KENNA
Ein Summen weckt mich. Ein Insekt? Angestrengt spähe ich in die Dunkelheit, bereit, aus meinem Schlafsack zu springen. Erst dann wird mir klar, um was für ein Geräusch es sich handelt: Jemand öffnet den Reißverschluss eines Zelts. Doch gleich darauf höre ich nur noch das Rauschen der Wellen. War es nur Einbildung?
Dann das Knacken eines Zweiges, der unter einem Fuß zerbricht. Da draußen ist jemand. Weiter weg wird ein anderes Zelt geöffnet, dann hört man leise Stimmen. Sind das die Kanadierinnen?
Gedämpfte Geräusche, als würde etwas – oder jemand – über den Boden gezogen. Mit angehaltenem Atem taste ich nach dem Reißverschluss meines Zelts. So leise wie möglich ziehe ich ihn nach oben, doch jetzt höre ich nur noch die Fledermäuse.
Wahrscheinlich musste jemand aufs Klo. Doch gerade als ich langsam wieder eindämmern will, höre ich Schritte näher kommen. Jemand war weg und ist zurückgekehrt. Ich drehe mich um, sodass ich auf dem Bauch liege, und spähe durch die Öffnung unten am Zelt nach draußen. Erwartungsgemäß ist es stockfinster, allerdings höre ich, wie jemand zurück in sein Zelt kriecht und den Reißverschluss zumacht.
Ich weiß, wessen Zelt es ist.
Clementes.
Als ich das nächste Mal aufwache, ist es hell. Ich krieche ins Freie, und prompt krampft sich mein Magen zusammen. Die Stelle, an der die beiden Kanadierinnen ihr Zelt aufgebaut hatten, ist leer.
Clemente steht am Grill und brät Speck mit Eiern. Von den anderen fehlt jede Spur.
Ich marschiere zu ihm. Ich fühle mich schuldig, weil ich in der Nacht im Zelt geblieben bin, statt rauszugehen und nachzuschauen. »Wo sind sie?«
Clemente dreht sich zu mir um. »Weg.«
»Was hast du mit ihnen gemacht?«
Er blinzelt. »Was soll ich denn mit ihnen gemacht haben?«
»Keine Ahnung. Deswegen frage ich ja. Ich habe dich in der Nacht gehört.«
»Beschuldigst du mich etwa?«
Der Speck brennt an, ich kann es riechen. »Bist du absichtlich so ausweichend, oder hast du was zu verbergen?«
Seine Miene ist unergründlich. Warum muss er mich immer so in den Wahnsinn treiben?
Ein Reißverschluss sirrt, und Sky steckt den Kopf aus der Zeltöffnung. »Was ist los?«
»Nichts.« Seelenruhig verteilt Clemente den Speck auf mehrere Teller.
»Sind sie weg?« Sky deutet mit einem Nicken auf den leeren Zeltplatz.
Die Frage klingt aufrichtig – oder sie ist eine ausgezeichnete Lügnerin.
»Ja.« Clemente sieht mich vielsagend an. »Es hat ihnen hier nicht gefallen.«
Nun taucht auch Mikki aus ihrem Zelt auf. Ich sehe ihr an, dass sie einen Teil der Unterhaltung mitbekommen hat.
»Magst du Speck und Eier, Mikki?«, fragt Clemente.
»Ja, danke.« Mikki sieht mich auffordernd an.
Später , forme ich lautlos mit den Lippen.
Wir essen in beklommenem Schweigen.
»Worum ging es da gerade?«, fragt Mikki mich leise, während wir unsere Teller abspülen.
»Ich habe heute Nacht Clemente und die Kanadierinnen gehört. Ich habe Angst, dass er … irgendwas mit ihnen gemacht haben könnte.« Laut ausgesprochen, klingt es vollkommen lächerlich.
»Was denn?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat er ihnen ja gedroht.« Oder Schlimmeres.
»Lass uns einen Spaziergang machen«, schlägt Mikki vor. »Dann können wir nachschauen, ob ihr Jeep noch da ist.«
Clemente ist an den Strand gegangen, um nach den Wellen zu sehen. Sky macht Yoga, und die anderen schlafen noch, also entfernen Mikki und ich uns unbemerkt über den Pfad. Insekten summen im Licht des frühen Morgens. Sobald sie mir zu nahe kommen, fuchtle ich mit den Armen, um sie zu verscheuchen.
»Bestimmt ist alles in Ordnung«, sagt Mikki. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihnen was antun würde.«
»Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll. Sky scheint der Ansicht, beim Selbstmord von Clementes Frau sei irgendwas nicht mit rechten Dingen zugegangen.«
Mikki sieht mich von der Seite an. »Das hat sie mir gegenüber auch erwähnt.«
»Und dann Elke. Das ist ein ziemlich hartes Schicksal für einen einzigen Mann.«
»Ich weiß, was du meinst. Das ist mir auch durch den Kopf gegangen, als ich das Plakat gesehen habe. Ich mag ihn, aber er hat Probleme.«
»Glaubst du …« Ich schaue mich um und will den Satz nicht zu Ende bringen.
Auch Mikki blickt über ihre Schulter. »Das klingt jetzt vielleicht albern, aber er hat schuldige Augen.«
Aus dem Gebüsch vor uns dringt ein Rascheln. Ich schreie auf, als ein großer Vogel quer über den Pfad läuft. Er ist ein hässliches Tier, dick und schwarz mit rotem Kopf, gelber Halskrause und scharfen Krallen.
