KENNA
Die Stimmung ist gereizt, die Nerven liegen blank. Sechs frustrierte Menschen, die vor angestauter Energie fast platzen. Normalerweise reagieren wir uns im Wasser ab, aber nach einem Tag ohne Wellen spüre ich, wie es in der Luft über unseren Köpfen knistert.
»Zeit für eine Vertrauensübung!«, verkündet Sky.
Ist das ihr Ernst? Ich blicke mich um und warte darauf, dass jemand Einwände erhebt, aber niemand sagt etwas. »Ist das eine gute Idee?«
»Wieso?«, fragt Sky. »Vertraust du uns nicht, Kenna?«
»Ich meine nur …« Ihr Blick bringt mich zum Verstummen.
»Das ist genau das, was wir jetzt brauchen.« Ihr Lächeln wirkt wie ein schlechtes Omen. Was hat sie mit uns vor?
»Soll ich Ryan suchen?«, fragt Clemente.
»Nein«, sagt Sky. »Lass ihn.«
Ich schiele zu Mikki, die achselzuckend ihr Handtuch nimmt. Wir cremen uns ein und folgen Sky zum Strand. Der Wind heult vom Meer her und bläst Sand in alle Richtungen. Ich beschirme meine Augen und wünschte, ich hätte meine Sonnenbrille aufgesetzt.
Den Möwen scheint der Wind auch nicht zu gefallen. Sie watscheln wie kleine Kinder in den Schuhen ihrer Mutter vor uns her. Wenn ein Windstoß sie trifft, torkeln sie ein paar unbeholfene Schritte zurück und breiten die Flügel aus, um sich zu stabilisieren. Die stärksten Böen lassen sie vom Boden abheben. Dann schweben sie eine Weile in der Luft – mit einem finsteren Ausdruck in den kleinen spitzen Gesichtern –, bis der Wind sie wieder freigibt.
Jacks warme Finger schließen sich um meinen Arm, sodass ich zusammenzucke. »Achtung. Portugiesische Galeere!« Er zeigt auf einen leuchtend blauen Fleck im Sand ein Stück weiter vorn.
Ich bücke mich. »Was ist das?«
»Eine Qualle. Der Stich ist extrem schmerzhaft. Da ist noch eine. Schau dir den Stachel an. Bei Nordwind werden sie hier oft angeschwemmt.«
Ein dünner, etwa einen halben Meter langer blauer Faden liegt im Sand. »Wäre sie denn jetzt noch gefährlich?«
»Wenn du auf das Tentakel trittst, ja.«
An der Wasserlinie sehe ich weitere Quallen liegen. Die Möwen rennen umher und picken sie auf. Sobald wir uns nähern, zerstreuen sie sich, nur um ihr Festmahl fortzusetzen, sobald wir vorbeigegangen sind. Ich hoffe, sie übersehen keine.
Als ich die Felsen erreiche, sind meine Kopfhaut und Augenbrauen vom Sand verkrustet. Sky und Victor haben Rucksäcke dabei, die sie nun absetzen.
»Seht ihr noch welche von den Biestern?«, ruft Jack.
»Nein«, sagt Mikki. »Sind welche im Wasser?«
Wir spähen ins flache Wasser.
Victor deutet mit dem Finger. »Ich sehe eine.«
»Da ist noch eine«, ruft Mikki.
»Das macht die Übung noch intensiver«, sagt Sky.
Victor und Jack schütteln halb lachend den Kopf, aber ich bekomme es mit der Angst zu tun.
Jack knufft mich in die Seite. »Die bringen dich nicht um. Es brennt bloß ein bisschen.«
Einer der Rucksäcke enthält zehn weiße Steine. Sky weist uns an, sie dort im Wasser zu verteilen, wo wir gerade nicht mehr stehen können. Hier im Schutz der Felsen brechen sich die Wellen kaum. Ich halte nach Quallen Ausschau, während wir zwischen den Felsen hin und her waten.
Ich werfe Mikki einen vielsagenden Blick zu. »Wollen wir das ernsthaft durchziehen?«, frage ich leise.
Sie nickt mit angespannter Miene.
Jack nimmt Sky am Arm. »Qualle!«
Im ersten Moment glaube ich, Zorn in Victors Zügen wahrzunehmen, doch der Eindruck ist genauso schnell wieder vorbei.
