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KENNA

Hilflos sehe ich Sky an. Mikki und Jack sind bereits in ihrem Zelt verschwunden. Es ist ein Zweimannzelt wie alle anderen, und ich passe auf keinen Fall noch mit hinein.

»Du könntest bei mir schlafen«, sagt sie. »Aber ich muss Victor im Auge behalten.«

Damit hat sie recht. Victor ist schon den ganzen Abend auf Streit aus.

Ich schaue mich nach den anderen um. Clemente ist draußen vor der Toilette und wäscht sich die Füße. Von Ryan fehlt jede Spur – entweder ist er bereits in seinem Zelt, oder er ist in den Wald gegangen und geht dort einer seiner mysteriösen Tätigkeiten nach.

»Am besten, du schläfst bei Clemente.« Sky sieht meinen Gesichtsausdruck. »Ach, komm schon. Du sollst bei ihm schlafen, nicht mit ihm vögeln. Obwohl du das wahrscheinlich auch könntest, wenn du wolltest.«

Ich werde krebsrot.

Sky lächelt. Sie genießt mein Unbehagen. »Er könnte einen guten Fick vertragen. Hatte seit einer ganzen Weile keine Freundin mehr.« Ihr Lächeln verfliegt. »Sie schauen zu uns rüber. Regle das schnell mit Clemente, ich will nämlich nicht mehr viel länger hier draußen rumstehen.«

»Was soll ich ihm denn sagen?«

»Hauptsache, du machst es unauffällig. Northy und Deano müssen glauben, dass ihr ein Paar seid.«

Ich gehe zu Clemente, ohne zu wissen, wie ich das Thema ihm gegenüber ansprechen soll. Mittlerweile ist er beim Zähneputzen. Ich sehe das Spiel seiner Brustmuskeln, während er den Arm bewegt.

»Kann ich bei dir schlafen?«, frage ich.

Clemente verschluckt sich fast. Er nimmt die Zahnbürste aus dem Mund.

Meine Wangen brennen. Ich hoffe, es ist so dunkel, dass er es nicht sieht.

»Die beiden campen hier, direkt neben meinem Zelt.« Ich deute in Northys Richtung. Ach du Scheiße, jetzt kommt er auf uns zu.

Eine große Hand schließt sich um meine. »Kommst du ins Bett?«

Clementes Ton ist beiläufig, als hätte er mir diese Frage schon hundertmal gestellt. Seine Handfläche fühlt sich warm und rau an. Im ersten Moment verschlägt es mir die Sprache.

»Dann gute Nacht.« Clemente nickt Northy zu und geht mit mir zu seinem Zelt, wobei er die ganze Zeit über meine Hand hält.

Er öffnet den Reißverschluss des Fliegennetzes. »Nach dir.«

Sein Zelt riecht nach Moschus, aber es ist nicht unangenehm. Clemente knipst eine kleine Taschenlampe an. »Ich habe nur einen Schlafsack.«

Während er ihn öffnet, strecke ich mich auf dem Rücken aus und schaue überallhin, nur nicht in seine Richtung. Er breitet den offenen Schlafsack über uns beide und legt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen neben mich. Draußen hört man Northy und Deano herumtrampeln. Ich zucke zusammen, als sie an unserem Zelt vorbeigehen.

»Achte gar nicht drauf«, wispert Clemente und schaltet die Taschenlampe aus, sodass wir in totaler Finsternis daliegen.

Northy und Deano trampeln noch ein bisschen mehr herum.

»Was machen die denn da?«, flüstere ich.

»Sich wie Besoffene benehmen.«

Die Geräusche werden leiser. Irgendwann höre ich nur noch die Laute der nachtaktiven Tiere. Nach Skys und Mikkis Warnung sollte ich mich vor Clemente vermutlich genauso sehr fürchten wie vor Northy und Deano – warum also tue ich es nicht? Ist es mein Instinkt, der mir sagt, dass ich ihm vertrauen kann, oder liegt es nur daran, dass ich ihn so unfassbar attraktiv finde? So oder so werde ich diese Nacht garantiert kein Auge zumachen. »Bist du müde?«, wispere ich.

»Nicht wirklich. Du?«

»Nein.« Es ist nicht zu warm. Ich rutsche näher an Clemente heran, bis unsere Schultern sich berühren, während ich überlege, was ich sagen könnte. »Lebt deine ganze Familie in Spanien?« Kaum dass mir diese Worte entschlüpft sind, verfluche ich mich innerlich, denn seine Frau war natürlich auch seine Familie, und er möchte sicher nicht an sie erinnert werden – genauso wenig wie ich.

»Meine Eltern. Mein Bruder lebt in England.«

»Ach was! Wo denn?«

»Bristol. Er hat eine Engländerin geheiratet.«

»Das liegt nur ein paar Stunden von mir entfernt. Kommen sie dich manchmal besuchen?«

»Es ist teuer, nach Australien zu fliegen. Sie sind nur zu meiner Hochzeit gekommen.«

Ich hole tief Luft, dann drehe ich in der Dunkelheit den Kopf zu ihm herum. »Wie lange warst du verheiratet?«

»Drei Jahre.«

Ich bin vorsichtig, weil ich weiß, dass er vielleicht nicht darüber sprechen möchte. »Mein Freund ist vor zwei Jahren gestorben. Es tut immer noch weh.«

»Ja?«

Ich spüre, dass er will, dass ich weiterrede, und ich will es auch. Er ist vielleicht der Einzige in der Sippe, der mich versteht.

