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KENNA

Weil ich Jack alleine stehen sehe, hole ich die bereits halb geschmolzene Schokoladentafel aus meiner Tasche. »Magst du ein Stück?«

Jack grinst. »O ja!«

Es ist lächerlich, aber ich komme mir vor wie ein Drogendealer. Apropos … »Sky hat mir das mit den Schlaftabletten erklärt. Sie meinte, du hättest es nur ein einziges Mal gemacht.«

»Ja.« Jack zeigt seine perfekten Zähne. »Es war wirklich keine große Sache.«

Seiner Miene nach ist er nach wie vor dieser Meinung.

»Also.« Er wackelt mit den Augenbrauen. »Du hast letzte Nacht bei Clemente geschlafen.«

Er hat die unheimliche Fähigkeit, mich in Verlegenheit zu bringen. »Ja. Aber nicht mit Clemente.«

Jack wird ernst. »Er hatte ziemliches Pech mit Frauen.«

Ich nutze die Gelegenheit, ihm einige Informationen zu entlocken. »Er hat mir von Elke erzählt.«

Jack schaut zu Clemente. »Ja, er mochte sie richtig gern. Der Arme.«

»Wie war sie so?«

»Sie hatte keinen Filter. Ich habe sie echt geliebt.«

Sie geliebt. Ich erinnere mich an das, was Sky übers Teilen gesagt hat, und mir drängt sich eine Frage auf. Hat Jack Elke auch geteilt? Wenn ja, wie mag es Clemente damit gegangen sein? »Haben sie sich je gestritten?«

»Komisch, dass du das fragst«, sagt Jack. »Am Tag bevor sie verschwunden ist, hatten sie sich in den Haaren.«

»Weswegen?«

»Keine Ahnung. Sie hat damit gedroht, zurück nach Deutschland zu fliegen. Aber sie haben sich wieder vertragen.«

Meine Kehle wird trocken. Niemand verlässt diesen Ort. Das waren Skys Worte. Hat einer der anderen ihre Drohung zufällig gehört und die Sache in die eigene Hand genommen?

»Kamen Elke und Sky denn gut miteinander aus?«

»Meistens schon«, sagt Jack.

Nach allem, was ich bisher beobachtet habe, würde es Sky gar nicht gefallen, wenn sich jemand in den Mittelpunkt spielt – erst recht nicht, wenn es eine andere Frau ist.

Sky und Mikki stehen am Grill und sind ins Gespräch vertieft, während sie Gemüse schneiden.

Ich gehe zu ihnen. »Was macht ihr?«

»Japanischen Eintopf«, sagt Mikki und wendet sich wieder an Sky. »Wie läuft’s mit Victor?«

Sky sieht mich an, als wäre sie nicht ganz sicher, ob ich diese Unterhaltung mithören darf, dann deutet sie dorthin, wo Victor und Clemente an den Battle Ropes arbeiten. »Schau ihn dir an. Er sieht so stark aus, aber das ist er nicht.«

Mikki lächelt mitfühlend.

»Manchmal bin ich es leid, dass er sich immer so auf mich stützt«, sagt Sky. »Ich wünschte, ich hätte jemanden, auf den ich mich stützen kann. Dumm, denn selbst wenn ich jemanden hätte, würde ich es wahrscheinlich nicht tun.«

»Mit Jack ist es dasselbe«, sagt Mikki. »Manchmal wünschte ich, wir hätten uns vor seinem Unfall kennengelernt.«

Ich staune, dass Mikki so offen ist. Mit mir hat sie nie über solche Sachen geredet.

Mikki runzelt konzentriert die Stirn, während sie Karotten zu kleinen Stiften schneidet. »Aber wahrscheinlich hat er davor nur Models gedatet. Mich hätte er keines Blickes gewürdigt.«

Es macht mich traurig, dass sie ein so geringes Selbstwertgefühl hat. Ich lege den Arm um sie. »Wie meinst du das? Du siehst atemberaubend aus.«

»Absolut«, bekräftigt Sky.

Mikki verzieht das Gesicht.

Sky knufft mich in die Seite. »Und Kenna steht auf Clemente.«

Ich lache, um meine Verlegenheit zu überspielen. Mikki blickt mit besorgter Miene von ihren Karotten auf, und mir fällt ihre Warnung wieder ein.

