KENNA
Auf der anderen Seite der Lichtung boxen Clemente und Victor miteinander. Sie tragen einen Kopfschutz und Handschuhe, trotzdem finde ich den Anblick schwer erträglich. Leichtfüßig tänzeln sie umeinander herum. Die Kraft hinter einigen von Clementes Schlägen lässt mich unwillkürlich zusammenzucken, aber Victor schlägt genauso hart zurück.
Clemente ertappt mich dabei, wie ich ihn beobachte. Gleich darauf wendet er sich wieder Victor zu, auf den er eine Reihe von Schlägen niederhageln lässt – bang, bang, bang –, bis er ihn mit dem Rücken an einen Baumstamm gedrängt hat.
Schuldige Augen , hat Mikki gesagt. Aber was ist das Vergehen, dessen er sich schuldig gemacht hat?
»Immer mit der Ruhe, Bruder!«, ruft Victor.
Clemente nimmt den Kopfschutz ab und kommt schwer atmend zu mir. »Du willst wissen, was aus den Kanadierinnen geworden ist?« Seine Stimme ist leise und voller Wut. »Ich habe gehört, wie sie in der Nacht zusammengepackt haben. Sie hatten es sich anders überlegt mit dem Surfen, also habe ich ihnen geholfen, ihr Zeug zum Wagen zu tragen.«
»Wieso?«, frage ich.
Seine Haare sind nass vom Schweiß. »Weil sie nette Mädels waren und ich nicht wollte, dass ihnen was passiert.«
Diese Worte jagen ein seltsames Kribbeln durch meinen Körper.
»Jetzt zufrieden?«, sagt Clemente.
Die Worte sind mir entschlüpft, ehe ich mich eines Besseren besinnen kann. »Ich habe Blut gesehen.«
Clemente zuckt zurück, als hätte ich ihn geschlagen. »Die Kofferraumklappe ist Shannon auf den Kopf gefallen. Es hat ziemlich stark geblutet. Das ist bei Kopfverletzungen immer so.«
Mit diesen Worten geht er zurück zu seinem Boxkampf. Unsicher, ob ich ihm glauben soll, blicke ich ihm nach.
Die Blätter in den Bäumen rascheln und zittern, während wir zu Mittag essen. Sky hat Thunfischsalat gemacht, aber ich habe keinen Hunger. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich Tanith und Shannon gestern Abend nicht gewarnt habe. Ich dachte, ich wäre paranoid. Ich weiß immer noch nicht mit Sicherheit, ob sie wohlauf sind. Dafür habe ich nur Clementes Wort.
Clemente drückt sich ein Kühlkissen gegen die Rippen, Victor presst sich eins an die Wange. Ich kann nicht beurteilen, wer in dem Kampf den Kürzeren gezogen hat, aber wenigstens scheint Clemente einen Teil seiner Aggressionen losgeworden zu sein. Er unterhält sich leise mit Victor, während sie essen.
Aus dem Gebüsch ertönt ein spitzer Schrei, und ich lasse meine Gabel fallen. Erschrocken schaue ich mich um.
Victor lacht. »Das war bloß ein Vogel.«
»Wirklich?«
Ich sitze ganz still da und lausche angestrengt.
Das Geräusch kommt noch einmal, schrill und markerschütternd wie der Schrei einer Frau, die schreckliche Qualen leidet. Die anderen sind ganz offensichtlich daran gewöhnt, denn sie lassen sich nicht aus der Ruhe bringen.
Während wir den Abwasch erledigen, kommt Ryan mit seinem Speer den Pfad entlang. Jack marschiert auf ihn zu, das Gesicht starr vor Zorn, und packt ihn vorne am T-Shirt. »Warst du in meinem Zelt?«
»Was?«, stammelt Ryan. »Nein.«
Jack schüttelt ihn. »Sag mir die Wahrheit!«
»Hey!«, ruft Clemente. »Komm runter.«
»Er hat mein Codein geklaut«, sagt Jack. »Gib’s zu.«
Ryan macht sich von ihm los. Seine Finger schließen sich noch fester um den Schaft des Speers.
»Ja, also gut! Ich habe zwei genommen. Aber mehr nicht.«
»Scheiße, Mann!«, brüllt Jack. »Ich brauche die Tabletten!«
Ryan zuckt die Achseln. »Sorry.«
Jack versetzt ihm einen Fausthieb gegen das Brustbein. Der Schlag ist so brutal, dass es mir den Atem verschlägt. Sky hat recht, er hat wirklich einen Killerinstinkt. Ryan krümmt sich vornüber, hat sich jedoch relativ schnell wieder erholt und macht drohend einen Schritt auf Jack zu. Die Knöchel der Hand, in der er den Speer hält, treten weiß hervor, und ich sehe, dass auch er einen Killerinstinkt besitzt. Wahrscheinlich ist es bei Sky, Victor und Clemente nicht anders.
Clemente geht dazwischen. Die Loris machen jede Menge Lärm, deshalb kann ich nicht alles hören, aber die Männer brüllen sich gegenseitig an. Irgendwann zwingt Clemente sie dazu, einander die Hand zu geben. Jack zieht sich in sein Zelt zurück und Clemente stößt einen hörbaren Seufzer aus.
Ryan brummt halblaut vor sich hin und wirft einen Blick in den Kühlschrank. Ich zeige ihm den Salat. Der irre Blick von vorhin ist verschwunden, und wieder einmal frage ich mich, ob er womöglich bloß meiner Fantasie entsprungen ist. Jetzt sehe ich nur noch Erschöpfung.
»Geht es dir gut?«, frage ich ihn.
Ryan reibt sich mit einem leisen Stöhnen die Rippen. »Ja.«
»Hast du dir was gebrochen? Wenn du möchtest, kann ich mal nachschauen.«
»Nein. Danke.« Roboterhaft isst er den Salat.
Ich erinnere mich an seine gequälte Miene, als er mir von seiner Frau und seiner Tochter erzählte, und verspüre einen Stich des Mitleids. Aber ich muss den Druck aufrechterhalten. Vielleicht kann ich noch mehr über ihn in Erfahrung bringen. »Glaubst du, es werden noch mehr Leute herkommen, wenn sie den Wetterbericht sehen?«
Ryans Miene verdüstert sich. »Wehe.« Er sieht sich um, als rechne er damit, dass jeden Augenblick jemand aus dem Unterholz auftauchen könnte. Er springt auf, nimmt seinen Speer und verschwindet.
Hinter mir knistert ein Blatt, und als ich mich umdrehe, steht Sky dort.
»Warum hast du ihn das gefragt?«
Ich hebe die Hände. »Ich wusste nicht, dass er so reagieren würde.«
Sky beäugt mich abwägend. Keine Ahnung, ob sie mir das abkauft.
»Er ist völlig unberechenbar«, fahre ich fort. »Ich habe Angst, was er tun würde, wenn jetzt in diesem Moment Fremde vorbeikämen.«
Mit nachdenklich gerunzelter Stirn blickt sie Ryan nach.