit könnte jeder von ihnen dahinterstecken. Victor hat gesagt, er würde für die Brandung hier töten. Sky hat sie vielleicht als Bedrohung empfunden; Ryan ist der Wächter – könnte er seine Rolle zu ernst genommen haben?

Was hat ihn überhaupt dazu bewogen, die USA zu verlassen? Könnte er ein gesuchter Verbrecher sein?

Als wir gemeinsam den Abwasch machen, nimmt Mikki meine Hand. »Ich habe dich den ganzen Tag über kaum gesehen. Magst du mit mir eine Runde schwimmen gehen?«

»Ja, gerne!«, sage ich sofort, froh, dass sie zu mir gekommen ist.

»Kann ich auch mitkommen?«, fragt Clemente.

Mikki antwortet, ehe ich Gelegenheit dazu habe. »Sorry. Wir brauchen ein bisschen Zeit für uns.«

»Kein Problem.« Clemente geht weg und fängt ein Gespräch mit Jack an.

Fünf Minuten später laufen Mikki und ich ins Meer. Die Oberfläche ist fast spiegelglatt. Erstaunlich, dass die Brandung innerhalb so kurzer Zeit komplett verschwinden kann. Ich bewege die Hände durchs Wasser und genieße die Bewegung der Wellen.

Mikki trägt einen String-Bikini, den ich noch aus Cornwall kenne. Der Blumenprint ist verblichen. »Ich liebe diesen Bikini«, sage ich. Einmal mehr fällt mir auf, wie topfit sie ist.

Sie kichert. »Zum Surfen kann ich ihn nicht tragen. Weißt du noch, wie wir mal in String-Bikinis gesurft sind?«

Ich lache. »Erinnere mich bloß nicht daran!«

In dem Sommer waren wir etwa fünfzehn. Wir hatten unsere allerersten String-Bikinis gekauft und beschlossen, darin zu surfen. Ganz blöde Idee. Die Wellen waren nur wenige Fuß hoch, aber trotzdem stark genug, um uns die Bikinis vom Leib zu reißen. Nach jeder Welle mussten wir unsere Höschen hochziehen und die Tops zurechtrücken, um nicht nackt dazustehen.

Ein älteres Mädchen kam zu uns gepaddelt. »Kleiner Tipp: Wenn ihr im Bikini surfen wollt, müsst ihr ihn zwei Nummern kleiner kaufen. Und besorgt euch einen Triangel-Bikini mit Verschluss, nicht mit Schnüren.«

Mit hochroten Köpfen kehrten wir an den Strand zurück.

Ich liege im flachen Wasser, während winzige Wellen über meine Zehen spülen, und bestaune den Sonnenuntergang. Alles – Sand, Himmel, Meer – ist rosa. Ein Vogel fliegt knapp über der Wasseroberfläche dahin – ein Adler oder ein Habicht, vielleicht auf der Suche nach einem Fisch zum Abendessen.

Das Leben in Sorrow Bay spielt sich fast ausschließlich unter freiem Himmel ab. Es dreht sich nur um Sonne und Wellen und ist völlig anders als mein Leben in der Großstadt London, wo ich in meinem dunklen, kalten Schlafzimmer vom Klingeln meines Weckers aufwache, mich zitternd für die Arbeit fertig mache und kaum je Tageslicht sehe.

»Der Ort hier wächst mir immer mehr ans Herz«, gestehe ich.

»Ich habe es dir doch gesagt!«, jubelt Mikki. »O mein Gott, schau dir nur deine Fußnägel an!«

Ich blicke von meinen Zehen mit dem abgeplatzten Lack zu ihren makellos lackierten und spritze sie nass. Sie kichert und spritzt zurück.

