CLEMENTE
An meinen Händen klebt Blut, das ich nie wieder abwaschen kann. Manchmal, wenn ich sie anschaue, sehe ich es wirklich, ein scharlachrotes Rinnsal, das über meine Finger tropft und meine Handgelenke hinunterläuft, so wie als ich Elke aus dem Wasser gezogen habe.
Eins, was ich an der Sippe von Anfang an mochte, ist, dass hier niemand unangenehme Fragen stellt. Wir alle haben unsere Probleme, und jeder geht auf seine Weise damit um. Jack und ich unterhalten uns manchmal, und hin und wieder habe ich auch mit Sky darüber geredet, aber immer ohne Druck. Und dann kommt Kenna und zerrt gnadenlos alle Erinnerungen an die Oberfläche.
Elke. Am Abend, als ich sie zum ersten Mal traf, saß ich mit Jack in irgendeiner runtergekommenen Backpacker-Kneipe in Bondi. Ich war erschöpft, nachdem wir frühmorgens in der Bucht gesurft und dann in die Stadt zurückgefahren waren, aber wenn man mit Jack unterwegs ist, gibt es keine ruhigen Abende, und so waren wir in dieser Bar gelandet, wo er nun mit mehreren anderen Gästen, größtenteils Frauen, auf der Bühne stand und an einem Wet-T-Shirt-Contest teilnahm. (So etwas gibt es nur in Australien.) Mir machte das nichts aus. Jack ist ein guter Kerl. Er hat oft starke Schmerzen, und wenn er über die Stränge schlägt, ist das in der Regel ein Versuch, sich davon abzulenken.
»Sprichst du Deutsch?«, fragte die Frau neben mir. Elke.
Aus dem Lautsprecher hinter uns dröhnte Musik, und die Leute am Nebentisch tranken ausgelassen Wodkashots, deshalb musste ich mich dicht zu ihr beugen, um mir Gehör zu verschaffen. »Nein. Sprichst du Spanisch?«
»Nein«, antwortete sie. »Also sprechen wir Englisch, okay?«
Seit dem Tod meiner Frau ein Jahr zuvor hatte ich nicht mehr gedatet – ich hatte nicht mal eine Frau angesehen. Aber sie roch so unfassbar gut, eine verlockende Mischung aus Sonnencreme und Shampoo, und im Nacken hatte sie eine sehr faszinierende Bräunungslinie von ihrem Bikini.
»Dein Akzent ist total sexy«, sagte sie.
Flirtete sie etwa mit mir?
»Ich habe noch nie einen Spanier geküsst. Ich frage mich, wie sich das anfühlt.« Sie lächelte. »Was denn? Du gefällst mir. Bin ich zu direkt?«
Ich riss mich am Riemen. »Nein. Aber spanische Frauen gehen ein bisschen zurückhaltender vor. Wenn sie jemanden mögen, zeigen sie es mit den Augen. Ungefähr so.«
Und auf einmal flirtete ich zurück.
»Kann ich dich jetzt küssen?«, fragte sie.
Ich lachte, und die grauenhafte Musik oder die nervigen Gäste störten mich nicht mehr. »Ja.«
Bei Elke war alles so einfach. Anders als bei meiner Frau, musste ich bei ihr nie rätseln, was sie dachte, weil sie es immer offen aussprach. Wenn ihr etwas nicht passte, konnte ich sicher sein, dass sie es mir sagen würde, und das Gleiche galt für alle anderen, mit denen sie aus irgendeinem Grund unzufrieden war. Es machte ihr das Leben nicht immer leichter, vor allem mit Sky und Victor geriet sie gelegentlich aneinander, aber ich wusste diese Ehrlichkeit zu schätzen.
Jeden Abend krochen wir zusammen in mein Zelt. Ich versank in ihrem Körper und vergaß die Welt da draußen. Wenn ich doch auch nur vergessen könnte, was danach geschah.
Ich betrachte meine Hand. Ich kann das Blut nicht sehen, aber ich fühle es. Als ich die Augen zukneife, sehe ich den leblosen Körper meiner Frau, wie er am Ast hin und her schaukelt. Ich balle die Fäuste. Das löst eine andere Erinnerung bei mir aus. Meine Hand, die wieder und wieder zuschlägt.