»Buschtruthahn«, sagt Mikki.
»Beißen die?«
»Nein.«
Ich recke die Faust in die Luft. »Endlich mal ein Tier, das nicht beißt.«
»Ach, komm. So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
»Ich gewöhne mich langsam daran. Letzte Nacht hatte ich einen Moskito in meinem Zelt, aber ich war so müde, dass ich mir einfach das Handtuch übers Gesicht gelegt und weitergeschlafen habe.«
Mikki hat kleine Tränensäcke unter den Augen.
»Du siehst erschöpft aus«, sage ich. »Wieder schlecht geträumt?«
»Ja.«
Ich glaube nicht, dass Skys Angsttherapie ihr guttut.
Als wir den Parkplatz erreichen, kehren meine Gedanken zu den beiden Kanadierinnen zurück. Ihr gelber Jeep steht nicht mehr da. Einerseits ist das ermutigend, andererseits waren die Frauen gestern Abend noch fest entschlossen, hier zu surfen. Wie ist es Clemente gelungen, sie umzustimmen?
Mikki versteift sich neben mir. »O mein Gott.«
Seitlich neben dem Pfad steht eine Gestalt. Sie verhält sich so still, dass sie mir gar nicht aufgefallen ist. Es ist Ryan mit seinem Holzspeer. Seine Arme und sein Gesicht sind mit Schlamm beschmiert.
Vorsichtshalber bleiben wir auf Abstand zu ihm.
»Was machst du da?«, frage ich.
»Wache halten«, sagt er. »Ich will nicht, dass uns noch mal jemand überrascht.«
»Hast du die Kanadierinnen gesehen?«
»Die sind weg.«
Bilde ich es mir ein, oder ist da ein Aufflackern von Wahnsinn in seinen Augen?
Und dann sehe ich es: einen roten Fleck auf einem Stein neben Jacks Auto. Mikki steht wie gelähmt neben mir, deshalb weiß ich, dass sie ihn auch bemerkt hat. Ich kann den Blick nicht davon losreißen. Ist es das, wonach es aussieht? Wir dürfen uns nichts anmerken lassen. Ich hake mich bei Mikki unter, und wir gehen mit raschen Schritten über den Pfad zurück.
Sobald wir außer Hörweite sind, drehe ich mich zu ihr um. »War das Blut?«
Sie runzelt die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass Clemente …«
»Aber Ryan vielleicht?«
»Nein! Ich kenne die Jungs. Es muss eine vernünftige Erklärung dafür geben.«
»Welche denn?«
»Vielleicht haben sie was verschüttet. Wein oder so.«
»Wie Wein sah das aber nicht aus.« Während mich die Tiere längst nicht mehr so sehr stören wie zu Beginn, werden mir die menschlichen Campbewohner immer unheimlicher. »Wir müssen hier weg, Mikki.«
»Beruhige dich.«
Als wir uns der Lichtung nähern, senke ich die Stimme. »Was sollen wir denn jetzt machen?«
Sie sieht mich genervt an. »Ich rede mit Jack. Benimm dich einfach ganz normal, okay?«
Die anderen sitzen mit trübsinnigen Mienen herum.
»Wie sind die Wellen?«, erkundigt sich Mikki.
»Flach«, sagt Clemente.
»Mist«, sagt sie. »Ich will unbedingt surfen. Wirklich nichts zu machen?«
Ich bin beeindruckt von Mikkis schauspielerischem Talent. Ich selbst kann jetzt nicht an Wellen denken. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, mich zu fragen, was es mit dem Blut auf sich hat – falls es denn Blut war.
»Glaub mir«, sagt Clemente. »Das Meer ist glatt wie ein See.«
»Ryan hält Wache«, sage ich.
»Mit einem Holzspeer«, fügt Mikki hinzu.
»Scheiße«, sagt Jack. »Der hat echt den Verstand verloren.«
»Er wirkt so, als stünde er ziemlich unter Druck, aber er ist doch harmlos, oder?«, frage ich.
Victor lacht. »Nicht mit einem Holzspeer in der Hand.«
Die anderen tun murmelnd ihre Zustimmung kund.
Sky und Victor gehen fischen, der Rest von uns trainiert entweder paarweise oder allein. Ich will noch einmal zurück zu den Fahrzeugen, um mir das Blut aus der Nähe anzusehen, allerdings habe ich keine Lust, noch mal Ryan über den Weg zu laufen. Mikki hat versprochen, mit Jack zu reden, aber sie ist damit beschäftigt, auf ihre Motte zu starren. Halbherzig mache ich ein paar Yogaübungen. Doch meine Gedanken wollen nicht zur Ruhe kommen.
Clemente spricht den ganzen Vormittag lang kein Wort mit mir. Sein Workout dauert zwei Stunden. Ihm zuzuschauen, ist beklemmend. Mikki hat recht, da ist eine Dunkelheit in seinen Augen und eine Schwerfälligkeit in seiner Körperhaltung, die eins von zwei Dingen bedeuten können: Trauer oder Schuldgefühle. Jeder, der Schmerzen so erfolgreich ausblenden kann wie er, kann sicherlich auch alles andere verdrängen.
Sogar sein eigenes Gewissen.