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KENNA

Die Sippe vollzieht ihr übliches Ritual. Mit feindseligen Mienen und vor der Brust verschränkten Armen stehen sie wie eine Sportmannschaft im Kreis zusammen.

»Wer seid ihr?«, fragt Sky in scharfem Ton.

»Ich bin Tanith«, sagt die hübsche Rothaarige.

»Und ich bin Shannon.« Ihre Ehefrau hat dunkle Haare und einen Pixieschnitt.

»Wir sind wegen meinem Geldbeutel hier«, sagt Tanith und fixiert Jack.

Sky fährt wütend zu ihm herum. »Kennst du die beiden?«

Auch Ryan, Victor und Clemente starren ihn fassungslos an. Ich kann mir vorstellen, was sie denken: Jack hat es schon wieder getan.

»Wir haben sie auf dem Weg hierher an der Tankstelle getroffen«, schalte ich mich ein.

Erneut wendet sich Sky an die zwei Frauen. »Wie habt ihr von dieser Stelle gehört?«

Shannon deutet mit einer Kopfbewegung auf mich. »Sie hat uns davon erzählt.«

Plötzlich ruhen alle Blicke auf mir. Ich spüre den Zorn der Sippe. »Da wusste ich noch nicht, dass es ein Geheimnis ist.«

»Mein Geldbeutel«, wiederholt Tanith.

Alle fangen gleichzeitig an zu reden.

Sky geht auf Jack los. »Siehst du? So was passiert, wenn du wahllos irgendwelche Leute anschleppst!«

»Du blödes Arschgesicht!«, schimpft Ryan. »Wenn sie die Polizei holen …«

Tanith macht einen Schritt auf Jack zu. »Hast du ihn geklaut?«, fragt sie laut.

Die anderen verstummen. Ich denke daran, wie Jack bei ihr den »Moskito verscheuchen« wollte. Er hat chronische Schmerzen. Kann es sein, dass er so verzweifelt war, dass er jemandem das Portemonnaie geklaut hat, um Codein kaufen zu können?

Er hebt die Hände, um seine Unschuld zu beteuern, aber ich bin mir nicht sicher. Schließlich hat er auch schon mal eine arme, unschuldige Frau betäubt und scheint nicht zu begreifen, wie krank ein solches Verhalten ist.

Taniths Feindseligkeit legt sich ein wenig. »Wenn du es nicht warst, dann weiß ich wirklich nicht, was mit meinem Geldbeutel passiert sein könnte.«

Jack blickt ihr unverwandt in die Augen. »So was würde ich niemals tun.«

Auf einmal wirkt sie verunsichert, als hätte sie erwartet, dass Jack die Tat gesteht. »Wir sind auf dem Rückweg noch mal bei der Tankstelle vorbeigefahren, aber niemand hatte das Portemonnaie abgegeben. Dort hatte ich es zum letzten Mal, deshalb dachte ich …«

Jack nickt steif. »Ich verstehe schon. Aber, wie gesagt, so was würde ich nie machen.«

Tanith und Shannon wechseln einen Blick. Ich spüre, dass sie nicht hundertprozentig von seiner Unschuld überzeugt sind, aber was können sie schon tun? Ein unangenehmes Schweigen tritt ein.

Tanith macht eine ausladende Handbewegung. »Schöner Zeltplatz.«

Shannon lächelt breit. »Wie sind die Wellen?«

Niemand antwortet, und ich fühle mich schrecklich. Die beiden scheinen wirklich nett zu sein. »Bisher waren sie ziemlich gut«, sage ich.

Sky straft mich mit einem eisigen Blick.

Ich ignoriere sie. »Wo seid ihr denn am Ende hingefahren?«

»Wir sind bis rauf an die Sunshine Coast«, erzählt Shannon. »Dann haben wir gemerkt, dass ihr Portemonnaie weg ist, also mussten wir neue Bankkarten bestellen und warten, bis man sie uns geschickt hat. Das hat Ewigkeiten gedauert.« Sie wendet sich an Tanith. »Wir sollten das Zelt aus dem Jeep holen, bevor es zu spät wird.«

»Ihr könnt hier nicht zelten«, sagt Ryan.

»Warum nicht?«, fragt Shannon.

»Ihr müsst bei der Parkverwaltung einen Platz reservieren.«

Shannon zückt ihr Handy. »Hier gibt es kein Netz, wie sollen wir das machen?«

»Man muss es im Voraus tun«, sagt Sky.

Ich fühle mich sehr unbehaglich. Es ist ein öffentlicher Strand, der weder Sky noch Ryan noch sonstwem gehört.

»Wenn jemand von der Parkverwaltung kommt, bezahlen wir«, sagt Shannon. »Oder wir machen es nachträglich online.«

»Der Parkaufseher ist ein echtes Arschloch«, meint Sky.

Shannon verschränkt die Arme vor der Brust und sagt mit leiser, aber fester Stimme: »Wir sind sehr weit gefahren, und jetzt werden wir hier auch surfen.«

Sie gehen zu ihrem Auto und kehren wenig später mit ihrem Gepäck und einem Zelt zurück.

»Die werden nicht hier surfen«, knurrt Victor.

»Komm schon«, sagt Jack. »Es sind bloß zwei Weiber. Wo ist das Problem?«

»Machst du Witze?«, sagt Sky. »Wenn die Barrels morgen so sind wie heute, werden die sich, sobald sie hier weg sind, sofort ans Telefon hängen und all ihren Freunden erzählen, wie toll es hier war.«

»Und nächste Woche haben wir halb Kanada hier«, ergänzt Ryan.

Clemente nickt, sagt aber nichts.

»Also, was wollen wir machen?«, fragt Victor.

Die Frauen haben Schwierigkeiten, das Zelt aufzubauen, weil es schon so dunkel ist. Ich beschließe, zu ihnen zu gehen und ihnen zu helfen.

»Kenna, richtig?«, sagt Tanith. »Wie lange surfst du schon?«

»Seit fast zwanzig Jahren. Und ihr?«

Ich erzähle ihnen von Cornwall und meiner Physiotherapie-Praxis; sie berichten mir von Kanadas Surfszene. Während wir uns unterhalten, liegt die ganze Zeit eine bedrohliche Anspannung in der Luft. Als ich es irgendwann nicht länger aushalte, gehe ich zurück zu den anderen.

»Wir müssen die irgendwie loswerden«, sagt Ryan gerade.

»Keine Sorge«, erwidert Sky. »Das werden wir.«

Auf einmal drängt sich mir die Frage auf, wie sicher es hier für die beiden Frauen ist. Jack steht am Grill. Ein unangenehmes Kribbeln geht durch meinen Körper, als er zwei Becher nimmt und damit zu den beiden Kanadierinnen gehen will. Er würde doch nicht … Oder?

Aber ich kann das Risiko nicht eingehen.

Ich trete auf ihn zu, tue so, als würde ich stolpern, und stoße dabei mit ihm zusammen. Der Zusammenprall ist heftiger als beabsichtigt. Die Becher fliegen durch die Luft, und Jack geht zu Boden.

»Scheiße, was soll das?«, flucht er.

»O mein Gott, das tut mir so leid.«

Als er sich aufrappelt, ist sein Gesicht wutverzerrt. Ich tue so, als wäre ich untröstlich wegen der heruntergefallenen Becher. Am Boden des einen befindet sich ein Bodensatz, der nach heißer Schokolade riecht. »Ich koche neue.«

»Ich mach das schon«, sagt Jack.

»Nein, ich bestehe darauf.« Ich spüle die Becher aus und erhitze Milch, dann bringe ich die Getränke zu den beiden Frauen, die gerade ein improvisiertes Abendbrot aus Sandwiches und Chips essen. Wahrscheinlich bin ich bloß paranoid, trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich sie warnen sollte. Aber Sky und Jack lauern ganz in der Nähe, deshalb habe ich keine Gelegenheit dazu.