Alejandro war mein bester Freund, seit wir uns mit fünf beim Boxtraining kennengelernt hatten. Er hatte etwas Waghalsiges, das nach der Trennung seiner Eltern noch schlimmer wurde. Damals war er neunzehn. Er fing an zu trinken und Ärger zu machen. Wenn wir in einer Bar waren, suchte er sich den größten Kerl aus und fing Streit mit ihm an. Wieder und wieder musste ich ihm den Hals retten. Manchmal steckte auch ich dabei reichlich Schläge ein, und einmal musste ich sogar einen Typen bezahlen, damit er Alejandro nicht anzeigte.
Im selben Jahr erreichten wir beide das Finale der Regionalmeisterschaften. Es gefiel mir nicht, gegen meinen besten Freund antreten zu müssen, andererseits war es für mich nichts Neues – wir waren oft Sparringspartner.
Kurz vor unserem großen Kampf sprach er mich an. »Ich muss dir was sagen.«
Da war etwas in seiner Miene, das mich hätte vorwarnen sollen.
»Ich habe gestern Nacht mit Marta geschlafen.«
Marta war zu dem Zeitpunkt meine Freundin. Sie war das erste Mädchen, das ich je geliebt habe.
Ich blickte ihm in die Augen, um herauszufinden, ob er es ernst meinte. Irgendwie hoffte ich, dass er gleich lachen würde und mir sagte, er hätte bloß Spaß gemacht. Aber natürlich passiert das nicht.
Sie riefen uns in den Ring, bevor ich die Neuigkeit verdauen konnte. Marta stand in der Ecke. Sie hob die Hand und winkte. Ich erwiderte die Geste nicht. Wen wollte sie überhaupt anfeuern – mich oder Alejandro?
Durch das Summen in meinen Ohren hörte ich die Glocke. Mein Zorn übertrug sich auf meine Fäuste. Normalerweise ist es der Untergang für jeden Kämpfer, wenn er sich im Ring nicht im Griff hat, sondern von seinen Emotionen leiten lässt. Ich habe keine Ahnung, warum mir das nicht passierte. Möglicherweise dachte Alejandro, er lässt mich die ersten paar Schläge landen, weil er Strafe verdient hatte, oder vielleicht überrumpelte ich ihn auch einfach nur. Jedenfalls ging er zu Boden. Einen Sekundenbruchteil nachdem der Ringrichter angefangen hatte zu zählen, landete ich einen weiteren Punch, der ihm eine blutige Nase bescherte. Ich kann von Glück sagen, dass ich dafür nicht disqualifiziert wurde. Es war ein leichter Sieg. Ich erinnere mich noch an den metallischen Geruch von Blut, als wir uns hinterher die Hand gaben.
In der Umkleidekabine suchte ich meine Sachen zusammen und ging nach Hause. Ich fühlte mich bestätigt – bis ich am nächsten Morgen die Nachrichten hörte. Alejandro hatte ein Blutgerinnsel im Gehirn bekommen und war im Schlaf gestorben.
Es gibt keine Rechtfertigung für das, was ich getan habe. Ich habe die Beherrschung verloren, und Alejandro ist gestorben. Deswegen habe ich auch mit dem Boxen aufgehört. Es nährte diesen gefährlichen Drang in mir – den Drang, zuzuschlagen und nicht mehr aufzuhören.
Uns wird vorgegaukelt, dass der Sport uns stark macht, aber er kann einen Menschen auch zerstören – nicht nur den Körper, sondern das ganze Leben. Auf die Mitglieder der Sippe trifft das definitiv zu, bei jedem auf seine ganz eigene Weise.
Nach dem Vorfall gab ich auch das Medizinstudium auf, weil ich meinen Traum, Arzt zu werden, nicht mit der Tatsache vereinbaren konnte, dass ich Alejandro getötet hatte. Im darauffolgenden Jahr kehrte ich Spanien den Rücken.
Ich habe nicht vor, Kenna von Alejandro zu erzählen. Sie ist schon misstrauisch genug, und ich kann es ihr nicht verdenken. Der Tod meiner Frau und dann Elkes Verschwinden – ich kann mir lebhaft vorstellen, wie das auf sie wirken muss. Es ist, als laste ein Fluch auf mir.