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KENNA

Ich liege auf der Lichtung auf einer Matte und stelle mir vor, wie ich mit Kasim im eisigen Meer vor der Küste Cornwalls treibe. Ich fasse ihn bei den Schultern und drücke ihn unter Wasser. Er wehrt sich gegen meinen Griff. Kurz kämpfe ich gegen ihn an, doch er ist zu stark. Als er wieder auftaucht, ist es auf einmal nicht mehr Kasim, sondern Clemente.

Erschrocken setze ich mich auf und versuche, das Bild wegzublinzeln. Die anderen liegen schweigend auf ihren Matten. Dann erregt eine Bewegung meine Aufmerksamkeit: Eine Spinne krabbelt über den Boden auf meinen Zeh zu. Mit einem kleinen Aufschrei ziehe ich meinen Fuß weg. Sky bleibt regungslos liegen. Ich bin froh, dass sie nichts mitbekommen hat.

Ryan, der in der Nähe liegt, will wissen, weshalb ich so gequietscht habe.

»Da«, sage ich mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Eine Spinne.«

Ryan steht auf, um nachzusehen.

»Ich weiß nicht, was hier beißt oder sticht, das macht mich nervös.«

Er betrachtet das Tier. »Im Zweifelsfall geh davon aus, dass es gefährlich ist.«

Wie immer habe ich keine Ahnung, ob er es ernst meint oder nicht. Urplötzlich macht er einen Schritt nach vorn und zerquetscht die Spinne mit der Ferse seines nackten Fußes. Mir wird übel, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ryan wischt sich die Ferse am Boden ab, dann geht er zum Grill und holt sich etwas zu essen.

Ich folge ihm. »Danke dafür.«

»Kein Thema.«

Seine sandblonden Haare sehen noch ungepflegter aus als sonst – er braucht dringend einen Haarschnitt. Ich muss die Mitglieder der Sippe dazu bringen, mehr über ihre Familien zu erzählen. Ich muss diese kleine Blase, in der sie sich häuslich eingerichtet haben, zum Platzen bringen und sie an das Leben außerhalb der Bucht erinnern.

»Darf ich dich was fragen? Fehlt dir deine Familie?«

Ryans Blick zuckt in meine Richtung.

»Gehe ich dir damit auf die Nerven? Wenn ja, dann sag mir einfach, ich soll die Klappe halten. Mein Freund hat mir früher oft gesagt, dass ich zu viel rede.«

Das entlockt ihm ein Lächeln. »Meine Frau hat mir immer gesagt, ich rede nicht genug.«

»Deine Frau?« Ich versuche, mein Erstaunen zu verbergen.

Errötend wendet er sich ab.

Zwei Loris schreiten, einer hinter dem anderen, wackelnd über die Lichtung und hüpfen auf einen nahe gelegenen Baum.

Ryan sieht, wie ich sie beobachte. »Angeblich bleiben sie ein Leben lang zusammen«, sagt er. »Wenn einer stirbt, trauert der andere tagelang.«

»Das wusste ich nicht.« Die beiden Vögel sitzen eng aneinandergeschmiegt, sodass ihre Schnäbel und ihr Brustgefieder sich berühren, auf einem Zweig über unseren Köpfen. Ich habe schon oft Pärchen zusammen fliegen oder kopfüber an einem Ast hängen sehen.

Ryan zieht an seinem Bart. »Wenn Vögel das hinkriegen – sich einen Partner zu wählen und in guten wie in schlechten Tagen bei ihm zu bleiben –, warum können wir es dann nicht? Wir machen unser Leben so verdammt kompliziert.«

In seinen Augen spiegelt sich seine innere Zerrissenheit.

»Ich schätze mal, du wärst nicht weggegangen, wenn es nicht nötig gewesen wäre«, sage ich.

»Es hätte andere Optionen gegeben. Zu gehen, war einfach das geringste Übel.«

Er verrät mir nicht, was diese anderen Optionen gewesen wären, aber das muss er auch gar nicht. Als ich an meinem absoluten Tiefpunkt war, hatte ich ähnliche Gedanken.

