RYAN
Ich liege in meinem Zelt und warte darauf, dass die anderen einschlafen. Hat Kenna die Nachricht gelesen, die ich ihr hingelegt habe? Sie hat nicht aufgehört, herumzuschnüffeln, Fragen zu stellen und Unruhe zu stiften. Jedes Mal, wenn ich mit ihr rede, bin ich ganz durcheinander, weil ich Angst habe, mich zu verplappern.
Wie auch immer. Inzwischen habe ich das nötige Geld zusammen – jedenfalls alles, was hier zu holen ist. Also hält mich hier nichts mehr. Aber ich warte noch etwas.
Nun scheint keiner mehr wach zu sein, also krieche ich aus meinem Zelt und eile den Pfad hinunter zu den Klippen, um meine Dose zu holen.
Der Himmel ist marineblau, und im Schatten der Bäume ist es stockdunkel. Ich weiß nicht, warum ich Kenna von Ava erzählt habe; den anderen habe ich nichts von ihr gesagt. Es ist einfach passiert, ehe ich mich eines Besseren besinnen konnte. Aber vielleicht war das gar nicht so schlecht, immerhin hat sie hundert Dollar rausgerückt. So nervig sie auch ist, es fällt einem schwer, sie nicht zu mögen, weil sie wirklich ein warmherziger Mensch zu sein scheint. Aber so warmherzig nun auch wieder nicht – sie hat mir nur hundert Dollar gegeben, dabei habe ich mehrere Hunderter in ihrem Portemonnaie gesehen. Obwohl ich es ihr gegenüber behauptet habe, werde ich nicht nach Hause fliegen, ganz egal, wie gern ich Ava wiedersehen möchte. Ich kann nicht riskieren, ins Gefängnis zu müssen. Es gibt noch viele andere Strände in Australien. Ich suche mir einfach einen schönen aus, wo es ruhig ist und keine schlimmen Dinge passieren.
Als ich aus den Staaten hergekommen bin, hatte ich zwanzigtausend Dollar in bar bei mir. Eine so große Summe konnte ich natürlich nicht in meinem Zelt aufbewahren. Das Loch im Fels war sicher und trocken und erschien mir zu der Zeit als ideales Versteck. Inzwischen sind nur noch dreitausend übrig. Ich habe alles getan, damit mein Geld möglichst lange reicht – nicht zuletzt Mikki hat mir dabei geholfen.
Ich ducke mich hinter einen Baumstamm und lausche, ob mir vielleicht jemand gefolgt ist. Nichts: nur Vögel, Blätter und das Meer. Ich werde immer ganz nervös hier oben. Noch einmal vergewissere ich mich, dass ich wirklich allein bin, ehe ich mich über den Rand der Klippe lehne und nach unten in die kleine Höhlung greife.
Weit, weit unter mir rauschen die Wellen gegen die Felsen. Meine Hand tastet ins Leere. Wo ist meine Geldkassette? Der Magen rutscht mir bis in die Kniekehlen, als würde ich über den Rand stürzen. Mein Geld – es ist weg!
Das ist eine absolute Katastrophe. Wer zum Teufel …?
Meine Fingerspitzen berühren kaltes Blech. Ich weiß genau, dass ich die Dose nicht so tief ins Loch geschoben habe. Jemand hat sie bewegt. Ist mein Geld noch drin? Ich strecke die Finger, und meine Nägel scharren schmerzhaft gegen die Felsen, bekomme das glatte Metall aber nicht zu fassen. Die Dose steckt irgendwo fest. Scheiße! Die Wahrscheinlichkeit, dass das Geld noch drin ist, geht gegen null, aber ich muss trotzdem nachschauen, also rutsche ich noch ein Stück weiter nach vorn und klettere einige Schritte die Klippe hinunter.
Endlich sehe ich es: das Aufblinken von Silber in dem dunklen Loch. Der Stein schrammt mir die Knöchel auf, als ich die Dose hin und her bewege, bis ich sie endlich so weit gelockert habe, dass ich sie herausziehen kann. Ich brauche beide Hände, um sie zu öffnen, also kralle ich die Zehen in den Fels, damit ich guten Halt habe. Als ich den Deckel aufzwänge, sehe ich Blutspuren auf der Dose. Ich kann kaum atmen. Wenn sie leer ist, weiß ich nicht mehr weiter. Der Deckel springt auf und … mir fällt ein Stein vom Herzen. Das Geld ist noch da. Als ich es herausnehme, um es zu zählen, fällt ein Schatten über mich.
Erschrocken blicke ich auf und sehe eine Gestalt vor mir. Noch ehe mir klar wird, was los ist, fassen zwei Hände mich an den Schultern und drücken mich nach hinten.
Und dann befinde ich mich plötzlich im freien Fall …