KENNA
Zurück auf der Lichtung säubert Ryan den Grill. Ich schnappe mir einen Schwamm aus dem Eimer. Meine Arme tun weh vom Surfen, aber es gibt nichts Besseres, als ordentlich zu schrubben, wenn man seine Wut loswerden will. Ich weiß nicht einmal genau, auf wen ich wütender bin: auf Mikki, Kasim oder auf mich selbst.
Ryan schaut auf und schenkt mir ein seltenes Lächeln. »Gute Wellen heute, oder?«
Mein Zorn schmilzt ein wenig. »Ja, ich weiß. Ich kann immer noch nicht glauben, dass außer uns niemand hierherkommt.«
»Ja. Na ja, das ist so nicht ganz richtig.«
»Wie meinst du das?«
Er sieht so aus, als würde er seine Worte bereuen. »Jack hat mal ein paar Mädels mitgebracht.«
Alarmglocken schrillen in meinem Kopf. »Ach ja?«
Als Ryan meine Miene sieht, rudert er sofort zurück. »Bevor er Mikki kannte. Nur für ein Wochenende. Aber nach der Ersten haben wir ziemlich Stunk gemacht. Danach hat er dafür gesorgt, dass sie nie genau wussten, wo wir hier sind.«
Ich bemühe mich um einen unverfänglichen Tonfall. »Aber so ungefähr müssen sie es doch gewusst haben, oder? Zumindest, wie viele Stunden nördlich von Sydney die Bucht liegt, und was sich in der Nähe befindet?«
Ryan beginnt zu stammeln. »Na ja, also, nein. Er hat ihnen was gegeben.«
»Was gegeben?«
Unbehaglich tritt er von einem Fuß auf den anderen. »Er hat ihnen was ins Getränk gemischt, bevor sie aus Sydney aufgebrochen sind.«
Mir fällt der Schwamm aus der Hand. Es ist, als wäre die Temperatur schlagartig um zehn Grad gefallen. »Du meinst, er hat sie unter Drogen gesetzt?«
Ryans Blick huscht von meinem Gesicht zu den Bäumen. »Er hat ihnen bloß eine Schlaftablette gegeben.«
Ich starre ihn an. Ganz offenbar begreift er nicht, wie krank ein solches Verhalten ist.
Er zuckt mit den Achseln. »Es waren Rucksacktouristinnen aus dem Ausland, zum ersten Mal in Australien. Er hat sie glauben machen, sie würden nach Süden fahren, nicht nach Norden, und sie haben nie gemerkt, dass das nicht stimmt. Als sie keine Lust mehr hatten, hat er sie zurück nach Sydney gebracht.«
»Hat er sie auf der Rückfahrt auch betäubt?«
»Ja.« Ryan verschränkt die Arme vor der Brust. »Wir müssen diesen Ort hier beschützen.«
»Er hätte ihnen Gott weiß was verabreichen können! K.-o-Tropfen. Und wer weiß, was er währenddessen mit ihnen gemacht hat.«
»Ach, komm schon. Ich kenne Jack. So was ist nicht seine Art. Der Typ zieht Frauen an wie ein Magnet. Diese Mädels haben sich ihm praktisch an den Hals geworfen.«
Liest er denn keine Zeitung? Wahrscheinlich nicht, wenn er seine ganze Zeit hier verbringt. Er hat völlig den Kontakt zur Realität verloren. Wie vielen Menschen sind genau diese falschen Vorstellungen schon auf die Füße gefallen?
»Wie viele waren es?«, frage ich.
»Zwei oder drei?«
Wut kocht in mir hoch. Jack wäscht sich die Füße unter dem Wasserhahn. Ich marschiere zu ihm. »Ryan hat mir gerade gesagt, dass du die Frauen, die du hierher mitgenommen hast, mit Drogen betäubt hast.«
Jack öffnet den Mund und blickt von mir zu Ryan, der verlegen hinter mir steht. Ich bin kein schlechter Mensch , hat er mir gesagt. Dieses Arschloch. Es verschafft mir Genugtuung, dass er sich jetzt so windet.
Weiß Mikki, dass ihr Verlobter anderen Frauen Drogen verabreicht? Da kommt sie den Pfad herauf. Gleich nachdem ich mir Jack vorgeknöpft habe, werde ich zu ihr gehen und mich mit ihr versöhnen. »Was hast du ihnen gegeben?«
Jack scheint meine Wut amüsant zu finden. »Ganz ruhig. Es war nur eine Schlaftablette.«
»Kommt alle her!«, ruft Sky.
Ich bin noch nicht fertig mit Jack, aber er geht zu Sky und den anderen ans Feuer. Widerstrebend folge ich ihm. Im Stillen denke ich immer noch über sein beiläufiges Geständnis nach.
»Heute Abend vollziehen wir ein Heilungsritual«, verkündet Sky. Inzwischen ist es fast dunkel. Sie gibt jedem von uns ein kleines weißes Teelicht, dann löscht sie das Feuer, sodass nur noch unsere Kerzen die Lichtung erhellen.
»Wir alle haben Dinge getan, auf die wir nicht stolz sind«, sagt sie. »Dinge, die in uns gären und unseren Geist schwächen.«
In mir gärt, was Jack mit den Frauen gemacht hat. Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu, doch er bekommt es gar nicht mit. Lass es gut sein, Kenna.
»Wir werden gleich unsere Kerzen betrachten und dabei unsere Fehler reflektieren«, fährt Sky fort. »Und wenn wir sie ausblasen, werden sie aus unseren Gedanken verschwunden sein.«
Sieben Flammen flackern. Ich starre auf meine und sehe Kasims Gesicht darin. Es verwandelt sich und wird zu Toby Wines. Hat Sky recht? Sollte ich mich nicht dafür verantwortlich fühlen, was Toby und Kasim passiert ist? Es ist verlockend, mich selbst von jeder Verantwortung freizusprechen, aber ich bin mir einfach nicht sicher.
Ich blicke in die ernsten Gesichter der anderen, die hinter ihren Kerzen knien. Mikki ist neben mir. Woran denkt sie gerade? Etwas glitzert auf ihrer Wange – sie weint. Hastig konzentriere ich mich wieder auf meine eigene Kerze. Bestimmt möchte sie nicht, dass ich ihre Tränen sehe.
In all den Jahren, die ich sie nun schon kenne, habe ich Mikki nie weinen sehen. Selbst als ihr Hund starb, damals, als wir noch Teenager waren, blieben ihre Augen trocken. Sie war stiller als sonst an jenem Tag, aber das war das einzige Anzeichen dafür, dass sie um ihn trauerte.
»Und jetzt blast eure Fehler davon«, sagt Sky. »Spürt, wie die Schuld euren Körper verlässt und nach oben zwischen die Bäume schwebt.«
Einer nach dem anderen bläst sein Teelicht aus. Ich stelle mir unsere Schuld als körperliche Wesen vor: kleine schwarze Wolken, die aus unserer Brust quellen und wie Smog in der Luft hängen. Ich frage mich, wie viele Male die Sippe dieses Ritual im Laufe der Jahre schon vollzogen hat. In diesem Augenblick erscheint mir die Nacht besonders dunkel.