Die Sonne brennt auf meinen Armen. Ihre Kraft überrascht mich. Meine arme Haut ist bereits von gestern gerötet, und die Strahlen scheinen sich direkt durch die gerade erst aufgetragene Schicht Sonnencreme durchzubrennen.
Den strahlend blauen Himmel zieren weiße Wolkenschlieren. Jack sieht, wie ich sie betrachte. »Federwolken.«
»Was bedeuten die?«, frage ich.
»Regen, und zwar viel.«
Sky unterbricht uns. »Bereit für die Bekanntgabe der Teams? Wir treten heute in Zweiergruppen an.«
Jack wirft einen unbehaglichen Blick in Victors Richtung. Das würde sie doch nicht wagen, oder? Victors rasierter Schädel glänzt in der Sonne, während die beiden Männer sich misstrauisch beäugen.
»Ich mit Victor, Mikki mit Jack, und Kenna mit Clemente«, verkündet Sky.
Clemente sieht mich schicksalergeben an. Es ist keine Überraschung, dass Sky uns zusammen in ein Team gesteckt hat. Wie jeder gute Trainer identifiziert sie unsere Schwachpunkte und geht sie gnadenlos an. Mein Schwachpunkt ist Clemente, und vielleicht bin ich auch seiner.
Doch gleich darauf folgt ein noch größerer Schock. Sky holt Tape aus ihrem Rucksack und klebt Victors und ihr Bein zusammen. Es wird ein Dreibein-Rennen mit einem beängstigenden Twist: Es soll unter Wasser stattfinden. Kann ich Clemente vertrauen? Hilfe suchend schaue ich zu Mikki, aber die ist mit dem Tape beschäftigt.
Sky ist mein Zögern nicht entgangen. »Wenn du in einer großen Welle einen Abgang machst, kannst du nicht nach Belieben wieder auftauchen. Manchmal hält das Gewicht einen unter Wasser fest. Das wollen wir hier nachahmen.«
Mir ist übel, so wie an dem Morgen, als Clemente mich in aller Frühe zum Strand mitgenommen und mir angeboten hat, mich unter Wasser zu drücken. Darauf wollte er mich also vorbereiten. Bisher hatte ich nur wenige unangenehme Holddowns. Beim schlimmsten habe ich Wasser eingeatmet und musste furchtbar husten, als ich wieder hochkam. Wenn man Meerwasser in die Lungen bekommt, kann das zu einer Infektion führen, deshalb bin ich danach ins Krankenhaus gefahren und habe mich durchchecken lassen, aber zum Glück war alles in Ordnung.
Clemente winkt mich zu sich. Angst brodelt in meinem Magen. Ich will nicht mitmachen, aber kann ich es mir leisten, gegen Sky aufzubegehren? Widerwillig stelle ich mein rechtes Bein neben sein linkes. Der Sand weht mir ins Gesicht und juckt an meinen Waden. Es ist ein heißer Tag, deshalb trage ich nur meinen Bikini und ein T-Shirt gegen die Sonne. Jetzt wünschte ich, ich hätte mehr angezogen.
Ein surreales Gefühl überkommt mich, als Clemente das Tape routiniert um unsere Knöchel wickelt. Es macht einen sehr reißfesten Eindruck. Ich ziehe an meinem Bein, um die Festigkeit zu testen.
Clemente macht noch mehrere Umwicklungen. »Es soll ja nicht aufgehen.«
Er betrachtet mein Gesicht, während er das Tape glatt streicht, aber ich habe keine Ahnung, woran er denkt – oder was er vorhat. Ich jedenfalls denke daran, wie hilflos ich da unten sein werde. Ich kann mich nur bewegen, wenn Clemente es zulässt. Wie schwer wird es sein, uns mit aneinandergefesselten Knöcheln über Wasser zu halten? Und das setzt voraus, dass er es auch will. Was, wenn nicht? Er ist größer und stärker und fühlt sich unter Wasser deutlich wohler als ich. Wenn er unten bleiben will, habe ich keine Möglichkeit, mich dagegen zu wehren. Es ist wirklich die ultimative Vertrauensübung.
