KENNA
Es zerreißt mir fast das Herz vor Mitleid, als Mikki in meinem Zelt neben mir liegt. Wir können alles hören.
»Ich habe Ohrstöpsel«, sage ich, weil das so ziemlich das Einzige ist, was ich ihr anbieten kann.
»Ich habe es dir doch gesagt«, zischt sie. »Ich habe kein Problem damit.«
Ich sollte die Zeit nutzen, um weiter auf sie einzuwirken, aber die gedämpften Sexgeräusche von Jack und Sky lenken mich ab.
Als Mikki und ich am nächsten Morgen aufstehen, sitzt Sky neben Victor und isst Rührei, als wäre es ein ganz normaler Tag. Aber Victors Hand liegt nicht auf ihrem Bein, und die Atmosphäre ist angespannt. Unfassbarerweise legt Jack einen Arm um Mikki, als diese sich hinsetzt. In meinem Magen grummelt es.
Die anderen scheinen die Stimmung zu spüren, und wir essen schweigend.
Als Sky zum Wasserhahn geht, um ihre Schüssel abzuspülen, stelle ich sie zur Rede. »Wie konntest du?«
Sie versteht meinen Zorn nicht. »Wir teilen alles. So ist das bei uns.«
»Mikki passt nicht hierher. Sie ist weicher als ihr.«
»Das sehe ich anders. Sie wollte wissen, ob sie es schaffen kann. Sie arbeitet hart an sich, und ich bewundere sie dafür.«
»Sie muss nicht an sich arbeiten«, sage ich. »Sie ist gut so, wie sie ist.«
Skys Augen werden schmal. »Sie hat gesagt, du willst, dass sie uns verlässt. Vielleicht kommst du einfach nicht damit klar, dass sie jetzt viele Freunde hat.«
Das bringt mich völlig aus dem Konzept. Hat sie recht? Bin ich in Wahrheit diejenige mit dem Problem?
Clemente kommt den Pfad vom Strand hinuntergelaufen. »Es gibt Barrels!«
Alle werden sofort aktiv. Noch immer durcheinander nach dem, was Sky mir gesagt hat, reiße ich meine Shorts von der Wäscheleine. Mikki und ich hatten nie enge Freunde, deshalb ist es ungewohnt zu sehen, wie nah sie Sky und den anderen Mitgliedern der Sippe steht. Ich fühle mich manchmal außen vor, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich will, dass sie mit nach Hause kommt. Ich handle in ihrem besten Interesse.
Gedämpftes Männergeschrei sagt mir, dass irgendetwas nicht stimmt, als ich mich mit Sonnencreme einreibe. Victor und Jack wälzen sich am Boden. Victor schlägt auf Jacks Kopf ein; Jack hebt schützend die Arme. Victor boxt ihn in den Magen. Jack stöhnt und rollt sich zu einer Kugel zusammen. Clemente stürzt auf die beiden zu und ruft etwas auf Spanisch. Er packt Victor und stößt ihn gegen einen Baumstamm, sodass Stückchen grauer Rinde zu Boden rieseln. Man würde erwarten, dass Sky eingreift, weil die beiden ganz offensichtlich ihretwegen kämpfen, doch sie steht einfach nur daneben und schaut dem Geschehen fasziniert zu.
Jack gesellt sich zu mir, als wir an den Strand gehen.
»Alles klar mit deinem Rücken?«, frage ich ihn.
»Ja«, sagt er. »Aber Victor will mich umbringen.«
»Ich hoffe, das war es wert.«
Er sieht mich von der Seite an. »Willst du mich fragen, wie es war?«
»Vielleicht.«
»Es war heiß.« Der Wind zerzaust sein blondes Haar und drückt es gegen seine Stirn. »Aber intensiv. Mein Rücken schafft das nicht regelmäßig.«
Zu viele Informationen. Ich bin stinksauer auf ihn, weil er Mikki so etwas antut, aber ein Teil von mir muss zugeben, dass sie eingewilligt hat.
