KENNA
Clemente hängt immer noch an der Klimmzugstange. Schweiß läuft ihm über die Wange, als er seinen Körper in die Höhe wuchtet. Als ich nach London gezogen bin, habe ich eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio abgeschlossen, weil ich wusste, dass ich ohne Sport zusammenbrechen würde. Es war eins dieser Studios voller Gewichte und grunzender Bodybuilder. Ich habe also schon Männer hart trainieren sehen. Aber Clemente spielt in einer ganz anderen Liga. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, trotzdem gibt er keinen Laut von sich. Seine Selbstdisziplin ist unglaublich. Wie schafft er das, nachdem er gestern stundenlang gesurft ist?
Vielleicht weil es kein Workout für ihn ist, sondern eine Bestrafung.
Ich bin erleichtert, als ich Jack und Mikki sehe, die mit Tüten beladen den Pfad entlangstapfen. So wie die anderen sie umlagern, könnte man denken, der Weihnachtsmann wäre gekommen.
»Cool, ihr habt Rucola mitgebracht«, sagt Sky.
»Und Erdbeeren.« Clemente nimmt eins der Schälchen.
»Habt ihr die Wettervorhersage gecheckt?«, will Victor wissen.
»Ja«, erwidert Jack. »Kann sein, dass der Zyklon in unsere Richtung kommt.«
»Scheiße«, sage ich.
Aber die anderen freuen sich.
»Er soll Ende der Woche hier ankommen«, fügt Jack hinzu. »Dann gibt es richtig große Wellen.«
»Keine Ahnung, weshalb du so grinst«, sagt Sky zu Victor. »Wenn die Wellen groß sind, kriegst du Schiss.«
Doch Victor scheint sie gar nicht zu hören.
»Ich habe ein paar Screenshots gemacht.« Jack zeigt Victor sein Handy. »Zehn Fuß, haben sie gesagt.«
Victor verkleinert das Bild auf dem Display mit Daumen und Zeigefinger, und ein seltsamer Ausdruck tritt in sein Gesicht, sehnsuchtsvoll und panisch zugleich.
Jack knufft Mikki in die Seite. »Wenn es wirklich so viel Regen gibt wie angesagt, werden vielleicht die Straßen überschwemmt sein. Wir müssen nächste Woche wegen der Hochzeit in Sydney sein.«
»Eventuell müssen wir sie verschieben«, sagt Mikki. »Wenn es hier gute Wellen gibt, will ich das auf keinen Fall verpassen.«
Sky lacht und gibt Mikki High Five. »So sieht’s aus!«
»Ich dachte schon, ich wäre schlimm, weil ich lieber surfen gegangen bin, anstatt zur Hochzeit meiner Cousine zu gehen«, sage ich. »Aber du willst deine eigene Hochzeit sausen lassen?«
Die Hochzeit zu verschieben, ist natürlich eine gute Sache, aber es löst das eigentliche Problem nicht, und die Tatsache, dass Mikki bereit ist, sie wegen guten Wellengangs zu verschieben, zeigt das Ausmaß ihrer Abhängigkeit. Ich war selbst mal süchtig nach dem Surfen und weiß, wie schwer es ist, davon loszukommen.
Mikki wirft unauffällig einen Blick über die Schulter und holt eine Schokoladentafel aus ihrer Tasche. »Die habe ich dir mitgebracht.«
»Jippie!« Ich reiße die Verpackung auf. Noch vor wenigen Tagen hätte ich die ganze Tafel auf einmal verschlungen. Jetzt zähle ich nach, in wie viele Stücke ich sie brechen muss. Mikki und ich essen jeweils ein Stück, den Rest wickle ich wieder in die Folie für die anderen.
Mikki wirkt bedrückt.
Ich berühre sie am Arm. »Du kriegst doch keine Zweifel wegen der Hochzeit, oder?«
»Nein, ich bin nur müde. Ich habe letzte Nacht schlecht geträumt.«
»Von Motten oder von großen Wellen?« In Cornwall hatte Mikki auch manchmal Albträume. Mitunter waren sie so schlimm, dass sie im Schlaf schrie. Ich ging dann immer in ihr Zimmer und habe sie geweckt.
»Motten. Wie war es hier ohne mich?«
»Nicht schlecht. Ich hatte eine interessante Unterhaltung mit Ryan.«
»Ja?« Mikki wirkt überrascht. »Mir ist er manchmal ein bisschen unheimlich.«
Ryan ruft sie zu sich. Mikki überquert die Lichtung, sieht sich um und übergibt Ryan etwas. Bargeld. Ein ganzes Bündel. Er stopft es in seine Tasche. Ich gehe zu ihnen. Als ihr klar wird, dass ich die Übergabe beobachtet habe, blickt Mikki schuldbewusst auf. »Ich hatte noch Schulden bei ihm.«
Vielleicht hat er ihr seine Bankkarte gegeben, und sie hat Geld für ihn abgehoben. Aber wenn er offiziell als vermisst gilt, kann er doch sicher keine funktionierende Karte mehr haben. Warum also sollte Mikki ihm Geld schulden?
Ryan schlägt nach einem Moskito und greift nach dem Mückenschutzspray. Er schüttelt die Dose. »Wir haben fast keins mehr. Habt ihr neues gekauft?«
»Sorry«, sagt Mikki.
»Verdammt noch mal, warum nicht? Ich kann ja schlecht losziehen und mir selbst welches besorgen. Ich habe es auf die Liste gesetzt.«
Mikki zuckt vor seiner Wut zurück.
Jack kommt dazu. »Kein Stress, Kumpel. Wir besorgen beim nächsten Mal welches.«
»Ja. Und in der Zwischenzeit werde ich totgebissen.« Ryan schleudert die Spraydose gegen einen Baum.
Der Aufprall ist erschreckend laut. Eine Fledermaus fliegt auf und flattert davon.
Jack dreht sich fragend zu den anderen um. »Was ist sein Problem?«
»Moskitos!«, sagt Victor.
Die beiden Männer lachen schallend. Jack bricht am Boden zusammen. Sein Lachen klingt hell und mädchenhaft. Ich kneife die Lippen aufeinander, bis ich sehe, wie Mikkis Schultern beben, dann kann auch ich nicht mehr an mich halten.
Der normalerweise blasse Ryan läuft rot an, und einen Moment lang fürchte ich, er wird jemandem seine Faust ins Gesicht dreschen.
»Ach, fickt euch doch alle!«, brüllt er und stürmt davon.
Ich widme mich wieder dem eigentlichen Problem. »Du gibst Jack Geld und Ryan auch?«
Mikkis Lachen verstummt. »Ich habe mir letzten Monat was von ihm geliehen.«
Ich betrachte sie forschend. Was verheimlicht sie mir? »Wie viel hast du noch?«
»Das ist meine Angelegenheit.« Sie geht zum Grill. Ich sehe, wie sie mit Sky lacht und scherzt, während sie das Essen wegpacken. Mikki mag wie ein ganz normales Mitglied der Sippe wirken – aber was, wenn sie das nicht ist? Was, wenn die anderen sie nur ausnutzen? Wenn sie ihren Müßiggang finanziert, wird ihr Erbe nicht lange reichen. Und wenn sie sie ausgeblutet haben, was dann? Ich muss sie hier rausholen, bevor es dazu kommt.