»Das Team, das die meisten Steine sammelt, gewinnt«, erklärt Sky. »Wenn zwei Teams dieselbe Anzahl von Steinen haben, müssen sie am Ende darum kämpfen.«
Es ist wie eine der verrückten Challenges bei Survivor , nur dass die Produktion so etwas wie das hier wahrscheinlich niemals erlauben würde – es ist viel zu gefährlich.
»Lass uns üben«, sagt Clemente. »Wenn du spürst, dass ich das Bein hebe, hebst du deins auch.«
Meine Panik wächst, doch er zeigt keinerlei Emotion. Ungeschickt laufen wir einige Schritte.
»Wenn wir die Richtung wechseln wollen, zeigen wir das an.« Clemente deutet mit dem Finger nach links, woraufhin wir nach links gehen. Dann zeigt er nach rechts, und das Tape schneidet mir in die Haut, als er die Richtung ändert.
»Eins noch«, sagt Sky. »Die Männer bekommen Augenbinden.«
Clementes Kopf schnellt in die Höhe. »Nein.«
Ich erinnere mich an seine Angst vor dem Verlust der Sehkraft. Vielleicht ist dies Skys Rache, weil er angeblich der Anführer sein will.
»Wir können stattdessen auch gerne die Crunch-Challenge machen«, sagt Sky.
»Schon gut!«, knurrt Clemente. »Ich mach’s.«
Wieso? Ich habe gesehen, wie viele Klimmzüge dieser Mann machen kann. Crunches dürften für ihn doch kein Problem sein. Aber dann wird es mir klar: Er sorgt sich nicht um sich selbst, sondern um Jack. Der darf definitiv keine Crunches machen, wäre aber vermutlich zu stolz, um das zuzugeben.
Clemente murmelt etwas auf Spanisch, während die schwarzen Augenbinden verteilt werden. Ich helfe ihm dabei, seine zu befestigen. Mit dem Kopf deutet er in Victors Richtung. »Schau mal. Er kriegt Panik. Wir sollten es lieber bleiben lassen.«
Victor sieht wirklich ziemlich verängstigt aus.
»Willst du das machen?«, fragt Sky ihn.
»Natürlich«, sagt Victor.
»Passt auf!« Mikki zeigt auf etwas im Wasser – schon wieder eine Qualle. Gerade noch rechtzeitig ziehe ich das Bein weg, wobei ich um ein Haar Clemente aus dem Gleichgewicht bringe. Das Tier schwebt vorbei.
»Lasst uns abstimmen«, sagt Clemente.
Sky faucht genervt. »Ich stimme mit Ja.«
Victor und Mikki stimmen ebenfalls dafür, Clemente und Jack dagegen. Dann drehen sich alle zu mir um. Wenn ich die Wahrheit über Elke herausfinden will, muss ich in Skys innerem Kreis bleiben, und das geht nur, wenn ich sie und ihre Entscheidungen nicht hinterfrage.
Ein kleiner Muskel in Clementes Kiefer zuckt. Sky verteilt die Taucherbrillen. Ich setze meine auf und ziehe den Riemen fest.
»Vergiss, was ich über die Handzeichen gesagt habe«, sagt Clemente. »Du führst uns zu den Steinen. Wenn du einen findest, gib ihn mir, ich trage ihn dann.«
Während wir durchs flache Wasser waten, versuche ich, meine Gedanken zu beruhigen.
Mikki knufft mich in die Rippen. »Alles klar bei dir?«
Ich recke wortlos den Daumen in die Höhe, dann tauche ich mit dem Gesicht unter, um den Sitz meiner Brille zu testen. Die Sicht ist gut heute, zwischen all den dunklen Steinen sind die weißen leicht zu erkennen. Wir schwimmen die letzten paar Meter, bis wir uns direkt über ihnen befinden.
Die Männer ziehen ihre Augenbinden herunter. Ich versuche, mir vorzustellen, wie es sich für sie unter Wasser anfühlen muss. Praktisch orientierungslos und hilflos, müssen sie sich vollständig auf ihre Partner verlassen. Das Ganze ist so verdammt gefährlich.
Sky reckt den Arm in die Höhe. »Angst ist Treibstoff!«
»Panik ist der Tod!«, rufen wir im Chor.
Liegt es an mir, oder klingen die anderen genauso wenig begeistert, wie ich mich fühle?
»Bereit?« Clementes Hand tastet nach meiner Schulter.
»Ja.« Ich werde mein ungutes Gefühl nicht los.
»Los!«, ruft Sky.
Als wir untertauchen, ist es, als wäre ich Teil eines wunderschön choreografierten Balletts, bei dem ich als Einzige die Schritte nicht kenne. Sky und Victor bewegen sich geschmeidig im Duett. Sie hebt einen Stein auf und gibt ihn an ihn weiter. Auch Jack hat bereits einen eingesammelt. Warm spüre ich Clementes Bein an meinem. Ruckartig mache ich einen Schritt nach vorn und ziehe ihn mit, bis ich einen Stein erreiche. Er macht jede Bewegung widerstandslos mit. Ich lege ihm den Stein in die Hände, aber ich brauche dringend Luft, und die einzige Möglichkeit, an die Oberfläche zu gelangen, besteht darin, Clementes Bein mitzuziehen. Den Stein an die Brust gepresst, stolpert er nach vorn. Ich schnappe rasch nach Luft, dann tauche ich erneut unter. Ich erwarte, dass auch er Atem holen muss, doch er lotst uns zurück nach unten. Sky und Victor steuern auf uns zu, und sie versucht, Clemente den Stein wegzunehmen. Sobald ihm klar wird, was passiert, dreht er den Oberkörper zur Seite, um unsere Beute zu schützen.
Anfangs macht es Spaß, doch als ich lache, weicht mir sämtliche Luft aus den Lungen, sodass ich schon wieder auftauchen muss – nur dass ich das nicht kann, weil wir in einen Ringkampf mit Victor und Sky verwickelt sind. Mikki und Jack sind weit weg, und Mikki sieht nicht, was sich hier gerade abspielt.
Ich höre ein seltsames Geräusch. Es klingt wie Wasser, das einen verstopften Abfluss hinuntergurgelt, und es kommt aus Victors Mund. Er hat sich die Augenbinde abgenommen und wirkt panisch. Sky versucht nach wie vor, Clemente unseren Stein wegzunehmen. Ich reiße auch Clemente die Augenbinde herunter, dann packe ich Victor am Arm und versuche, ihn an die Oberfläche zu ziehen, doch wir sind zu sehr ineinander verknäult. Victor zerrt an seinem Knöchel, um das Tape zu zerreißen, aber er ist dermaßen hysterisch, dass es ihm nicht gelingt.
Sky sieht ihm mit wissenschaftlicher Neugierde dabei zu. Was stimmt nicht mit ihr? Wenn wir Victor nicht schnell an die Oberfläche bekommen, wird er ertrinken. Ich versuche, ihm mit dem Tape zu helfen, aber er schlägt und tritt um sich, und auch ich habe kaum noch Luft. Clemente lässt seinen Stein los und zeigt auf mich, dann packt er Victors linken Arm. Ich verstehe, was er von mir will, packe Victor am anderen Arm, und mit vereinten Kräften gelingt es uns, ihn und Sky an die Oberfläche zu ziehen. Während ich nach Atem ringe, taucht Clemente erneut unter und schafft es, das Tape um Victors Knöchel so weit zu lösen, dass er sich von Sky befreien kann.
Hustend und röchelnd läuft Victor durchs flache Wasser und lässt sich in den Sand sinken, wo er die Arme um seinen Kopf schlingt und anfängt, den Oberkörper hin und her zu wiegen.
Bisher habe ich PTBS -Schübe immer nur im Fernsehen gesehen. Dies ist der erste, den ich hautnah miterlebe.
Ich gehe auf Sky los. »Das war unverantwortlich.«
Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Was willst du damit sagen?«
»Solche Spiele – das ist doch nicht normal.«
»Wir sind auch keine normalen Menschen. Willst du normal sein, Kenna? Ich nicht.«
Die Ironie des Ganzen entgeht mir nicht. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich vielleicht dasselbe gesagt. »Du gehst zu weit. Viel zu weit. Du spielst mit dem Tod.«
Auf Skys Zügen breitet sich ein Lächeln aus. »Und es fühlt sich unfassbar gut an.«