»Ich wusste nicht, dass Victor so krass reagieren würde«, sagt er.
»Hat Sky mit einem der anderen geschlafen?«, frage ich.
»Nur mit Clemente.«
Irgendwie zwinge ich meine Beine, weiterzugehen.
»Entspann dich«, sagt Jack. »Es war nur einmal.«
»Hatte Victor denn nichts dagegen?«, frage ich matt.
Jack grinst. »Doch, schon, aber er ist drüber hinweggekommen. Sie hat es ein paarmal bei Ryan versucht, aber der wollte nicht. Der Arme hat sich wahrscheinlich vor Angst in die Hose geschissen.«
Der Himmel ist kobaltblau, die Sonne hell und intensiv. Sky und Clemente unterhalten sich, während sie Dehnübungen machen. Die Vorstellung, dass die beiden miteinander geschlafen haben, ist mir unangenehm. So albern das auch klingen mag, ich fühle mich betrogen.
Als ich hinauspaddle, tauche ich das Gesicht ins Meer und versuche, meinen Kopf von all dem Drama reinzuwaschen. Das Wasser ist klarer denn je, ich kann sogar den Sand am Meeresgrund in mehreren Metern Tiefe sehen. Unter mir schwimmt silbrig schimmernd ein Schwarm Fische vorbei. Als ich hochkomme und mich umschaue, sehe ich, wie sich scheinbar der gesamte Ozean auf mich zuwälzt.
»Paddeln!«, ruft Sky.
Das Wasser funkelt. Mein Brett neigt sich nach vorn, und mir ist, als würde ich auf einer aufwärts führenden Rolltreppe abwärts laufen. Das Meer rauscht auf mich zu, ehe es glatt und spiegelnd grün unter meinem Brett hinweggleitet. Ich richte mich auf. Inzwischen habe ich so viel Geschwindigkeit aufgebaut, dass ich nicht weiß, wie ich wenden soll, aber gleich darauf übernimmt mein Instinkt die Führung. Als der Grund der Welle in Sicht kommt, beuge ich die Knie und vollführe den größten Bottom Turn, der mir je gelungen ist. Danach schießt mein Brett so schnell nach oben, dass ich fast abhebe. Erst im allerletzten Moment lenke ich es wieder nach unten. Die Welle wölbt sich über meinem Kopf, und die Zeit steht still.
Es scheint den Gesetzen der Physik zu widersprechen, dass man innerhalb eines Tunnels aus sich bewegendem Wasser auf einem Stück Holz oder Fiberglas balancieren kann, welches so klein ist, dass es einen nur über Wasser hält, solange man nicht stillsteht. Barrel, Tube, Green Room … Surfer haben viele Namen für diesen ganz besonderen Ort. Ich selbst habe noch nie eine richtige Barrel erlebt. Bis jetzt.
Als Teenager habe ich australische Surfmagazine mit ihren Hochglanzfotos des Meeres auf der anderen Seite der Weltkugel förmlich verschlungen. Einige Worte aus Australian Surfing Life sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben: »Der sicherste Ort in einer hohlen Welle ist die Barrel. Trau dich hinein, und sobald du einmal drin bist, bleib so lange dort, wie das verdammte Ding es dir erlaubt.«
Die Welle bildet ein Dach über mir, und ich traue mich. Mir bleibt auch gar keine andere Wahl, denn gleich darauf schließt sich der Tunnel und formt eine blau schimmernde Höhle um mich herum. Es ist, als befände ich mich in einer anderen Dimension, und ich wünschte, ich könnte für immer hierbleiben.
Viel zu schnell bricht die Welle in sich zusammen und zieht mich unter Wasser. Ich paddle an, um es noch einmal zu versuchen – und mache prompt einen unfreiwilligen und sehr schmerzhaften Abgang, bei dem mir das Brett gegen mein Schienbein knallt. Clemente kommt zu mir, und ich warte darauf, dass er sagt, ich soll aufhören, ehe ich mir noch etwas breche. Denn genau das hätte Kasim zu mir gesagt.