Ich setze mich auf. Ich bin im Begriff, die ausgelassene Stimmung zu verderben. »Ich wollte dich was wegen Jack fragen. Wie viel zahlst du ihm?«

Ihre Miene verändert sich. »Das geht nur mich was an.«

»Mensch, Mikki, ich kann nicht glauben, dass du das wirklich durchziehen willst. Was, wenn du jemanden kennenlernst, den du wirklich magst?«

»Wir müssen nur zwei Jahre verheiratet bleiben, dann kriege ich einen permanenten Aufenthaltsstatus.«

Eine dunkle Silhouette im Wasser unter mir lässt mich aufschreien. Mikki taucht unter und kommt mit der Hand voll tropfendem Seetang wieder hoch.

Ich fasse mir ans Herz. »Scheiße, das hat mich ganz schön erschreckt. Habt ihr hier schon mal einen Hai gesehen?«

Mikki lässt sich rücklings auf dem Wasser treiben. Ihre Haare schweben um sie herum wie ein Heiligenschein. »Die anderen ja. Ein- oder zweimal dachte ich, ich hätte einen gesehen, aber vielleicht war es auch bloß ein Delfin.«

»Aha.« Als mein Herzschlag sich langsam wieder beruhigt hat, fällt mir ein, was ich sie noch fragen wollte. »Wie soll sie denn nun ablaufen, eure Fake-Hochzeit?«

Sie sieht mich scharf an.

»Bin ich eingeladen?«

Ihre Miene wird weicher. »Natürlich.«

»Darf ich ein Fake-Geschenk mitbringen?«

Sie lächelt. »Nein. Nur ein echtes.«

»Lass mich nachdenken … vielleicht künstliche Blumen. Oder unechten Schmuck. So Plastik-Modeschmuck aus dem Ramschladen. Gibt es hier so was?«

»Es gibt Dollar-Shops.«

»Aber jetzt mal im Ernst – wie genau habt ihr euch das vorgestellt?«

»Wir besorgen uns einen Wisch vom Standesamt und machen weiter wie gehabt. Es ist wirklich keine große Sache, deshalb habe ich dich auch nicht eingeladen.«

»Sky hat was übers Teilen gesagt.« Bei der nächsten Frage ist mir etwas unbehaglich zumute. »Teilt ihr innerhalb der Sippe auch eure Partner?«

»Manchmal.«

»Ernsthaft?« Was mich am meisten überrascht, ist, dass Mikki kein Problem damit zu haben scheint.

»Sky hatte eine ziemlich unglückliche Kindheit. Sie ist mit sechzehn von zu Hause abgehauen und hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern.«

So ähnlich wie Ryan. Es ist nicht gesund, wie sie hier völlig abgeschottet in ihrer eigenen kleinen Blase leben, weit weg von der Heimat und den Menschen, die sie lieben. Ich nehme mir vor, die anderen nach ihren Familien zu fragen. Manche müssen doch Heimweh haben.

»Sky sagt, die Sippe ist jetzt ihre Familie«, fährt Mikki fort. »Deshalb hatte sie die Idee, dass wir alles miteinander teilen, auch unsere Partner.«

Kurz frage ich mich, in was für einem Verhältnis Mikki und Sky wohl zueinander stehen. Ich weiß nicht genau, ob ich es als Freundschaft bezeichnen würde, denn die körperliche Zuneigung wie zwischen mir und Mikki fehlt – die Wärme und das Lachen; andererseits lacht Sky sowieso nicht oft. Es ist eher so, dass Mikki tut, was immer Sky will, und Sky sie dafür belohnt, indem sie sie den anderen vorzieht – oder sie wenigstens nicht bestraft.

In jedem Fall tanzt Mikki nach Skys Pfeife. Vielleicht spürt sie meine Missbilligung, denn sie taucht kurz unter und kommt wieder hoch. »Das Wasser ist so warm.«

»Ja. Kasim würde es lieben, oder? Er müsste nicht mal einen Neoprenanzug tragen.« Ich seufze. »Gott, er fehlt mir so sehr.«

»Ach, komm schon. Wenn du mal an einer gefährlichen Stelle surfen wolltest, habt ihr euch immer richtig heftig gezofft, weißt du nicht mehr?«

»So heftig nun auch wieder nicht.«

»Er hat dich eingeschränkt.« Mikki sieht mich wie um Entschuldigung bittend an. »Das hast du mir selbst gesagt.«

Sie hat recht; darüber habe ich mich früher immer sehr aufgeregt.