»Denkst du nie daran, zurückzugehen?«, frage ich.

»Es war einfach alles zu viel. Die Arbeit, die Hypothek, die Rechnungen. Ich konnte nicht mehr atmen.« Wieder zupft er an seinem Bart. Ich wünschte, er würde das nicht machen. Das muss doch wehtun. »Als ich hierherkam, habe ich nicht an die Zukunft gedacht. Ich wollte einfach nur so weit weg wie möglich. Wahrscheinlich habe ich geglaubt, ich würde irgendwann nach Hause zurückkehren, aber in dem Moment konnte ich den Gedanken daran einfach nicht ertragen, und je länger ich blieb, desto schlechter ging es mir. Wie soll ich jetzt noch zurück?«

»Ich habe jemanden verloren, den ich sehr geliebt habe, und ich würde alles tun, um ihn wiederzubekommen. Aber das wird nicht passieren. Deine Frau hält dich wahrscheinlich für tot, und gleichzeitig hofft sie verzweifelt, dass es nicht so ist. Wenn du ihr erklären würdest, weshalb du gegangen bist, würde sie es bestimmt verstehen.«

Ich frage mich, wie Ryan finanziell über die Runden kommt. Wie viel Geld hat er mitgebracht? Vermutlich hat er keinen Zugriff mehr auf sein Konto in den USA , damit man ihn nicht aufspüren kann.

Die Visualisierungsübung ist zu Ende, und Clemente macht Klimmzüge im Zeitlupentempo. Zentimeter für Zentimeter zieht er sich hoch, bis sein Kinn sich oberhalb der Stange befindet. Klimmzüge bei normaler Geschwindigkeit sind schon schwer genug. Langsame Klimmzüge sind noch ungleich schwieriger. Sein Kiefer spannt sich an. Es ist das einzig sichtbare Zeichen der Schmerzen, die er dabei aushalten muss.

Noch einmal wende ich mich an Ryan. »Sky hat gesagt, alle hier arbeiten an ihren Ängsten. Wovor hat sie denn Angst?«

»Vor gar nichts. Sie meint, sie hat all ihre Ängste aufgearbeitet und ausgemerzt.«

»Ja, das hat sie mir auch gesagt. Aber irgendwas muss es doch geben. Selbst wenn sie sich vor nichts fürchtet, muss sie sich doch wenigstens um die Sicherheit der Menschen sorgen, die sie liebt. Victor vielleicht?«

»Aber liebt sie ihn denn?«, fragt Ryan.

»Guter Einwand.« Er hält sich oft abseits von den anderen, bekommt aber so einiges mit. »Und wieso diese verrückten Herausforderungen?«

»Wenn es keine Wellen gibt, werde ich unruhig – so geht es uns allen. Man fängt an, sich unangenehme Fragen zu stellen. Warum bin ich hier? Besser, man lenkt sich irgendwie ab. Und in jedem Fall hält es uns fit.«

Ryan mag klug sein, aber ich spüre mehr denn je, wie unglücklich er ist. Ich räuspere mich. »Wovor hast du denn Angst?«

Ryan sucht meinen Blick, als würde er die Vertraulichkeit der Frage erkennen. Er zeigt mir sein linkes Handgelenk. Dort befindet sich ein kleines Tattoo, das mir bisher gar nicht aufgefallen ist.

Ich betrachte es. »Ist das eine Spinne?«

»Ja. Victor hat es gestochen.«

Ich bin gerührt, weil er für mich die Spinne zertreten hat.

»Und …« Ryan hält sein anderes Handgelenk hoch. Dort prangt, verblichen und schief wie die Spinne, der Buchstabe A.

»Ava«, sagt Ryan. »Meine Tochter. Ich habe Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.«

Ich starre ihn an. »Wie alt ist sie?«

»Sie war ein Jahr alt, als ich gegangen bin. Jetzt muss sie drei sein.«

Wie konnte er sie verlassen? Wissen die anderen, dass er Frau und Kind hat? »Pass auf, ich habe ernst gemeint, was ich gesagt habe. Wenn du zurückkehrst, wird sich deine Familie freuen, dich zu sehen, das weiß ich.« Ja, dass er die Bucht verlässt, ist Teil meines Plans, um die Sippe zu schwächen, aber ich sage es auch um seinetwillen – und für seine kleine Tochter, die ohne ihn aufwächst.