Stattdessen macht er eine Bewegung mit der Hand. »Fast hättest du es geschafft. Der Winkel muss größer sein.«
Zwei Stunden später bin ich noch einige Barrels gesurft und habe ein Dutzend blaue Flecke. Ich vibriere nur so vor Energie, als ich durch den Sand stapfe. In diesem Moment denke ich nicht an Mikki, an Jack, an Elke oder an irgendetwas anderes als meine Barrels.
Ich bleibe stehen, um meine Leash abzustreifen, sodass Clemente, der direkt hinter mir geht, mit mir zusammenstößt. Wir sind die Letzten, die das Wasser verlassen haben, und ganz allein am Strand.
»Entschuldigung«, sage ich.
Er fasst mich am Arm, damit ich nicht das Gleichgewicht verliere. Seine nackte, nasse Brust ist ganz nah an meiner, doch ich entziehe mich ihm nicht und er sich mir genauso wenig. Kleine Wassertropfen glitzern auf seiner gebräunten Haut. Die Sonne scheint ihm in die Augen und verwandelt sie in dasselbe Türkisblau wie das Meer. Er ist ein gut aussehender Mann, wie alle Männer in der Sippe, aber die anderen üben nicht dieselbe Anziehungskraft auf mich aus. Es ist, als wäre man in einer starken Strömung gefangen, es saugt einem den Boden unter den Füßen weg und zieht einen aufs offene Meer hinaus. Man kann dagegen ankämpfen, so viel man will, am Ende ist man machtlos.
Mikki und Sky trauen ihm nicht. Und ich sollte ihm auch nicht trauen.
Clemente macht einen Schritt zurück, und ich kann wieder atmen.
Ich beschließe, meine Chance zu nutzen. »Können wir reden?«
Seine Miene wird unsicher, doch er deutet in den Sand. »Wollen wir uns setzen?«
Wir legen unsere Bretter hin und lassen uns mit Blick aufs Wasser im Sand nieder.
»Pass auf«, sage ich. »Ich weiß, du hast gesagt, du willst niemandem näherkommen. Aber können wir wenigstens versuchen, freundschaftlich miteinander umzugehen?«
Sein Blick erforscht mein Gesicht. Ich weiß nicht, wonach er sucht oder ob er es findet, aber irgendwann nickt er widerstrebend, ehe er sich wieder der Brandung zuwendet.
Ich betrachte währenddessen sein Profil – seinen markanten Kiefer, die gerade Nase. In diesem Moment erinnert er mich an Kasim: stark und schweigsam, ein Mann, der Schwierigkeiten damit hat, seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Wie aus dem Nichts kommt mir ein Gedanke: Er würde Kasim gefallen . Das ist seltsam befreiend. Erst jetzt wird mir bewusst, welche Schuldgefühle ich hatte, weil ich ihn mag.
Doch etwas steht nach wie vor zwischen uns: Elke.
»Kann ich dich was fragen?«, sage ich. »Wie hältst du es überhaupt noch hier aus, nachdem deine Frau … und Elke …?«
Seine Finger graben sich in den Sand, und ich höre das quietschende Geräusch, als er eine Handvoll davon in die Faust nimmt. »Wo soll ich denn hin? Alle meine Freunde sind hier. Natürlich wollte ich weg wegen der Erinnerungen, aber die Sippe gibt mir Halt.«
Seine Ehrlichkeit überrascht mich. »Die Sitzungen mit Sky. Helfen die dir?«
»Sie meinte, ich könnte die Ereignisse entweder wieder und wieder visualisieren, bis ich sie irgendwann akzeptiert habe, oder ich verdränge sie. Ich habe mich für Letzteres entschieden.«
Ich habe keine Ahnung, wie eine Freundschaft zwischen uns funktionieren soll, wenn sein Blick all diese anderen Gefühle in meinem Bauch auslöst.
»Und? Gelingt dir das?«
Clemente starrt mit gequältem Blick aufs Meer. »Solange die Leute nicht andauernd Fragen stellen.«