KENNA
Auf der Lichtung knöpfe ich mir Mikki vor, sobald ich mich meiner nassen Sachen entledigt habe. »Jemand hätte ertrinken können.«
Mikki zieht sich ihre Laufschuhe an. »Es ist aber niemand ertrunken, oder?«
»Das war pures Glück. Sky weiß, dass Victor Probleme hat. Clemente hat sie gewarnt, dass die Übung keine gute Idee ist.«
Die anderen tun so, als wäre nichts passiert. Sky hat sich, genau wie Jack, auf einer Yogamatte ausgestreckt.
»Was machst du hier, Mikki?«, sage ich. »Diese Leute sind völlig krank im Kopf.«
»Das sind meine Freunde.« Sie funkelt mich böse an, doch in ihrem Tonfall schwingen Zweifel mit.
»Wie gut kennst du sie wirklich? Als wir das Blut auf dem Stein gesehen haben, hattest du genauso viel Angst wie ich. Und sie mögen dich nur, weil du ihnen ihre Surfabenteuer finanzierst.«
Als ich ihren verletzten Gesichtsausdruck sehe, fühle ich mich prompt schuldig.
»Und dich haben sie nur in die Gruppe gelassen, weil du Physiotherapeutin bist.«
Der Gedanke war mir noch gar nicht gekommen, aber vermutlich hat sie recht. Da ich der Sippe nur beigetreten bin, um Zeit zu gewinnen, weil ich Mikki davon überzeugen will, mit mir nach Hause zu kommen, ist es albern, deswegen gekränkt zu sein. Hier geht es um Mikki, nicht um mich. »Was passiert, wenn du kein Geld mehr hast?«
»Dann suche ich mir einen Job.« Mikki richtet sich auf und starrt mich an.
Ich zeige auf ihre Schuhe. Es tut mir furchtbar leid, dass ich ihr wehgetan habe. »Gehst du laufen? Kann ich mitkommen?«
Sie zögert. »Ist es okay, wenn ich alleine laufe?«
»Sicher.« Ich bin frustriert. Wie soll ich bloß zu ihr durchdringen?
Clemente steht am Grill und brät Zwiebeln. Eigentlich hat Victor heute Abend Essensdienst.
Ich tippe ihm von hinten auf die Schulter. Es ist ein warmer Abend, und er trägt wie üblich kein T-Shirt. »Brauchst du Hilfe?«
Wortlos dreht er sich zu mir um und sieht mich an. Durch die überstandene Aufregung und Gefahr ist zwischen uns ein Vertrauen gewachsen, und das obwohl ich kurz zuvor noch gegen ihn gestimmt habe. Wir haben uns angefasst – ziemlich oft sogar –, aber unsere Zusammenarbeit war pragmatisch und effizient, und ich habe mich als seine Teampartnerin erstaunlich wohlgefühlt. Jetzt ist es, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Als ich die Hitze in seinen Augen sehe, zieht sich alles in meinem Innern zusammen, doch diesmal ist meine Aufregung eine ganz andere.
Ich weiche einen Schritt zurück. »Dieses Teilen ist nicht mein Ding.«
Er sieht mir unverwandt in die Augen. »Meins auch nicht.«
Der nächste Baum ist voller cremeweißer Blüten, deren schwerer Duft mir in die Nase steigt. »Und trotzdem hast du mit Sky geschlafen.« Ich spreche es ohne Umschweife aus.
»Ja.« Er nimmt eine leichte Abwehrhaltung ein. »Es war ein paar Monate nach dem Tod meiner Frau. Sie …«, er sucht nach dem passenden Wort, »… hat sich mir an den Hals geworfen. Ich war Single; es war eine einmalige Sache.«
»Und wie war es?«
Clementes Blick wird weicher. »Das willst du gar nicht wissen. Ich höre es am Klang deiner Stimme. Das mit dem Teilen war Skys Idee. Bei den meisten in der Sippe haben sich die Eltern getrennt oder sind so unglücklich, dass man nicht weiß, weshalb sie überhaupt zusammenbleiben. Wir wollten ihre Fehler nicht wiederholen, deshalb haben wir alle zugestimmt, weil es zu dem Zeitpunkt Sinn gemacht hat.«
»Aber jetzt?«
Er seufzt. »Es macht das Leben ziemlich kompliziert, aber vielleicht sind Beziehungen einfach so.«
Als hinter uns ein lautes Krachen ertönt, springen wir auseinander. Victor hält sein Surfbrett in beiden Händen und schlägt damit gegen einen Baum. Voller Entsetzen sehe ich zu, wie er einen Schritt zurücktritt und das Brett erneut hochhebt. Aus voller Kehle schreiend, rennt er auf den Baum zu und zerschmettert das Brett am Baumstamm. Dann packt er die vordere Hälfte und rammt sie mit der Spitze in den Boden.