»Aber sei vorsichtig mit ihm, Süße«, sagt Sky. »Ich habe eine Zeit lang auf dem Bau gearbeitet …«

»Ach ja?«, sagt Mikki. »Cool.«

»Ja, ich war mit einer Frau zusammen, die Projektleiterin auf einer Baustelle war. Sie hat mir erzählt, dass hohe Gebäude manchmal Risse im Fundament haben, die man nicht sieht. Niemand ahnt, dass sie existieren, bis eines Tages alles in sich zusammenstürzt.« Sky wirft einen vielsagenden Blick in Clementes Richtung.

»Du meinst, er hat einen Riss?«, frage ich.

»Mehr als einen. Ich staune, dass er nicht schon vor langer Zeit zusammengebrochen ist.«

Ich studiere ihr Gesicht und frage mich, ob sie das wirklich denkt oder ob sie es nur gesagt hat, weil ich ihr gegenüber behauptet habe, er wolle Anführer der Gruppe werden. »Du willst mir also sagen, dass alle Männer in der Sippe einen Knacks haben.« Die Bemerkung ist als Scherz gemeint – mehr oder weniger.

Trotzdem nickt Sky. »Wir alle. Jeder Einzelne von uns.«

Es ist ein seltenes Eingeständnis von Schwäche aus dem Mund einer Frau, die bisher immer großen Wert darauf gelegt hat, stark zu erscheinen.

Sky scheint sich einen Ruck zu geben. »Aber wir sind auf dem Weg der Heilung. Das ist das Wichtigste.«

Am Abend setzt sie sich neben mich ans Feuer und beugt sich nach vorn, um mit der Hand durch die Flammen zu streichen. Sie trägt ein locker sitzendes violettes Tanktop, ausgeblichen von der Sonne, und darunter keinen BH , sodass man ihre nackte Brust sehen kann, wann immer sie den Arm bewegt. Aber niemand stört sich daran.

»Schaut euch nur an«, sagt sie. »Ihr sitzt hier rum und langweilt euch zu Tode. Zeit für ein neues Felsenrennen.«

»Auf keinen Fall«, sagt Clemente.

»Ich bin zu müde, Schatz«, sagt Victor. »Lass uns lieber ins Bett gehen.«

»Noch nicht«, faucht Sky.

Heute Abend wirkt sie besonders rastlos. Clemente hockt vor ihr auf der Erde. Sie streckt den Arm aus und fährt mit den Fingern durch sein Haar. »Deine Haare fühlen sich so gut an.«

Ich registriere Victors Miene. Sein Kopf ist kahl rasiert. Sky kämmt Clemente durchs Haar, sodass seine dunklen Strähnen in alle Richtungen vom Kopf abstehen. »Wie dicht sie sind. Kenna, fühl du auch mal.«

Ich werfe ihr einen Blick zu, doch mir fällt keine angemessene Ausrede ein, also beuge ich mich vor und fahre ebenfalls mit den Fingern durch Clementes Haare. Dies ist definitiv eine subtile Machtdemonstration von Sky. Es geht darum, Clemente, der angeblich die Sippe anführen will, in seine Schranken zu weisen.

Victor gähnt.

»Wieso bist du müde, Alter?«, fragt Jack. »Lässt sie dich nicht schlafen?«

»Nein.« Victor presst die Lippen aufeinander.

»Ich bin auch erledigt«, sagt Jack. »Manchmal träume ich schlecht.«

Victor beäugt ihn argwöhnisch. »Wovon?«

»Von der Welle, die mir das Rückgrat gebrochen hat.«

Victor lauscht fasziniert, während Jack seinen Traum schildert. »Danach schlafe ich nie wieder ein, weil ich Angst habe, ich könnte das Gleiche noch mal träumen«, sagt er. »Nächstes Mal wache ich vielleicht nicht wieder auf. Vielleicht sterbe ich in meinem Traum und bin dann auch in echt tot.«

Sky beugt sich zu Mikki und flüstert ihr etwas ins Ohr. Mikki nickt.

»Armes Baby«, sagt Sky zu Jack. »Soll ich dich heute Nacht vor den bösen Wellen beschützen?«

»Geh nur«, sagt Mikki zu ihm.

Was? Ich kriege den Mund nicht mehr zu. Das ist doch völlig krank.

Jack sitzt da und macht ein Gesicht, als wären all seine Geburtstage auf einmal gekommen – bis ihm Victor einfällt, der sein Entsetzen nicht verbergen kann.

»Kann ich heute Nacht bei dir im Zelt schlafen, Kenna?«, fragt Mikki.

Es dauert einen Moment, ehe ich die Sprache wiedergefunden habe. »Okay.«

Sky zieht Jack auf die Füße. Ich sehe zu, wie die beiden zu Jacks und Mikkis Zelt gehen, und frage mich, wie ein Mensch so grausam sein kann.