Ich will dich einfach nicht verlieren , sagte er dann. Oder: Du bist mir eben wichtig. Meistens habe ich ihn einfach ignoriert und gemacht, was ich wollte, aber er hat die Zweifel ausgesprochen, die mir im Kopf herumspukten, und sie verstärkt. Manchmal ging das so weit, dass ich ihnen nachgab. Daran muss Mikki mich nicht erinnern.

»Sorry«, sagt sie. »Aber du stellst ihn auf ein Podest. Und ich glaube nicht, dass das hilfreich ist.«

Ich funkle sie an. Meine kostbaren Erinnerungen sind alles, was mir von ihm geblieben ist, und jetzt sind sie im Begriff zu welken, zu verdorren und zu schimmeln. Nur noch gut für die Mülltonne. Mikki degradiert meine Erinnerungen zu Abfall. Sie degradiert ihn zu Abfall.

»Du solltest mal mit Sky darüber sprechen«, rät sie mir.

»Du verherrlichst sie«, gebe ich zurück. »Und ich weiß nicht, ob das hilfreich ist. Allein dieses bescheuerte Tattoo!«

Ich sehe den Schmerz in Mikkis Augen. Sie wendet sich ab und schwimmt mit schnellen Kraulbewegungen davon. Ich wate durchs flache Wasser und gehe zurück an den Strand, ohne mich umzudrehen. Als ich mich durchs Unterholz schlage, kommt mir eine Szene in den Sinn. Ich, Mikki und Kasim, wie wir eines Nachmittags auf den Felsen am Destruction Point standen und zusahen, wie sich die Wellen brachen. Es waren nur zwei Surfer im Wasser.

Mikki und ich waren schon ein paarmal an diesem berüchtigten Spot in Devon gesurft, aber heute hatte sie keine Lust – die Wellen waren ihr zu hoch.

»Es macht dir doch nichts aus, auf mich zu warten?«, fragte ich.

Nein, es machte ihr nichts aus. Also warf ich mein Brett von den Felsen ins Wasser und sprang hinterher. Die Brandung war wirklich stark, aber jedes Mal, wenn ich eine Welle erwischte, durchströmte mich diese köstliche Mischung aus Angst und Erregung. Ich dachte, Kasim würde Fotos von mir machen, doch er beobachtete mich lediglich mit vor der Brust verschränkten Armen. Er war zu weit weg, als dass ich seine Miene hätte sehen können.

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Dass er beeindruckt war? Stolz? Beides war nicht der Fall. Im Gegenteil, er war stinkwütend. »Glaubst du, ich will mir das ansehen?«, rief er, als ich aus dem Wasser stieg. »Will ich nicht! Ich dachte, du stirbst!«

Ich fühlte mich mies, hätte aber jederzeit wieder dasselbe getan. »Es tut mir leid, dass du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast.«

»Sieh nur! Du hast dich verletzt!«

An meinen Schienbeinen lief das Blut hinunter. Auch mein Fuß tat weh. »Ich schürfe mir immer was auf, wenn ich hier surfe. Das geht allen so. Die Seepocken sind scharf.«

»Warum bist du von den Felsen gesprungen?«

»Anders kommt man nicht ins Wasser. Ansonsten muss man vom Strand aus bis hierher rauspaddeln, und das sind mehrere Meilen.«

Er hat noch oft versucht, mich vom Surfen abzuhalten, weil er es für zu gefährlich hielt, aber ich ließ mich von seinen Bedenken nicht beirren. Nach seinem Tod machte ich mir schwere Vorwürfe, weil ich so selbstsüchtig gewesen war und er meinetwegen solche Ängste hatte ausstehen müssen. Wenn man in einer Beziehung ist, hat der Partner vielleicht das Recht, einen daran zu hindern, sich in Gefahr zu begeben. Ist das so? Darüber habe ich bis heute keine Klarheit erlangt.