Also erzähle ich ihm, dass meine Eltern ihr Bestes getan haben, um mir zu helfen, obwohl sie in Bezug auf Kasim von Anfang an skeptisch waren. Sie meinten, dass die kulturellen Unterschiede zwischen uns zu Problemen führen würden.

Sei gnädig mir dir selbst , sagte Dad.

Geh klettern , riet Mum. Sie ist dieses Jahr sechzig geworden und kann an der Kletterwand immer noch den Fuß bis über den Kopf heben. Klettern ist ihre Antwort auf alle Probleme des Lebens.

Ich weiß, sie meinte es nur gut, aber ich wollte nicht klettern oder surfen oder all die anderen Dinge machen, mit denen ich mich vorher beschäftigt hatte. Als sie mich endlich dazu überredet hatten, zu meiner Hausärztin zu gehen, ließ die mich einen Test machen.

Kein Interesse mehr an Aktivitäten, die sie früher gerne ausgeübt hat. Check.

»Offenbar ist das ein Hinweis auf eine Depression, also hat sie mich zu einer Therapeutin geschickt.«

»Hat es geholfen?« Clemente scheint ehrlich interessiert.

»Keine Ahnung. Ein bisschen schon, schätze ich.« Die Dunkelheit und die Enge des Zelts sorgen für eine seltsam vertrauliche Atmosphäre. »Es fühlt sich an wie eine schlimme Trennung, nur dass ich ihn nicht mitten in der Nacht betrunken anrufen und ihm was vorheulen kann, weil er nicht mehr da ist. Wir können uns nicht auseinanderleben oder uns darüber streiten, wer mehr im Haushalt macht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte meine Seele verloren.«

Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen – außer mit meiner Therapeutin.

»Ich habe alles verdrängt«, sagt Clemente.

»Wirklich? Wie?«

»Als Teenager habe ich geboxt. Man kriegt Schläge ins Gesicht, in die Rippen, überallhin. Ich habe mir antrainiert, sie zu ignorieren. Das muss man, sonst kann man nicht kämpfen.«

Sein Englisch ist wirklich gut. Er hat den Hauch eines australischen Akzents, aber das ist nachvollziehbar, schließlich war er mit einer Australierin verheiratet.

»Ich wünschte, ich könnte das«, sage ich.

»Nein, garantiert nicht.«

»Nur manchmal.«

»So funktioniert das nicht.« Seine Stimme klingt rau. »Man kann es nicht nach Belieben ein- und ausschalten.«

Er liegt still da und schweigt. Er ist mir so nah, dass ich die Wärme spüren kann, die sein Körper ausstrahlt. Ein Kloß formt sich in meiner Kehle. »Als Kasim gestorben ist, bin ich zerbrochen. Ich war zu nichts mehr in der Lage. Ich empfinde alles viel zu stark – das war immer schon so.«

Als Clemente nach einer ganzen Weile endlich antwortet, klingt er wieder so ruhig und kühl wie sonst. »Ich bin das genaue Gegenteil. Ich empfinde gar nichts mehr.«

Das glaube ich keine Sekunde lang. Nur weil er keine Emotionen zeigt, heißt das nicht, dass er keine hat. Aber ich habe nicht die Absicht, ihm zu widersprechen. Ich will ihn trösten, ihn an mich ziehen und ihm sagen, dass es okay ist, weil das vielleicht noch nie jemand getan hat. Aber es wäre, als würde ich einen Seeigel umarmen. Höchstwahrscheinlich würde ich gestochen.

»Warum bist du so ein Arschloch zu mir?«, frage ich stattdessen.

Er muss die Kränkung in meiner Stimme wahrgenommen haben. »Ich will dich einfach nicht mögen. Das ist nichts Persönliches.«

»Wie kann das nichts Persönliches sein?«

»Meine Frau ist tot.«

»Das verstehe ich. Mein Freund ist gestorben, ich kann das nachvollziehen, glaub mir.«

»Die nächste Frau, die ich gern mochte, ist einfach verschwunden. Und jetzt wird sie vermisst.«

Mir stockt der Atem. »Du warst mit Elke zusammen?«

»Ja.«

»Wie lange?«

»Sechs Monate.« Der Schlafsack raschelt; er hat sich weggedreht.

Steif wie ein Brett liege ich da. »Was glaubst du, ist mit ihr passiert?«

»Das wüsste ich auch gern.«

Draußen zirpen und summen die Insekten. Eine Ex-Freundin, die vermisst wird. Eine Ehefrau, die Selbstmord begangen hat. Für sich betrachtet, könnte ich diese beiden Vorkommnisse als schreckliche Tragödien abtun, aber in Kombination bekommen sie für mich eine ganz andere düstere Bedeutung.

»Komm schon«, sage ich. »Und jetzt soll ich allen Ernstes schlafen?«

»Was soll ich denn sagen?«

»Sind hier noch andere gestorben oder verschwunden?«

»Nein.«

Also nur seine Partnerinnen. Die Indizien sind ziemlich erdrückend.