Ryan wendet den Blick ab.

»Dann habt ihr also alle Tattoos?«

»Nicht alle. Nur wenn wir wollen.«

»Aha.« Ich habe Victors, Jacks und Mikkis Tattoos gesehen, aber keine bei Clemente oder Sky. »Darf ich dich noch was fragen?«

»Was denn?«

Das ist wahrscheinlich keine gute Idee, denn Ryan wirkt wieder einmal wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Was hast du an dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, im Wald gemacht?«

»Was meinst du?« Auf seinen Wangen blühen kleine rote Flecken. Er weiß genau, was ich meine.

»Du hast auf der Erde gelegen.«

Im ersten Moment denke ich, dass er mir keine Antwort geben wird. Seine Schultern zucken. »Klopfen.« Er presst die Lippen aufeinander. »Gegen meine Angstzustände. Das ist …«

Ich lächle erleichtert. »Ich weiß, was das ist.«

Ryan wirkt überrascht.

»Nachdem mein Freund gestorben ist, bin ich zu einer Psychologin gegangen«, sage ich. »Das Leben kam mir so zerbrechlich vor. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass auch andere Menschen, die ich liebe, sterben würden. Meine Großmutter, meine Eltern, meine Freunde. Sogar meine Patienten. Gott, was die sich manchmal antun. Ich habe einen Rugbyspieler behandelt, einen Vater von zwei Kindern, der sich die Nackenwirbel gebrochen hatte. Er hat sich erholt und weitergespielt. Es war schrecklich, mir seine Familie ohne ihn vorzustellen. Ich lag nachts wach und habe mir Sorgen um sie gemacht. Und sobald ich eine Sorge aus meinem Kopf verbannt hatte, kam eine neue.«

»Das Gefühl kenne ich«, sagt Ryan.

»Es wurde so schlimm, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Irgendwann habe ich mir einen Termin geben lassen. Meine Therapeutin hat mir das Klopfen beigebracht, und wenn ich einen schlechten Tag habe, mache ich es manchmal immer noch.«

»Hilft es?«

»Ein bisschen. Bei dir?«

»Ja, normalerweise schon.« Ryan scheint mich jetzt mit anderen Augen zu sehen. Auch meine Sicht auf ihn hat sich verändert. Ich bin froh, dass es eine unverfängliche Erklärung für sein seltsames Verhalten am Tag meiner Ankunft gibt.

Er greift nach seiner Gitarre und wiegt sie wie ein Kind, schlägt jedoch keine Akkorde an, sondern spielt lediglich mit dem Gurt. »Ich will nicht, dass die anderen es sehen, deshalb ziehe ich mich zurück. Sie würden es eigenartig finden. Ich meine, sie finden mich ohnehin schon eigenartig, aber …«

»Ich verstehe schon. Ich habe früher manchmal zwischen Patienten geklopft, und ich habe immer darauf geachtet, vorher die Tür abzuschließen. Tut mir leid, dass ich dich dabei unterbrochen habe.«

»Kein Problem.«

Im Moment tut er mir wirklich von Herzen leid. Aber ich bin nicht seinetwegen hier, sondern wegen Mikki, und ich muss die Sippe sprengen. »Ich frage mich, ob Jack demnächst wieder jemanden mitbringt.«

Ryan versteift sich. »Was?«

»Du hast doch gesagt, er bringt manchmal Frauen mit.«

»Scheiße, hoffentlich nicht.« Er legt die Gitarre weg, nimmt seinen Speer und verschwindet zwischen den Bäumen.

Ich habe die richtigen Knöpfe bei ihm gedrückt. Es war ein Kinderspiel. Ich fühle mich schäbig, aber ich muss weitermachen und herausfinden, wie ich bei den anderen das Gleiche erreichen kann.