Den resignierten Mienen der anderen zufolge, erleben sie ein solches Verhalten nicht zum ersten Mal. Sky verfolgt seinen Ausbruch nahezu emotionslos. Nachdem seine Schreie verstummt sind, geht sie zu ihm und sagt etwas, das ich nicht hören kann. Victor reißt sie am Arm herum, damit sie ihn ansehen muss, und ich versteife mich aus Angst, er könnte auf sie losgehen.
Doch Sky zuckt mit keiner Wimper. »Komm mit.«
Victor lässt das zerbrochene Surfbrett fallen.
»Gute Nacht, allerseits«, sagt Sky und geht mit Victor davon. Die anderen tauschen Blicke, doch niemand sagt etwas. Ich schlinge mir die Arme um den Leib. Victors Zorn hat mich tief erschüttert, und unwillkürlich frage ich mich, ob er seine Aggressionen vielleicht auch noch an etwas anderem ausgelassen hat als nur an Surfbrettern.
Der Moment zwischen mir und Clemente ist dahin. Auf einmal sehne ich mich danach, im Wasser zu sein. Ich will mir die Anspannungen des Tages vom Körper waschen. Ich helfe Clemente dabei, ein einfaches Pastagericht zu kochen, und sobald wir abgeräumt haben, schlage ich den Weg zum Strand ein. Er ist menschenleer. Das übermütige Gekreisch der weißen Kakadus, die über den Baumwipfeln dahinfliegen, erfüllt den pfirsichfarbenen Himmel. Aufs Neue wird mir die Einsamkeit dieses Ortes bewusst. Von hier aus kann man kein einziges Zeichen menschlicher Zivilisation sehen. Ich fühle mich wie in einer Szene aus Die vergessene Welt . Gleich wird ein Tyrannosaurus Rex zwischen den Bäumen hervorbrechen.
Eine Bewegung zu meiner Rechten verrät mir, dass ich doch nicht allein bin. Ich dachte, Sky und Victor hätten sich in ihr Zelt zurückgezogen, aber Sky liegt mit nackten Brüsten im flachen Wasser. Als das Wasser zurückweicht, wird zwischen ihren Beinen ein Kopf sichtbar: Victor. Ihre Kleider liegen weiter oben im Sand.
Ich höre ihre Stimme, tief und süß wie Honig: So ist es gut, Baby . Victor schnappt nach Luft. Sky packt ihn am Hinterkopf und drückt ihn zurück unter Wasser. Sekunden vergehen. Sky lässt vor lauter Erregung den Kopf in den Nacken sinken. Das ist definitiv eine neue Methode, um Atemkontrolle zu üben.
Dann gehe ich wohl ein andermal schwimmen. Weil ich nicht will, dass sie mich sehen, verschwinde ich rückwärts im Gebüsch, wo sich nadelspitze Dornen in meine Fußknöchel bohren.
Ein Rascheln hinter mir lässt mich herumfahren.
Clemente hebt beschwichtigend die Hände. »Sorry. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Ich schäme mich für meine überzogene Reaktion und deute auf Sky und Victor. »Schau mal.«
»Ja. Das machen sie oft.« Clemente hält Abstand zu mir, als wüsste er, dass ich ihm misstraue. Als würde er nichts anderes als Misstrauen von mir erwarten. Irgendwie macht mich das traurig.
»Es hat etwas Sadistisches.«
»Die besten Trainer sind Sadisten. Und er will es so.«
»Unsere Übung vorhin – du kannst mir nicht erzählen, dass das gut für ihn war. Und die Art, wie sie ihn trainiert … Sie tut ihm weh. Sie überschreitet eine Grenze, findest du nicht?«
Clemente macht ein nachdenkliches Gesicht. »Nein. Wenn meine Partnerin mich darum bittet, ihr etwas anzutun, dann versuche ich, dieser Bitte nachzukommen.« Sein Kiefer spannt sich an. »Auch wenn ich ihr dadurch Schmerzen zufüge.«
Ich grüble über seine Worte nach und frage mich, ob sie sich womöglich auf Elke beziehen.