KENNA
Als wir zu den Zelten zurückkehren, ist es fast dunkel. Ryan nähert sich uns mit angespannter Miene. »Kann ich mit dir reden?«
»Klar«, sage ich.
»Da drüben?« Ryan zeigt auf die Bäume.
Ich folge ihm nur widerwillig, weil ich die ganze Zeit an den Speer in seiner Hand denken muss.
Er dreht sich zu mir um. »Ich habe darüber nachgedacht, was du über meine Familie gesagt hast. Und ich habe beschlossen, nach Hause zu fliegen.«
Wow, das kommt unerwartet. »Ich freue mich.« Ich freue mich wirklich, teils für die kleine Ava, selbst wenn Ryan sich nicht mit seiner Frau versöhnt, aber vor allem weil das ein Sippenmitglied weniger bedeutet. Er ist ein Pulverfass kurz vor der Explosion, und die Bucht wird ohne ihn sicherer sein.
Er räuspert sich. »Ich habe bloß nicht genug Geld für den Flug.«
»Oh. Wie viel brauchst du denn?«
»Noch mal einhundert oder zweihundert? Sobald ich wieder zu Hause bin, kriegst du es zurück. Du kannst mir deine Adresse aufschreiben.«
Ich zögere. Da ich diejenige war, die ihn zur Abreise gedrängt hat, fühle ich mich verpflichtet, ihm zu helfen, allerdings möchte ich ihm nur ungern meine Adresse verraten – ich kenne ihn ja kaum. »Hundert kann ich dir geben, aber viel mehr habe ich nicht.«
»Danke.«
Ich hole das Geld aus meinem Zelt, und er stopft es in die Tasche seiner Shorts.
»Wie kommst du zum Flughafen?«, frage ich.
Ryan wird ausweichend. »So wie ich hergekommen bin. Ich gehe zu Fuß zum Highway, und dann geht es per Anhalter weiter. Aber die anderen sollen nichts merken, deshalb will ich heimlich in der Nacht abhauen.«
Er verschwindet im Wald, und ich frage mich, ob er mir lediglich eine Geschichte aufgetischt hat, um an Geld zu kommen. Wo will er hin? Nachdem ich mich vergewissert habe, dass niemand in der Nähe ist, beschließe ich, ihm zu folgen.
Selbst im Zwielicht ist sein hellblaues T-Shirt zwischen all dem Grün und Braun deutlich zu erkennen, und ich habe keine Mühe, ausreichend Abstand zu ihm zu halten. Er geht in Richtung Klippen. Am Geländer angekommen, hockt er sich hin. Ich kann nicht sehen, was genau er da macht, aber er nimmt das Geld aus seiner Tasche und greift mit beiden Händen über den Rand der Felsen. Etwa eine halbe Minute später richtet er sich wieder auf und dreht sich um. Gerade noch rechtzeitig ziehe ich mich ins Unterholz zurück.
Sobald ich sicher bin, dass die Luft rein ist, trete ich zum Geländer. Ich habe Angst, hinüberzuklettern – auf dem Schild wird vor Erosion gewarnt, und man sieht, wie porös die Felsen sind. Also lege ich mich flach auf den Boden und robbe langsam vorwärts, um zu sehen, was Ryan dort deponiert hat. Weit unten brechen sich die Wellen. Ein paar Zentimeter unterhalb der Felskante befindet sich ein kleines Loch. Sehen kann ich es nicht, aber fühlen. Ich gehe mit der Hand hinein und hoffe, dass dort keine Spinnen wohnen. Meine Finger streifen einen Gegenstand aus glattem, kaltem Metall. Ich ziehe ihn heraus und stelle fest, dass es sich um eine kleine rechteckige Büchse handelt, die früher einmal Kekse enthalten hat.
Ich krieche ein Stück zurück und öffne sie. Im Innern der Büchse befindet sich ein dickes Bündel Bargeld. Anders als der Rest der Gruppe hat Ryan kein Auto, in dem er seine Wertsachen einschließen kann, insofern macht es Sinn, dass er sie irgendwo versteckt. Das ist allemal besser, als sie im Zelt zu deponieren. Unter dem Bargeld liegen eine Bankkarte, die vor einem Monat abgelaufen ist, sowie zwei kleine, dünne Büchlein, ein dunkelblaues und ein weinrotes. Das erste ist ein auf den Namen Ryan Higgs ausgestellter US -Reisepass. Als ich den zweiten Pass sehe, stockt mir der Atem. Bundesrepublik Deutschland. Reisepass.
Mit zitternden Händen schlage ich ihn auf. Das Foto zeigt eine junge blonde Frau. Ihr Name: Elke Hartmann.
Vor lauter Schreck lasse ich ihn beinahe fallen. Den Pass fest in der Faust, rutsche ich vom Rand zurück. In meinem Kopf komme ich zu einigen sehr beängstigenden Schlüssen. Hat Ryan ihn als Trophäe behalten, nachdem er sie getötet hat? Mich schaudert, als ich an seinen Gesichtsausdruck denke, während er die Ameisen zerquetscht hat. Er brauchte Geld. Vielleicht hat er sie umgebracht, weil er sie ausrauben wollte. Ein Blatt fällt auf meine Schulter, und ich fahre zusammen.
Denk logisch , ermahne ich mich. Ich hole tief Luft und versuche, mir einen unverfänglichen Grund zu überlegen, weshalb er im Besitz von Elkes Reisepass sein könnte. Vielleicht hat Elke ihn verloren, und Ryan hat ihn auf einem seiner Streifzüge gefunden, als sie schon tot war. Aber dann hätte er ihn doch sicher den anderen gezeigt, aber alles deutet darauf hin, dass sie nicht wissen, dass er ihn hat – sonst würde er ihn ja nicht verstecken.
Die verkümmerten Bäume entlang der Klippen sehen aus wie Monster. Ich will lieber nicht hierbleiben für den Fall, dass Ryan zurückkommt.
Vor meinem inneren Auge erscheint das tränenüberströmte Gesicht von Elkes Mutter. Dieser Pass ist vielleicht alles, was noch von ihrer Tochter geblieben ist. Wenn ich ihn zurücklege, verschwindet er womöglich für immer, so wie der Rest von ihr. Ich stecke ihn in meine Tasche und laufe über den Pfad zurück. Ich werde ihn Mikki zeigen und sie fragen, wie wir damit verfahren sollen.
Doch als ich zurückkomme, ist die Lichtung leer. Die anderen müssen schon ins Bett gegangen sein. Ich krieche in mein Zelt. Der Pass gräbt sich in meine Hüfte, als ich daliege, und ich frage mich, ob ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe.